Beate Kegler
KÜNSTLERISCHE VIELFALT ALS PRAXIS
Theaterkultur im ländlichen Raum
Gut zwei Stunden unterhielten die bestens präparierten Laien ihre gut gelaunten Zuschauer auf der Freilichtbühne.1
Das Theaterangebot wird vor allem durch Gastspiele getragen, deren Spielorte überwiegend der Bürgersaal des FZB und der Theeshof sind. Im Ort gibt es darüber hinaus die Laienspielgruppe des Verkehrsvereins Schneverdingen e. V., welche beim Festspiel des Heideblütenfestes auf der Höpen-Bühne auftritt.2
Eine Gruppe darstellender KünstlerInnen aus dem Wendland schloss sich 2011 zusammen, um die Region mit bunten, lebendigen und qualitativ hochwertigen Theaterinszenierungen zu bereichern. Gemeinsam gründeten sie daher die Freie Bühne Wendland.3
Diese und ähnliche Zitate machen deutlich: Theaterkultur im ländlichen Raum ist Breitenkultur, Event-, Hoch- und Soziokultur. Die Akteur*innen kommen aus urbanen und ländlichen Räumen, vereinen hochkulturelle Professionalität und breitenkulturelles Expert*innentum. Woran sich die Qualität von Theater im ländlichen Raum bemisst, lässt sich auf den ersten Blick schwer definieren. Die Grenzen von Kunst und Kultur sind fließend. Ebenso unklar bleibt, was unter dem Begriff „ländlicher Raum“ zu verstehen ist. Wo beginnt Provinz und wo endet sie? Gibt es allgemein verbindliche Raumordnungskriterien, die festlegen, wann von ländlichem und wann von urbanem Raum gesprochen wird? Ist es eine Frage der Perspektive oder gar der selbstgewählten Zuordnung nach Fördergebieten, die über die Zugehörigkeit zum ländlichen Raum entscheidet? Gibt es ihn überhaupt – den ländlichen Raum? Und letztlich: Warum kann es relevant sein, sich überhaupt mit künstlerischer Vielfalt und Theaterkultur im ländlichen Raum zu beschäftigen?
Nix los in der Provinz?
Nix los in der Provinz? war schon vor Jahrzehnten der programmatische wie auch provokative Titel einer Publikation der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (BKJ), die damals eine erste Positionsbestimmung der Kulturarbeit in ländlichen Räumen wagte4.
… auf dem Land: Für den einen klingt es bäuerisch, hinterwäldlerisch, riecht nach Misthaufen, schlecht gemachtem Komödiantenstadl, Posaunenchor und Nachbarschaftsklatsch, für den anderen ist es eine Alternative zu den Schrecknissen des Großstadtdaseins, der Technikeuphorie, der zerstörenden Wohnsilos, klingt nach gesundem Leben, nach Alternativprojekten. Beide Perspektiven stehen der Realität des Landlebens sehr fern.5
Die Formulierung von Dorothea Kolland könnte auch heute noch ähnlich klingen. Begriffe wie „die Provinz“ oder „das Ländliche“ scheinen nach wie vor emotional aufgeladen zu sein. Der Beiklang einer heimattümelnden Rückständigkeit und Weltfremde lässt sich nicht ignorieren. Gleichzeitig erfährt das Bild vom Ländlichen als Sehnsuchtsidyll naturnaher Ursprünglichkeit eine umfassende Renaissance. Bilder verlassener Geisterdörfer peripherer Regionen zeigen den Niedergang der Dörfer, werden aber gleichzeitig zu Ikonen einer Romantisierung des Verfalls.6 Neue Trends wie das Urban Imkering, Urban Gardening und andere Do-it-yourself-Bewegungen beschwören die Qualitäten nachhaltigen Wirtschaftens nach dem Vorbild der einstigen Selbstversorger*innengemeinschaften. Kulturelle Community-building-Trends wie das Rudelsingen oder gemeinsame Kochvergnügen folgen im Urbanen den jahrhundertealten Erfolgsrezepten dörflicher Gemeinwesensmodelle. Neben diesen Bewegungen erschüttert gleichzeitig die Realität des zunehmenden Rechtspopulismus in ländlichen Räumen. Die nationalistischen Parteien finden gerade in den alternden und schrumpfenden Dörfern im Osten Deutschlands ihre meist männliche Anhängerschaft. Auch die Wahl Trumps, der Brexit sowie die Erfolge der Rechtspopulist*innen in immer mehr europäischen Ländern sind vor allem den Stimmen der Wähler*innen ländlicher Wahlkreise zuzurechnen.7 Allerdings sind gerade in ländlichen Räumen zahlreiche Menschen in Vereinen und Dorfgemeinschaften in vielfältiger Weise für das Gemeinwohl von Zugezogenen und Alteingesessenen engagiert und tragen mit ihren Aktivitäten und einer umfassenden Teilhabeorientierung intensiv zur Gestaltung ländlicher Gesellschaft bei.
Den ländlichen Raum gibt es nicht!
Als messbare Kriterien von Ländlichkeit gelten Einwohner*innenzahlen und demografische Entwicklungsprognosen, Pendelentfernungen und infrastrukturelle Gegebenheiten, geografische Lage und Flächennutzung sowie diverse andere Faktoren. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) charakterisiert über neunzig Prozent der Fläche Deutschlands als ländliche Räume und stellt fest, dass in ihnen mehr als die Hälfte aller Einwohner*innen im Bundesgebiet beheimatet ist.8
Der ländliche Raum kann als Zuzugsgebiet im Speckgürtel Hamburgs zum kulturellen Hotspot werden, aber auch das Geisterdorf in der Uckermark sein, dessen Leerstände vom Verfall geprägt sind. Er kann im wirtschaftlich stabilen Emsland geprägt sein von überdurchschnittlicher Geburtenrate und geringer Wanderungsdynamik oder wie in den sächsischen Erzgebirgsdörfern betroffen sein von überdurchschnittlicher Bildungswanderung von jungen Erwachsenen und Frauen im erwerbsfähigen Alter. Die Dynamiken und Entwicklungsprognosen sind so vielfältig wie die geografische Lage und die Geschichte und Geschichten der Zugezogenen, Einheimischen und ehemaligen Bewohner*innen der Dörfer und kleinen Städte. Im Zuge der globalen Transformationsprozesse lassen sich umfassende Veränderungsprozesse insbesondere dort feststellen, wo Strecken von mehr als einer Stunde zu Arbeits- und Bildungsorten zurückzulegen sind.
Die Folgen von Bildungs- und Arbeitsabwanderung, Alterung, zunehmender Armut und leeren Gemeindekassen machen deutlich, dass die grundgesetzlich verankerte Aufforderung zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ (§ 72 GG, Abs. 2) nicht mehr so leicht zu erfüllen ist. Ein immer schnellerer gesellschaftlicher Wandel und vor allem die Abwanderung von impulsgebenden Gestalter*innen und Expert*innen dörflicher Gemeinschaften stellen diese vor immense Herausforderungen. Urbane Agglomerationen dagegen waren seit jeher auf die individuelle Vielfalt ihrer wechselnden Bewohner*innen ausgerichtet. Kleine Sozialsysteme in ländlichen Räumen weisen dagegen Interaktionsbeziehungen und Gestaltungselemente auf, die auf Kontinuität und Identifikation mit dem Wir der Dorfgemeinschaft aufbauen. Wo die Impulsgeber*innen und Netzwerker*innen altern oder das Dorf verlassen, besteht jedoch nur zu leicht die Gefahr, dass Gestaltungskraft und -willen einer zunehmenden Resignation weichen. Die Demografieforschung empfiehlt gerade in diesen Regionen mit Nachdruck die Förderung und Wiederbelebung des traditionellen Miteinanders auf Gegenseitigkeit, die Stärkung dorfübergreifender regionaler und zeitgemäßer Identifikation sowie die Förderung von Kreativpotenzialen und Gestaltungswillen.
Kurzum: Die Zukunft der ländlichen Räume ist inzwischen zum Querschnittthema mit transnationaler Relevanz geworden. Zwischen emotionaler Aufladung und wissenschaftlicher Analyse scheint „das Land“ die Gesellschaft im Ganzen zu bewegen. Die ländlichen Räume weisen dabei sehr heterogene Bedingungen und Entwicklungen auf, die in enger Wechselwirkung mit der Bedeutung und Situation von Kunst und Kultur jenseits der urbanen Agglomerationen stehen.
Von Leuchttürmen und Tiefenbohrungen
Ein abwechslungsreiches Kulturprogramm und vielfältige Möglichkeiten der Freizeitgestaltung machen Hinte lebenswert und sympathisch. Kirchen, Vereine und private Initiativen tragen einen großen Anteil daran. […] Ob Sport oder Musik, ob Schützen- oder Boßelverein – das kulturelle Leben in der Gemeinde wäre ohne ihre Beiträge um vieles ärmer.9
Die Vielfalt kultureller Praxis im Dorf wird gesichert durch zivilgesellschaftliches Engagement. Wie viel künstlerische Vielfalt und Theaterkultur sich dahinter verbirgt, mag ein Blick auf die virtuellen Selbstdarstellungen der ländlichen Gemeinden nicht so leicht offenbaren. Zumeist beschränken sich diese auf die Erwähnung historischer Stätten und das mehr oder weniger rege Vereinswesen. Zuweilen geben Auflistungen von Vereinen weiteren Aufschluss über die Vielfalt, häufig informiert ein Veranstaltungsprogramm über das, was die Gemeinden als Kultur- und Freizeitprogramm für erwähnenswert halten. So lädt im Oktober 2018 die oben zitierte Gemeinde Hinte ein zu Oktoberfest und Rassekaninchenschau, zum Vortrag über Schüßlersalze und zum Plattdeutsch-Abend und kündigt das monatliche Kulturstündchen...