Einleitung
von Thomas Philipp, Jörg Schwaratzki und François-Xavier Amherdt
Die Tagung zu Theologie und Sprache bei Anselm Grün vom 26./27. April 2013 im schweizerischen Freiburg war die erste ihrer Art. Bislang waren Werk und Wirken Grüns kein Thema der Wissenschaft; die Veröffentlichungen ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen.1 Der vorliegende Band versammelt die Tagungsbeiträge, deren Vortragscharakter beibehalten ist, ergänzt durch zwei weitere Perspektiven2. Die ihnen allen gemeinsame Aufgabe erschließt sich durch drei Fragerichtungen: Eine – vor allem theologische – Auseinandersetzung mit Grün muss zuallererst begründet werden (1.). Dann sind ihre Sprach-Form (2.) und nicht zuletzt die relevanten Gesprächsthemen (3.) zu bestimmen. Die folgende Einleitung zu diesem Band möchte anhand dieser drei Problemstellungen zum Weiterlesen einladen. Zudem werden die neuralgischen Punkte der geführten Diskussionen eingetragen, zum besseren Verständnis hier und da aber auch atmosphärische Eindrücke von der Tagung.
Die Beiträge möchten die Leistung der Theologie Grüns würdigen und ihre Grenzen benennen. Wie jede Theologie haben Grüns Positionen ihren Ort in der Zeit und in einem Milieu. Daraus ziehen sie ihre Stärken, dadurch werden sie aber zugleich begrenzt. Folglich dürfen die Biografie Grüns und die Adressaten seiner Schriften nicht unberücksichtigt bleiben. Anselm Grün konturiert deshalb zu Beginn seinen wissenschaftlichen und spirituellen Werdegang und entwirft ein eigenes Bild seiner theologischen wie therapeutischen Haltung. Zudem nimmt er die Gelegenheit zu einer Antwort auf die Beiträge am Ende des Bandes wahr. In dieser Vielstimmigkeit gewinnt sein Werk Profil, wird durchsichtig, kann rezipiert und weiterentwickelt werden.
1. Warum soll die Theologie mit Anselm Grün reden?
Wären da nicht diese enormen Auflagen von Grüns Büchern, gäbe es dieses Buch wohl nicht. Eine Gesamtauflage von über 19 Millionen gibt der Theologie Grüns Gewicht, auch dann, wenn man nichts mit ihr anfangen kann. Wichtiger ist indes, dass sich der Dialog mit dem Werk Grüns aus der Sendung der Christen selbst ergibt. Es ist, wie Papst Franziskus es vorlebt, Aufgabe der Christen, ihre Frohe Botschaft an die Ränder, an die Bruchstellen zu bringen. Dabei ist es Aufgabe der Theologie, diese Botschaft je neu in die Sprachen dieser Milieus zu übersetzen. Ihre Sendung, ihre Identität selbst treibt die Theologen, sich für die Sprachen dieser Zeit zu interessieren, in sie einzutreten, in ihrem Licht die Botschaft neu zu verstehen. Es geht dann nicht einfach um den Bestsellerautor und gelehrten Benediktinerpater Anselm Grün, sondern auch darum, Menschenbild und Sprache der Psychotherapie zu begegnen, die in den westlichen Gesellschaften erheblichen Einfluss auf die Interpretation des Daseins gewonnen haben und Grüns Werk stark beeinflussen.
Wird Anselm Grün hauptsächlich von Menschen gelesen, die eher ihre Befindlichkeit pflegen als nachdenken möchten? Das wäre ein Vorurteil. Als P. Anselm in den 1980er Jahren für die Jugendarbeit der Abtei Münsterschwarzach verantwortlich war, strömten zu den Kursen über Silvester, Ostern und Pfingsten regelmäßig 200 bis 300 junge Leute zusammen, überwiegend Studierende aus Würzburg, Frankfurt a. M., München, Tübingen und von noch weiter her. Die anspruchsvollen Kurse boten viele Stunden Gebet und Anbetung neben Gemeinschaft, Austausch und Fest. Es war ein lebendiges und begeistertes Milieu, das nach mehr Tiefe und nach geistlicher Erfahrung suchte. Von daher lohnt sich zunächst die Perspektive einer noch jüngeren Generation: So reflektiert Basil Schweri die Bedeutung der Schriften Grüns für seine Entscheidung, Theologie zu studieren. Grün habe ihm gezeigt, dass Gerechtigkeit nicht nur die Außenbeziehungen prägen soll, sondern auch den Umgang mit sich selbst. Diese Kopf und Herz erreichende Ethik gewinnt den Zusammenhang zwischen Gutund Glücklichsein zurück und öffnete einem jungen Mann einen vitalen Zugang ins Theologiestudium. Es bedeutet etwas, ob die Kirche die Sprache der Zeit spricht, auch für ihren eigenen beruflichen Nachwuchs.
Von daher darf noch weiter gedacht werden, welche Rolle Theologen ihrer eigenen spirituellen Haltung und derjenigen ihrer Schüler zumessen, aber auch jener der Heranwachsenden insgesamt. Es könnte zum Ertrag einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Grüns Werk gehören, Konsequenzen für eine christlich formulierte Bildungsidee zu ziehen, die am Stellenwert von Authentizität im säkularen Zeitalter nicht vorbeisehen kann.
Wer nach der Anziehungskraft Grüns fragt, hört immer wieder: Pater Anselm sei ein so authentischer Mensch, der in sich ruhe. Dem man, was er sagt, voll und ganz abnehmen könne. Hier leuchtet eine Einheit zwischen Sein und Wort, zwischen Ausstrahlung und Sprache. Der Münsterschwarzacher Pater nimmt sich aus wie eine lebendige Illustration von Charles Taylors Religion in einem säkularen Zeitalter: Authentizität als leitender Wert einer Religion, welche Antwort gibt auf die Zerrissenheit der technisierten Gesellschaft, die das Selbst diszipliniert, rational kontrolliert und instrumentalisiert. Taylor versteht unter der Kultur der Authentizität eine Auffassung des Lebens,
wonach jeder seine eigene Art hat, sein Menschsein in die Tat umzusetzen, und wonach es wichtig ist, den eigenen Stil zu finden und auszuleben, im Gegensatz zur Kapitulation vor der Konformität mit einem von außen – seitens der Gesellschaft, der vorigen Generation oder einer religiösen oder politischen Autorität – aufoktroyierten Modell.3
Grün wirkt hier als Wegweiser, als Ideal. Die Hörerschaft zeigt sich von seiner Authentizität berührt und begeistert, ohne dass damit unter den Christen schon eine Kultur der Authentizität wüchse, die für alle wirksam würde. Veränderungen im institutionellen Gefüge des Christentums, wie das Münsterschwarzacher »Recollectio-Haus«4, stehen noch weitgehend aus.
2. Wie soll die Theologie mit Anselm Grün reden?
Das Gespräch zwischen der 120 Jahre alten Psychotherapie und der Theologie der Christen hat eine Geschichte – bis jetzt keine allzu glückliche: wenige neugierige Grenzgänger, aber Jahrzehnte bitteren Streits um die Rolle der Sexualität und um die Schuldfähigkeit des Menschen. Dahinter stand die unwillkommene Konkurrenz der Therapeuten, welche die Beichtväter schließlich verdrängte. Dann die fordernden, oft steilen Thesen Eugen Drewermanns, und das lähmende Schweigen, das ihm seitens der Schultheologie entgegenschlug. Sein Scheitern. Eine deutschsprachige theologische Rezeption der zeitgenössischen einfühlenden (psychodynamischen) Psychotherapie, wie sie etwa Gerd Rudolf vertritt5, gibt es gar nicht. Und jetzt: Anselm Grün.
Als auf der Tagung nach den ersten Vorträgen die Diskussionen begannen, machte sich in der Aula Magna der Universität Freiburg (Schweiz) Verblüffung breit. Wie mit Händen zu greifen hatte die Erwartung im Raum gestanden: druckreife, aber gestanzte Sätze, an denen jedes Gespräch abprallt. Doch weit gefehlt! Hier antwortete ein hellwacher Jemand, humorvoll, bodenständig, selbstkritisch und theologisch auf Augenhöhe. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Rolle »Pater Anselm« und der Person des Benediktiners. Eine öffentliche Person ist holzschnittartiger, näher am Klischee. Manche Züge treten hervor wie farbig markiert, Differenzierungen in den Schatten.
Der Fernsehmoderator und promovierte Theologe Erwin Koller, der spritzig und gekonnt durch die Tagung führte, hatte am kommunikativen Miteinander erheblichen Anteil. Immer wieder entstand so jene geschwisterliche Atmosphäre, die sich auch unter Christen selten genug einstellt: eine vorbehaltlose Anerkennung des anderen, die indes in der Sache dem Partner nichts schenkt (z. B. erlebbar im Gespräch zwischen Anselm Grün und Ulrich Luz, einem gefühlten Höhepunkt der Tagung). Diese Gesprächshaltung der Kinder Gottes ist das Erste. Doch auch mit ihr gibt es reichlich Gelegenheit, einander misszuverstehen. Kommunikation folgt ja stets Regeln: nicht nur formalen, sondern auch solchen, die sich aus der Pragmatik, dem Vollzug des Sprechens selbst, aus der lebendigen Beziehung zwischen Wort und Erfahrung ergeben. Ohne Beziehung zu diesem Vollzug erfassen Hörende auch die Bedeutung der Worte, also den Sinn der Sache, um die es geht, nicht.6 Das gilt auch auf der Zeitachse: Begriffe ändern ihren Sinn. Zum Beispiel heißt »Natur« bei Thomas von Aquin, bei René Descartes und in der heutigen Naturwissenschaft je etwas ganz anderes.
Diese Grammatik wird oft unbewusst befolgt, so wie einer seine Muttersprache ohne explizite Kenntnis ihrer Regeln beherrscht. Dennoch hat der jeweilige Umgang mit diesen Regeln eine Geschichte, im vertrauend Öffnenden ebenso wie im verletzt Verschließenden. Kommunikationsverhalten kann auf Leiderfahrungen zurückgehen, die als Überforderung erlebt wurden. Der Dialog kann es erforderlich machen, die eigene Geschichte neu zu bedenken und ihrer tiefer bewusst zu werden, um verschließende Haltungen loslassen zu können.
Legen die Theologen gegenüber der Psychotherapie, deren Menschenbild, Ethik und Wissenschaftsbegriff eine gewisse Schwerhörigkeit an den Tag? Sie verhaken sich an Äußerlichkeiten, Gespräche misslingen oder finden erst gar nicht statt. Es scheint sie nicht einmal jemand zu vermissen. Haben die Theologen Mühe, eine veränderte Grammatik zu erfassen? In der Tat gibt hier ein völlig anderer Erfahrungsraum der Sprache Boden. Nicht (mehr) die Kirche, die eine Wahrheit, die Bibel oder das Lehramt –...