Beginn einer Odyssee (1939 – 1945)
Schon in Deutschland waren die Mädchen nach den blauen Augen des kleinen Steppkes verrückt. Seine Stupsnase reichte nicht mal bis ans Ende der Weizenähren heran, die auf den umliegenden dichten und weitflächigen Feldern, wie es sie heute in nur wenigen anderen Regionen gibt, reiften. Mario war ein eher ruhiger Junge, erinnern sich die Kinder von einst. In seiner Familie hingegen war er berüchtigt als Frechdachs, er war aufmüpfig und ungehorsam. Wie er so als Vierjähriger seinem großen Bruder hinterhertollte, sah man ihm die Sportskanone schon an, die später aus ihm werden wollte. Der vier Jahre ältere Odoardo nahm seinen jüngeren Bruder auch oft mit ins Kino, wo sie sich zusammen Zeichentrickfilme ansahen. Mario turnte mit Vorliebe akrobatisch am schweren Eisentor vor der Einfahrt des elterlichen Wohnhauses herum, das quietschend auf und zu ging, stundenlang. Er wieselte durch goldene Felder, glitt durchs Schwimmbecken wie ein Fisch und ritt mutig auf einer riesigen Hausschildkröte quer durch Opa Pauls Garten, in dem einem süße Waldfrüchte regelrecht in den Mund wuchsen. Das junge Leben des Mario Girotti sieht über weite Strecken aus nach einer schönen, unbeschwerten Kindheit, wie sie sich jeder für sein Kind wünscht.
Klein-Mario und seiner Familie blieb das Glück in jenen Jahren treu, auch wenn die Begleitumstände alles andere als günstig waren. Mehr noch: Sie glichen eher einer Katastrophe. Und zwar so sehr, dass sie seinen gesamten Lebensweg bis zum heutigen Tag tief prägten.
Die Geschichte des Jungen, der Ende der 60er-Jahre unter dem Künstlernamen Terence Hill als sympathischer Sunnyboy und wendiger Witzbold Kinogeschichte schreiben wird, begann jedoch rund 1000 Eisenbahnkilometer weiter südlich vom Ort seiner ersten Kindheitserinnerungen – in Venedig. Dort wurde Mario Girotti am 29. März 1939 als mittlerer von drei Söhnen geboren.
In seiner Brust schlägt ein italienisch-deutsches Herz: Vater Girolamo Girotti kam im Jahr 1900 in einem kleinen Apennindorf im südlichen Umbrien zur Welt, Mutter Hildegard Thieme 1908 im südlichen Sachsen. Die Art und Weise, wie diese beiden zueinanderfanden, würde jeden Film schmücken. »Unsere Eltern sind sich zufällig Anfang der Dreißigerjahre während einer Zugfahrt in der Schweiz begegnet«, erzählt Odoardo Girotti, Jahrgang 1935. »Mutter war damals unterwegs, um eine Stelle als Au-Pair anzutreten, und Vater saß im selben Abteil. Sie haben sich kennengelernt, als ein Landsmann von ihm anfing, Mutter zu belästigen, und er dafür sorgte, dass der andere sie in Ruhe ließ.« Die beiden heirateten 1933, Hildegard zog zu Girolamo nach Venedig, wo der studierte Chemiker in der Pharmaziebranche arbeitete.
Sechs Jahre später sah alles ganz anders aus. Die Zeiten waren schwierig geworden, die politische und soziale Lage war in ganz Europa angespannt. Mario Girotti wurde in den Vorabend des Zweiten Weltkriegs hineingeboren, in den das Königreich Italien im Juni 1940 als Verbündeter des Deutschen Reichs zog. Zunächst blieb die Apenninhalbinsel von den Kriegsgräueln weitgehend verschont. Doch dies änderte sich, als britisch-amerikanische Truppenverbände im Juli 1943 auf Sizilien landeten und in Italien eine zweite Kriegsfront eröffneten, die kurz zuvor von den Alliierten in Casablanca beschlossen worden war. Sie sollte die deutschen Einheiten nach Norden zurückdrängen und schwächen – als strategische Vorbereitung für die große Invasion, die für 1944 in Frankreich geplant war.2
Die Familie Girotti war mittlerweile nach Rom gezogen, wo 1943 Piero geboren wurde. Nun überschlugen sich die Ereignisse. Noch im Juli desselben Jahres flogen die Alliierten erste Luftangriffe auf die Hauptstadt und versetzten die stolze Nation in eine Art Schockzustand. Ende des Monats wurde Diktator Benito Mussolini als Ministerpräsident abgesetzt und verhaftet. Die neue italienische Militärregierung unter Pietro Badoglio schloss am 3. September mit den Alliierten einen Waffenstillstand, woraufhin die Wehrmacht ganz Nord- und Mittelitalien samt Rom besetzte. Hitler ließ Mussolini, der in einem Hotel in den Abruzzen gefangen gehalten wurde, kurz darauf befreien und setzte ihn als Statthalter der »Sozialrepublik Italien« ein, die dieser während einer Rundfunkansprache in München proklamierte. Anschließend stellte er unter dem Druck des »Führers« in der kleinen, am Gardasee gelegenen Stadt Salò eine Gegenregierung auf, die die deutsche Besatzungsmacht stärken sollte. Am 13. Oktober 1943 erklärte die italienische Militärregierung Deutschland den Krieg. Zur selben Zeit formierten sich in der nördlichen Landeshälfte Partisanenverbände, die zum Kampf gegen Mussolinis »Schwarzhemden« rüsteten.
Lange Zeit von den Gefahren des Krieges weit entfernt, beschlossen die Girottis in dieser plötzlich so heikel gewordenen Lage, nach Deutschland zu ziehen. Ihr Ziel war Hildegards Geburtsstadt Lommatzsch, ein kleiner Ort, der 30 Kilometer nordwestlich von Dresden auf halber Strecke zwischen Riesa und Meißen liegt. Dort lebten noch immer die Eltern von Hildegard.
Himbeeren pflücken mit Opa Paul
Die Welt, die den vierjährigen Mario, seinen vier Jahre älteren Bruder Odoardo und den noch nicht mal ein Jahr alten Piero mit ihrer Mutter 1943 in der sächsischen Provinz empfing, schien trotz des Abgrunds, auf den sich die Menschheit geradewegs zubewegte, im Großen und Ganzen noch in Ordnung zu sein – zumindest aus kindlicher Sicht. Die Ostfront wurde zwar langsam, aber sicher in Richtung Westen von der Roten Armee zurückgedrängt, befand sich allerdings noch etwa 1000 Kilometer weit entfernt. Auch aus der nur 50 Kilometer südlich gelegenen Tschechei, die Hitler kurz vor Kriegsbeginn annektiert hatte, drohte keine Gefahr. Und Dresden galt unter den deutschen Großstädten zu jener Zeit als verhältnismäßig sicher, da alle wichtigen Industrieanlagen und Verkehrsknotenpunkte nicht kriegsrelevant waren und man somit nicht von ihrer Bombardierung ausging.3 Von daher bot sich das kleine Lommatzsch als Zufluchtsstätte für die Familie Girotti an, zumal Hildegard unbedingt ihre Eltern wiedersehen wollte.
Die Zeit im Heimatort seiner Mutter war für Mario aufregend, denn für ihn gab es dort unendlich viel zu entdecken. Die Kleinstadt, in der 1943 rund 5000 Menschen lebten, ist seit Jahrhunderten Mittelpunkt der Lommatzscher Pflege, auch Kornkammer Sachsens genannt. Der Name geht zurück auf den fruchtbaren Boden, denn Löss bedeckt die sanften Hügel, die auch heute zu den besten Äckern Deutschlands zählen und seit mehr als Tausend Jahren bewirtschaftet werden. Die umliegenden Felder der nur 6 Kilometer westlich von der Elbe entfernten Gemeinde zogen sich in leichten Wellen scheinbar endlos bis zum Horizont – ganz gleich, in welche Himmelsrichtung Mario blickte. Im Frühjahr verwandeln Korn und Raps die Hügel in ein gelb-grünes Meer, darüber schweben die hellen Blüten der Obstbäume wie Zuckerwatte. »Ich habe gewusst, dass es hier schön ist. Aber ich habe nicht mehr gewusst, dass es so schön ist«, zeigte sich Terence Hill viele Jahre später überwältigt, als sich ihm auf einer Reise in seine Vergangenheit das Naturschauspiel erneut bot.4
Der Familie des Jungen ging es in der Kleinstadt besser als vielen anderen, was vor allem dem Geschick des Großvaters seiner Mutter zu verdanken war, Carl Menzel. Marios Urgroßvater hatte den Namen Lommatzsch schon lange vor seinem berühmten Urenkel in die Welt hinausgetragen – und zwar mit Glas, dem sogenannten Lommatzscher Glas, hergestellt in der 1897 von ihm gegründeten Glashütte Carlswerk, die neben Fenster- und Spiegelglas auch das erste Dünnglas für Fotoplatten und medizinische Zwecke in Europa produzierte. Die Geschäfte liefen gut, sodass 1911 fast 200 Angestellte im Werk beschäftigt waren, was Carl Menzel zum mit Abstand größten Arbeitgeber in Lommatzsch machte, wo sich bislang alles nur um Bauern und ihre Landwirtschaft gedreht hatte. Ein Jahr zuvor, im Jahr 1910, erwies ihm sogar Sachsens König Friedrich August mit einem Besuch die Referenz, wobei er seine unternehmerischen Erfolge überaus lobte. Zum Andenken an den Tag spendete Carl Menzel 10 000 Mark, die nicht versicherten Werksarbeitern zugutekommen sollten, und ersuchte Seine Majestät untertänigst, dafür eine Stiftung einrichten zu dürfen, die den Namen seiner Durchlaucht tragen sollte, was diese ihm auch allergnädigst gestattete.5
Carl Menzel ging zwar wenig zimperlich mit Arbeitern um, die sich gewerkschaftlich engagieren wollten. Doch war das Carlswerk weit über die Grenzen von Lommatzsch hinaus für das gute Betriebsklima bekannt. Die Löhne zählten in der Glasindustrie zu den höchsten überhaupt. Die Arbeitsräume mit den Brennöfen galten als Vorbild für die gesamte Branche, da sie geräumig, hell und gut ventiliert waren. Der Fabrikchef gründete sogar eine eigene Betriebskrankenkasse. Darüber hinaus ließ Menzel in der Ortsmitte entlang der Döbelner Straße mehrere Dutzend Arbeiterwohnungen errichten, die der Lommatz’scher Volksmund noch heute schlicht Glashäuser nennt. Für damals herrschende Verhältnisse waren sie komfortabel: Es gab fließendes Wasser, auf der Rückseite der Häuser hatte man hübsche kleine Gärten angelegt. Und in genau solch eine Wohnung der Döbelner Straße 40 zog Mario Girotti mit Eltern und Brüdern ein.
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