Berlin, Winter 1812 auf 13
Schlüsseljahre der Großeltern- und
Elterngeneration (1780–1819)
Haus Lindenstraße 90
Der Anfang der biografischen Erzählung setzt also dort ein, wo Fontane aus guten Gründen selbst einsetzte. Schauplatz ist Berlin im Winter 1812 auf 1813. Die Person, die zuerst interessiert, ist Fontanes Vater. Er war damals knapp 17 Jahre alt. Seine Familie bewohnte das Haus Lindenstraße 90. Es war ein geräumiges Haus, hatte vier Etagen, einen großen Garten und zwei Brunnen.
Die Berliner Lindenstraße war um 1700 angelegt worden und gehörte zum Köpenicker Viertel, das seit 1802 zu Ehren von Königin Luise Luisenstadt hieß. Das Viertel grenzte unmittelbar an die südliche Friedrichstadt. In der Lindenstraße 90 – das Haus hatte Zinngießer Pierre Barthélemy Fontane um 1756 erworben – lebte die Familie Fontane bereits in der zweiten und nun dritten Generation. Sie war eine angesehene hugenottische Familie des Handwerkertums und in Berufen tätig, die traditionellerweise immer auch eine künstlerische Seite hatten. Ursprünglich Strumpfwirker, also der Mode verpflichtet, waren sie Zinngießer geworden, veredelten Kupfergefäße, stellten Becher und Kelche her, bis mit der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur unter Friedrich II. ein edleres Handwerk das Zinngefertigte verdrängte und die Luxusklasse jetzt nach dem weißen Gold, dem Porzellan begehrte. Und dieses Porzellan wiederum veredelten mit ihren kunstvollen Malkünsten die Porzellanmaler. Der Sohn des Zinngießers Pierre Barthélemy Fontane wurde Porzellanmaler und trug als solcher den Namen seines Vaters weiter, denn er hieß wie dieser Pierre Barthélemy Fontane. In den Hofakten aber wurde er auch als Peter Fontane geführt. Dieser Peter oder nach Taufnamen Pierre Barthélemy Fontane war der Vater von Louis Henri.
Louis Henri Fontane wurde in gute Verhältnisse hineingeboren. Sein Vater, der Porzellanmaler, hatte entweder noch in den letzten Regierungsjahren Friedrichs II. oder dann unter dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II. eine Anstellung bei Hofe gefunden und gehörte seither zum königlich-preußischen Hofstaat. Am 14. Oktober 1790 hatte Pierre Barthélemy im Alter von 33 Jahren die junge Witwe Louise Sophie Deubel geheiratet und zugleich ihre fünf unmündigen Kinder aufgenommen. Das Haus war jetzt mit viel Leben erfüllt. Louise Sophie, eine gebürtige Berlinerin, war die Tochter des Viktualienhändlers Friedrich Wilhelm Deubel. Ein bisschen Jenny Treibel könnte in ihr gesteckt haben, die im »Materialwarenladen« ihres Vaters gelernt hatte, was klug wirtschaften heißt. Die Deubels gehörten der deutsch-evangelischen Gemeinde an, während die Fontanes, die um 1700 als Hugenottenflüchtlinge nach Berlin gekommen waren, französisch-reformiert geblieben waren. Die Heirat erfolgte in der Taufkirche der Braut. Das war die nahe gelegene Evangelische Jerusalemkirche. Ihre gemeinsamen Kinder aber sollten nach der hugenottischen Tradition der Fontanes getauft und erzogen werden. Es war eine starke Bindung, die Bindung an die französisch-reformierte Gemeinde von Berlin, und sie prägte das Selbstbewusstsein der Familie. Ja, die Fontanes waren Berliner geworden und waren zugleich stolz auf ihre Zugehörigkeit zur sogenannten Französischen Kolonie.
Zwei Töchter des Paares starben kurz nach der Geburt. Am 30. März 1794 kam Charles Henri Guillaume zur Welt, zwei Jahre später Louis Henri. Geboren am 24. März 1796, blieb er lange das Nesthäckchen der zahlreichen Kinderschar. Damals lebte auch Großmutter Marie Louise Fontane noch, die Witwe des Zinngießers Fontane. Sie war die Patronne und in ihrer Witwenzeit offenbar auch die Besitzerin des Hauses Lindenstraße 90.
Die Hofkarriere ihres Sohnes Pierre Barthélemy setzte sich unter Friedrich Wilhelm II. kontinuierlich fort. Die Porzellanmalerei hatte er jetzt aufgegeben, sich dafür einen gewissen Ruf als Miniaturmaler erworben. Zwischen 1787 und 1795 nahm Pierre Barthélemy Fontane fünfmal an der damals jährlich stattfindenden Berliner Kunstausstellung teil. Als Künstler konnte er dennoch nicht bestehen. Über seine Porträts und Kopien großer Meister fällte der geniale Johann Gottfried Schadow ein herbes Urteil. Pierre Barthélemy Fontane, so soll er gesagt haben, »gehörte zu denen, die nie dazu kamen, malen zu können«. Doch habe er gut »Französisch sprechen« können. Die maliziöse Bemerkung zur Gewandtheit im Französischen könnte ein Hinweis darauf sein, dass man den Porträtkünstler Fontane zu den Protegés des frankophilen Kabinettsrats Lombard rechnete.
Schadow, der Märker, brillierte ganz anders: 1793 war seine Quadriga auf das neu errichtete Brandenburger Tor platziert worden, 1797 zeigte er der Öffentlichkeit seine Prinzessinnengruppe, die berühmte Skulptur der Kronprinzessin Luise und ihrer jüngeren Schwester Friederike. Doch auch Pierre Barthélemy Fontane tat sich hervor. Er war »erster Kammerdiener« der Kronprinzessin geworden, zuständig für ihre »kleinen Rechnungen« und für die »Beantwortung aller unbedeutenden Briefe«.
Pierre Barthélemy hatte eben andere Talente. Dass er das Französische sowohl mündlich wie schriftlich beherrschte, war ein großer Vorteil, den er seiner Herkunft verdankte. Aufgewachsen in einer Zeit, als die Berliner Hugenotten in deutsche Familien einzuheiraten begannen, hatte man bei ihm zu Hause doch noch Französisch gesprochen, so wie die Gebildeteren unter ihnen es zu tun pflegten. Französisch war einerseits die Sprache ihrer kirchlichen Gemeinde, anderseits die Sprache des preußischen Hofes. Als Friedrich Wilhelm II. für seine jüngeren Kinder einen Zeichenlehrer engagieren wollte, war seine Wahl wie selbstverständlich auf Pierre Barthélemy Fontane gefallen. Die Zeichenstunden fanden in Schloss Monbijou statt. Und so begab sich Kunsterzieher Fontane in den 1790er-Jahren regelmäßig von der Lindenstraße nach Schloss Monbijou, wo im Beisein der Königin der Zeichenunterricht stattzufinden pflegte.
Sie, die Königin Friederike Luise von Hessen-Darmstadt und Mutter der Kinder, war die zweite Gemahlin von Friedrich Wilhelm II. Das an der Spree gelegene Schloss Monbijou war ihr Hauptwohnsitz. Hier konnte Pierre Barthélemy auch einem Jüngling begegnen, dessen Familie nach der Französischen Revolution aus Frankreich geflohen war und seit 1796 in Berlin lebte. Es war niemand anders als Adelbert von Chamisso, der, während er das nahe Französische Gymnasium besuchte, zugleich Page in Schloss Monbijou war.
Als im November 1797 der König starb und sein Sohn Friedrich Wilhelm III. den Thron bestieg, wurde Pierre Barthélemy Fontane mit zusätzlichen Aufgaben betraut. Der erste Kammerdiener von Kronprinzessin Luise wurde nun der Kabinettssekretär ihrer Majestät der jungen Königin. Er war zu diesem Zeitpunkt vierzig Jahre alt, hatte einen vorbildlichen Ruf als Zeichenlehrer und Pädagoge, galt als zuverlässig und empfahl sich auch deswegen, weil er »kein übles Aussehen« und »viel Anständiges in seinem Betragen« hatte.
Zur selben Zeit war sein privates Glück jäh zerbrochen. Die Tragödie war so schmerzlich wie typisch für die damaligen Verhältnisse. Seine Frau Sophie, die Mutter von Charles und Louis Henri, war nach der Geburt eines dritten gemeinsamen Söhnchens am 25. April 1797 im Kindbett gestorben. Auch das Neugeborene überlebte nicht. Der Mann muss untröstlich gewesen sein. Sein Jüngster, der kleine Louis Henri, war nur gerade ein Jahr alt, als er die Mutter verlor. Was ihm von ihr blieb, war eine ferne Erinnerung sowie eine Farbskizze von der Hand des Vaters. Das Bild hat vielleicht über dem väterlichen Schreibtisch oder im Wohnzimmer gehangen. Es zeigt eine große, schlanke Frau, die in langen, fließenden Stoffen geht, gekleidet im vornehmen Stil der Empiremode. Das dunkle, volle Haar trägt sie hochgesteckt, nicht straffgezogen, sondern weich und natürlich. Auch die Kinder vermissten die Mutter wohl sehr.
An Mutterstelle trat aber womöglich die Großmutter Marie Louise Fontane, damals 66 Jahre alt. Als das Trauerjahr um war, begann Pierre Barthélemy Fontane um die junge Anna Maria Reimann zu werben. »Dienstag, den 27. November 1798 habe ich um Demoiselle Reiman angehalten, und Selbige den Sonntag zum ersten Mal gesehen«, heißt es in einer tagebuchartigen Aufzeichnung. Am 7. März 1799 ging er seine zweite Ehe ein. Anna Maria, 24 Jahre alt, war die Tochter eines Berliner Textilkaufmanns. Ihre Familie gehörte der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde St. Bethlehem an, die für die Glaubensflüchtlinge aus Böhmen gegründet worden war, so wie seinerzeit die Kirchgemeinde für die Hugenotten aus Frankreich. Das Paar heiratete traditionsgemäß in der Kirche der Braut, der Kirche St. Bethlehem in der südlichen Friedrichstadt.
Der kleine Louis Henri und seine Geschwister erhielten mit der erneuten Eheschließung des Vaters eine noch junge Stiefmutter. Im privaten Leben der Familie schienen nun wieder glücklichere Tage anzubrechen. Am 2. Dezember 1799 gebar Anna Maria ein Töchterchen. Das kleine Mädchen starb jedoch kurz vor seinem ersten Geburtstag (18. November 1800). Ein Jahr später, am 8. Dezember 1801, kam das zweite Kind zur Welt. Es war ein Junge, Ferdinand Auguste, der wie seine beiden älteren Halbbrüder französisch-reformiert getauft wurde (Theodor Fontanes »Onkel August«). Großmutter Marie Louise Fontane erlebte Geburt und Taufe noch. Am 20. Januar 1802 starb sie, nachdem sie über vierzig Jahre lang im Haus Lindenstraße 90 gelebt und gewirkt und ihren Sohn Pierre Barthélemy in glücklichen wie in schweren Tagen...