Der Topf der verlorenen Seelen
Von Krustentieren, ihren Lieferanten und ihren Köchen
»Fahr in die Bretagne. Carantec und Cancale. Interview mit einer Hummerzüchterin, danach Interview mit einem Spitzenkoch« stand auf meinem Speisezettel, Pardon Briefing. Das klingt lecker. »Züchter« klang gut. Ich liebe die Besuche bei Züchtern, Bauern, Metzgern, Käsemachern, bei Handwerkern eben. Etliche Küchenchefs wollen täglich mit Komplimenten überhäuft werden, wollen hören, dass ihr Kräuterbrot von der Schwimmkrabbe sie steil in den Olymp befördert, wo sie an Zeus’ rechter Seite thronen. Komplimente müssen her: »Eine unsterbliche Kreation«, »Mozart auf dem Teller« (wahlweise Beethoven oder Vivaldi, notfalls auch Ravel, aber lieber nicht Wagner), oder eben »superkalifragilistischexbialigorisch« wie bei Mary Poppins. Der Handwerker hingegen freut sich über ein »schmeckt gut«. Er weiß, dass ihn niemand für den nächsten Küchennobelpreis nominiert. Den will er nämlich gar nicht.
Carantec ist ein typisch bretonisches Dorf an der Küste: Kleine, braun-graue Häuschen ducken sich vor dem strammen Meereswind. Direkt am Meer liegt SDAB, der Hummer- und Fischhandel der großen Küche. »Société de Distribution et d’Approvisionnement de Bretagne« lautet der volle Name, auf gut Deutsch also »Bretonische Versorgungs- und Verteilungsgesellschaft«. Das klingt nicht ganz so lecker. Kein Empfang, keine Begrüßung. Vorsichtig fragte ich mich zum Büro der Chefin durch. Annie Bizien war eine elegante Erscheinung mit langem, blondem Haar, klein, zierlich und so schlank, als hätte sie sich ihr Leben lang nur von den eigenen Meerestieren ernährt. Sie näherte sich langsam, aber hörbar einem Nervenzusammenbruch. Am Flughafen Nizza streikte wieder einmal die Air France. Keine Luftfracht! Die Krustentiere für das monegassische Hôtel de Paris fehlten. Mon Dieu, une catastrophe! Chefin Bizien hatte den Arbeitskampf in den Abendnachrichten verfolgt und vorsichtshalber noch um Mitternacht einen Lkw zu den Kunden an der Côte geschickt. Der lud gerade am Hôtel Negresco in Nizza aus und in Monaco wartete der Koch. »Hummer einem Taxifahrer geben«, befahl sie. »Prämie für den Fahrer, wenn er in 30 Minuten in Monaco ist.« Madame nahm einen dicken Schlüsselbund für Lager, Nebenlager und Seitenbüros: »Sollen wir?« Wir sollten. Unten stapelten sich die weißen Styroporkisten mit dem blauen SDAB-Klebeband zwischen den Hummerbecken. Krustentiere warteten in riesigen Badewannen. Den blauen europäischen Hummern hatte man die Scheren gefesselt. » Die würden sich zerfleischen«, erklärte Bizien. »Es sind Kannibalen. Letztens hat eines der Männchen das Gummiband um seine rechte Schere regelrecht gesprengt, raste auf ein Weibchen zu und schnitt es einfach in zwei Teile.« Galant ist das nicht. Kein Wunder, dass jeder Versuch, die Tiere in Gefangenschaft zu züchten, im wahrsten Sinne des Wortes unfruchtbar verlaufen war.
Die Langusten aus dem Nachbarbecken waren Annie Biziens Favoriten: »Langusten sind intelligenter als Hummer, sie haben ein Sozialleben. Sie versuchen aus dem Bassin herauszublicken, sonnen sich und beschützen den Nachwuchs. Ich selbst kann nicht einmal eine Languste in heißes Wasser tauchen, meine Mutter muss das für mich tun.« Annie Bizien machte eine Pause, schüttelte das blonde Haar. »Wissen Sie …«, erklärte Madame. »Langusten haben eine Seele. Hummer haben keine.« »Woher wissen Sie das so genau?«, fragte ich zögernd. Um Langustenseelen hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Auch die Theologie schwieg zum Thema. Annie Bizien griff beherzt ins Becken, holte erst eine Languste, dann einen blauen Hummer hervor, hielt mir beide 30 Zentimeter vor das Gesicht. » Schauen Sie den beiden in die Augen.« Die beiden Hummerstängel waren einfach nur schwarz und feucht. Pechschwarz wie eine sternenlose Nacht. Die Languste hingegen blickte mich an. Wäre das Krustentier ein Dackel, hätte ich ihrem Blick Neugierde mit Hang zur Depression attestiert. Still und leise nahm ich mir vor, meinen Langustenkonsum zu drosseln. »Lassen Sie uns lieber wieder über die Hummer reden.«
Die Fakten rollten nur so aus Madames Mund: »Sie werden mit Kisten nebst Köder gefangen, die Fischer am Meeresgrund auslegen. Trächtige Hummerweibchen bleiben bis zur Eiablage im Becken. Zwölf- bis fünfzehntausend Eier legt eine Hummerdame pro Jahr ab, etwa ein Prozent des Nachwuchs erlebt das Erwachsenenalter«, erklärte sie routiniert. »Doch neun Monate lang sind die bretonischen Hummer sehr rar. Im Winter verstecken sie sich unter Steinen. Selbst wenn eine Kiste mit Köder 30 Zentimeter weiter liegt, geht der Hummer nicht in die Falle. Erst von April bis September werden die Tiere aktiv. Die beste Fangzeit ist von Mai bis Juli.« Weil die Hummer im Winter ihren Panzer wechseln, sind die früh gefangenen Exemplare manchmal noch etwas ›leer‹, ihr ›Krustenkleid‹ ist ihnen zu diesem Zeitpunkt einfach noch zu groß. Und: Genau wie ich selbst nehmen Hummer jedes Jahr zu. »Wir haben hier schon 80- bis 100-jährige Exemplare aus dem Meer gefischt. In den ersten zehn Jahren gewinnen sie etwa 100 Gramm pro Jahr an Gewicht, dann verlangsamt sich der Prozess. Ein 1,5-Kilogramm-Hummer kann durchaus 25 Jahre alt sein. Die dicksten und ältesten sind nicht die Besten. Alles, was über 1,5 Kilo wiegt, riskiert, faserig oder hart zu sein und taugt oft nur für den Salat. Wirklich herausragend schmecken Hummer von etwa 800 Gramm bis 1,3 Kilo.«
Madame half mir die Scheren meines Hummers zu knacken, eines besonders widerspenstigen Exemplars. »Ein Männchen«, wie sie erklärte. Die Hummermänner haben einen eher runden Leib, eine ihrer Scheren ist besonders kräftig entwickelt. Weibliche Tiere verfügen über gleich große Scheren und einen nach unten breit auslaufenden Leib. »Außerdem schmecken sie besser, wie fast alle Tiere. Weiber schmecken besser als Kerle, im Ernst. Das ist bei Meerspinnen genauso wie beim Rind. Denn wer Rind bestellt, der erhält Kuh oder Ochse.«
Ich knackte dem Hummer die andere Schere, naschte am köstlichen Fleisch. Männchen oder nicht, der schmeckte einfach. »Wo müssen Sie denn jetzt hin?«, fragte Annie. »Roellinger in Cancale«, erwiderte ich kurz. »Roellinger in Cancale! Der ist nicht unter meinen Kunden. Können Sie den von mir grüßen? Halt, nein, ich hab was Besseres!« Zurück im Büro ließ Madame ein Männchen und ein Weibchen in eine Styroporkiste packen. Mit rotem Filzstift zeichnete sie ein riesiges Herz, beschriftete das Ganze mit »Bisous Annie« – »Küsschen Annie«.
Cancale liegt gut 200 Kilometer östlich von Carantec. Die Zeit verging langsam auf den bretonischen Landstraßen, Tempolimit 110. Irgendwann stand ich vor den Flügeltüren eines Herrenhauses. Malouinière nennt man so einen Bau hier, nach den Seefahrern von Saint Malo, die durch Gewürzhandel oder als Freibeuter reich geworden waren. Fröhlich klemmte ich mir die Hummerkiste unter den Arm, klopfte an die Holztür. Eine zierliche Dame öffnete, checkte die Reservierung, schaute etwas verblüfft auf meinen Styroporkarton. »Ein Geschenk für le chef«, meinte ich stolz. Die Frau am Empfang schaute mich mit Revolveraugen an: »Wer ist Annie?« »Annie handelt mit Hummern in Carantec.« »Wenn sie handelt, warum schickt sie dann Küsschen?«, fragte die Dame am Empfang. Und dann: »Übrigens, ich bin Jane Roellinger.« Die Frau des Kochs. Fettnäpfchenalarm. Nein, das war ein ganzer Fetteimer. Der Maître d’Hôtel übernahm, aus der Küche drang noch ein wenig Radau. Wahrscheinlich hatte jemand bemerkt, dass dort ein Männchen und ein trächtiges Weibchen vertraut gemeinsam in der Kiste lagen.
Aber die Show musste weitergehen: Vor dem Menü kam eine Riesenauster, im Jargon der Region »Pferdefuß« genannt, dazu wurden passenderweise Steakmesser serviert. Es folgten diverse Muscheltiere in einer Vinaigrette von Meereskräutern. Dann Hummerschwanz süßsauer, gefolgt vom gegrillten Kopfteil mit Malz und Zitrone. Wegen der Seelenfrage hatte ich mich gegen die Languste entschieden. Fleisch von der Meerspinne mit jungem Lauch wurde als duftige Bouillon serviert, Seeohren kamen mit Kohl und Petersilie, dann Seezungen in leicht gesalzener Butter gebraten … so einfach, so gut. Danach auf dem Holzfeuer gegrillter Steinbutt mit milder Paprikaemulsion und Banyulsessig, schließlich ein paar kleine Lammfilets von den salzigen Wiesen des Mont-Saint-Michel mit Gewürzmischung »Große Karawane«. Große Klasse, Weltklasse, superkalifra … hier waren die Superlative berechtigt. Außerdem verlief das Interview ungewöhnlich. Gespräche mit Küchenchefs sind oft etwas redundant. In der Regel beginnen sie mit »habe ich bei Witzigmann, Winkler und Wohlfahrt gelernt (je nach Land auch Robuchon, Ducasse, Bocuse oder Marchesi und Vissani)« und enden mit »dann habe ich mit meiner Frau das Lokal eröffnet«. Roellingers Geschichte klang mehr wie der Kubrick-Film Clockwork Orange und begann auch so. Mit einem jungen Mann, der abends durch Saint Malo schlenderte und drei finstere Typen kreuzte. Die drei packten den 24-jährigen Olivier, Chemiestudent kurz vor dem Abschluss, am Kragen, traktierten ihn zuerst mit Schlägen in Gesicht und Magen, bis er am Boden lag, und traten auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte. Ohne Grund. Irgendein mitleidiger, pflichtbewusster Bürger alarmierte Polizei und Ambulanz, die Olivier halb tot ins nächste Krankenhaus einlieferte. Zwei Wochen lang versuchten die Ärzte, ihn aus dem Koma zurückzuholen. Ein barmherziger Samariter riet der Familie, »sie möge sich auf das Schlimmste vorbereiten«.
»Rückblickend besehen war es diese Situation, die mich dazu bewegte, die trockene Naturwissenschaft an den Nagel zu hängen...