I. »EINES IST SICHER: ICH BIN KEIN MARXIST«
Kleiner Leitfaden für die Marx-Lektüre
Wem gehört eigentlich Karl Marx? Meines Erachtens verhält es sich hier nicht viel anders als im Fall der Bibel: Auch sie ist nicht einfach der Alleinbesitz gläubiger Juden und Christen, sondern ein Menschheitserbe, aus dessen Reichtum alle, gerade auch die Nichtglaubenden, schöpfen sollten. Karl Marx reiht sich ein in die Schar von humanistischen, in der Tradition der Aufklärung stehenden Denkern und ist – wie in anderer Hinsicht Sigmund Freud – einer der großen »Meister des Verdachts« des 19. und 20. Jahrhunderts. Viele seiner Einsichten sind heute Allgemeingut geworden. Ihn allein denen zu überlassen, die sich explizit auf ihn berufen und sich mit dem Etikett »marxistisch« schmücken hieße in vielen Fällen, die sprichwörtlichen Perlen vor die Säue zu werfen.
Ein fatales Missverständnis besteht in der Annahme, Marx habe ein in sich geschlossenes Theoriegebäude, »den Marxismus«, hinterlassen. Gerade die chronologische Anordnung der Marx’schen Texte im vorliegenden Lesebuch macht die Entwicklung seines Denkens nachvollziehbar und lässt zahlreiche Selbstkorrekturen erkennen. Marx hat darüber hinaus Probleme aufgeworfen, auf die er selbst keine schlüssige Antwort fand, er war mit manchen »Lösungen« selbst nicht zufrieden und hat sie immer wieder hinterfragt – eine intellektuelle Redlichkeit, die man seinen Epigonen nur wünschen möchte. Zu entscheidenden Punkten hat Marx keine detaillierten Antworten ausgearbeitet, sondern es bei eher vagen Andeutungen und groben Hinweisen belassen. Das ist nicht immer als Unzulänglichkeit zu werten, sondern oftmals in der Sache selbst begründet: Gerade auf dem Boden seines Geschichtsverständnisses wäre es selbstwidersprüchlich, wenn er einen lebendigen historischen Prozess in auf dem Reißbrett entworfenen Modellen vorweggenommen hätte. So findet sich im gesamten Marx’schen Werk zu seinen Vorstellungen von einer sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft nicht mehr als ein Wetterleuchten am utopischen Horizont, und der revolutionäre Übergang von der kapitalistischen zur kommunistischen Gesellschaft wird nur an einigen Textstellen in wenigen, interpretationsbedürftigen und -fähigen Sätzen skizziert. Marx erspart uns also keineswegs die eigene »Anstrengung des Begriffs« und die eigene praktische Suchbewegung. Die vielen Fehlinterpretationen und Entstellungen, denen das Marx’sche Denken ausgesetzt war und von denen noch ausführlicher zu sprechen sein wird (S. 391–394), sind nicht in jedem Fall allein seinen Epigonen anzulasten, sondern finden durchaus auch Anhaltspunkte in ambivalenten Formulierungen und Positionen im Original.
Kein geschlossenes Theoriegebäude also einerseits – andererseits aber auch nicht die Beliebigkeit einer Kollektion von Theorieversatzstücken, aus der man sich nach Geschmack bedienen könnte. Auch das ist ein Vorteil der chronologischen Anordnung der Texte in diesem Buch: Sie macht entscheidende Kontinuitäten seines Denkens sichtbar, sich durchhaltende Grundpositionen und Grundmotive, die es eben nicht zulassen, dass man sich des Marx’schen Textkorpus nach Art eines Steinbruchs bedient. Zwei solcher Momente der Kontinuität seien hier exemplarisch benannt: Das ist zum einen sein »historischer Materialismus«, der seit Anfang der Vierzigerjahre die erkenntnistheoretische Grundperspektive bildet und den er noch im Spätwerk bekräftigt und affirmiert (S. 135 ff., 227 ff.). Dass gerade dieser historische Materialismus vonseiten der Gegner und der Anhänger Karl Marx’ so groben Entstellungen ausgesetzt war, ist besonders verhängnisvoll. Ein zweites Moment der Kontinuität von den Pariser Manuskripten bis zum Kapital bildet seine Fetischismusanalyse (S. 244 ff.).
Eine kurze biografische Skizze kann hier selbstverständlich keine Biografie1 ersetzen; sie soll lediglich die Einordnung der im Lesebuch vorgestellten Texte erleichtern.
Karl Marx wird im Jahr 1818 in Trier an der Mosel geboren (und soll zeit seines Lebens den spezifischen Zungenschlag der Region beibehalten haben, auch wenn er Französisch oder Englisch sprach). Trier gilt immerhin als die älteste Stadt Deutschlands, war dereinst Zentrum des weströmischen Reiches und im Mittelalter Sitz eines der drei geistlichen Kurfürsten. Zur Zeit von Marx allerdings hatte die Stadt erheblich an Bedeutung eingebüßt und zählte lediglich 11 000 Einwohner. Sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits war Marx jüdischer Abstammung. Mehr noch: Beide Elternteile entstammten traditionellen Rabbiner-Familien. Der Vater, Heinrich (ursprünglich Herschel) Marx, profitierte von der französischen Besetzung des Rheinlands, vom durch Napoleon durchgesetzten Code civil und der Aufhebung der Judendiskriminierung. Er konnte in Koblenz Rechtswissenschaften studieren und ließ sich schließlich in Trier als freier Anwalt nieder.
Nach der Neuordnung Europas im Zuge des Wiener Kongresses wurden die Rheinlande preußisch. Heinrich Marx konvertierte – gegen den entschiedenen Willen der strenggläubig jüdischen Mutter Henrietta Marx – zum Christentum. Natürlich standen Opportunitätsgründe dabei im Vordergrund, da Heinrich Marx seine Berufsausübung nicht gefährden wollte. Dass er mitten im durch und durch katholisch geprägten Trier die protestantische Konfession wählte, hatte nichts mit einer besonderen Hinneigung zu den neuen preußischen Landesherren zu tun, als vielmehr damit, dass der Protestantismus eine größere Affinität zu den Ideen der Aufklärung aufwies. Die Verehrung des »Heiligen Rocks«, die in Trier bis heute gepflegt wird, ist jedenfalls kaum mit einer aufgeklärten Mentalität kompatibel. Heinrich Marx war vom Gedankengut der Aufklärung durchdrungen, und seine Religiosität dürfte wohl einer deistischen Auffassung entsprochen haben, einer Vernunftreligion, der die Vorstellung einer besonderen Offenbarung fremd war. Auch der junge Karl wurde im Alter von sechs Jahren getauft. Der Vater hat Karl Marx schon von Kindheit an im Geist der Aufklärung erzogen und ihn mit Denkern wie etwa Voltaire vertraut gemacht. Auch im Gymnasium hat Karl Marx diesen Geist geatmet, nicht zuletzt auch durch seinen Kontakt zu Ludwig von Westphalen, seinem künftigen Schwiegervater. Hier machte er Bekanntschaft mit den Texten des antiken Griechenland, vor allem mit Homer, aber auch mit seinem zeitlebens geliebten Shakespeare, mit dem spanischen Klassiker Cervantes und vielem mehr. Im Alter von siebzehn Jahren begann Marx das Jura-Studium in Bonn, schien hier aber eher dem Studentenleben außerhalb des Hörsaals gefrönt zu haben. Unter anderem wird berichtet, dass sich der baldige Wortführer der Trier’schen Landsmannschaft duelliert und davon eine bleibende Narbe davongetragen habe. Entscheidend für den Denk- und Lebensweg des Karl Marx war dann allerdings sein Wechsel nach Berlin. Die idealistische Philosophie Hegels war damals beherrschend, und ein Kreis von jungen Philosophen, die sogenannten »Junghegelianer«, interpretierten Hegels Philosophie alsbald in einem atheistischen Sinne und bedienten sich seiner Methode, um damit seine eigenen Prämissen zu bestreiten. Marx wurde bald von dieser philosophischen Auseinandersetzung ergriffen und entdeckte sein eigenes philosophisches Interesse. In einem recht bewegenden Brief (S. 377 ff.) bat er den Vater, das Studienfach wechseln zu dürfen. Der Vater versagte ihm die Erlaubnis nicht, wiewohl sich die konkreten Berufsaussichten des jungen Karl damit keineswegs verbesserten. Auch diese Einwilligung des Vaters wirft ein bezeichnendes Licht auf das recht innige Vater-Sohn-Verhältnis. Im sogenannten »Doctor-Club«, dem Debattierzirkel der Junghegelianer, profilierte sich Marx sehr schnell als herausragender Kopf. Sein damaliger »Mentor« war der Theologe Bruno Bauer. Nach seiner Promotion in Jena (S. 23 ff.) hoffte Marx zunächst, wie sein Mentor Bauer, auf eine akademische Karriere in Bonn. Im zunehmend reaktionären Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. blieb sie ihm jedoch versagt. Seine berufliche Karriere begann Marx dann in Köln als Mitarbeiter und schließlich leitender Redakteur der »Rheinischen Zeitung«, einem Blatt, das führende liberal-bürgerliche, radikale Demokraten aus dem Rheinland dem Monopol der katholisch geprägten Kölnischen Zeitung entgegensetzen wollten. Marx zeigte hier zum ersten Mal sein außerordentliches schriftstellerisches Talent. Er war zu dieser Zeit durch und durch vom radikaldemokratischen Geist der Französischen Revolution erfüllt, und wiewohl er sich im Zuge dieser journalistischen Tätigkeit das erste Mal intensiver mit sozialen Fragen beschäftigte (näherhin mit der Situation der Moselwinzer und mit dem Phänomen des Holzdiebstahls), war er noch weit entfernt von seinen späteren Positionen. Immerhin kam es in Köln zur ersten Begegnung mit Moses Heß, dem Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns, der einen religiös geprägten Sozialismus vertrat. Seinen Eindruck von Karl Marx schildert er in geradezu schwärmerischer...