Eine «posthume literarische Emigration»
Das Testament, «Heldenplatz» und die Vorgeschichte
Zwei Tage vor seinem Tod traf Thomas Bernhard bei einem Notar in Salzburg seine letzte Verfügung. Sein literarisches Erbe betreffend heißt es im Testament vom 10. Februar 1989:
Weder aus dem von mir selbst bei Lebzeiten veröffentlichten, noch aus dem nach meinem Tod gleich wo immer noch vorhandenen Nachlaß darf auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechtes innerhalb der Grenzen des österreichischen Staates, wie immer dieser Staat sich kennzeichnet, etwas in welcher Form immer von mir verfaßtes Geschriebenes aufgeführt, gedruckt oder auch nur vorgetragen werden.
Ausdrücklich betone ich, daß ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will und ich verwahre mich nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und meine Arbeit betreffend in aller Zukunft. Nach meinem Tod darf aus meinem eventuell gleich wo noch vorhandenen literarischen Nachlaß, worunter auch Briefe und Zettel zu verstehen sind, kein Wort mehr veröffentlicht werden.
Nach seinem Tod wollte Thomas Bernhard sein Werk dem österreichischen Staat entziehen. Er inszenierte testamentarisch eine posthume literarische Emigration, wie er wörtlich gesagt haben soll. Eine literarische Emigration, die unmittelbar im Gefolge des Jahres 1988, dem sogenannten Bedenkjahr in Österreich, das der Erinnerung an die rassische und politische Verfolgung nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938 diente, eine hintergründige historische Bedeutung annehmen musste. Ging es doch auch in seinem letzten Theaterstück, Heldenplatz (1988), Bernhards Beitrag zum Bedenkjahr und zur Hundertjahrfeier des Wiener Burgtheaters, um die Emigration einer jüdischen Professorenfamilie, diesmal aus dem Österreich des Jahres 1988. Und gerade Heldenplatz hatte den Anlass zu einer in der Zweiten Republik beispiellosen Erregung in den Medien und in der politischen Öffentlichkeit gegeben. Auf einmal standen die Forderungen nach einem Boykott der Aufführung und der Vertreibung des Autors im Raum, als hätte das Theater die Wirklichkeit dazu bringen können, die provokante Behauptung im Stück, 1938 und 1988 seien austauschbar, unter Beweis zu stellen.
Nach Heldenplatz, im Endstadium seiner schweren Herz- und Lungenkrankheit, hat Bernhard «auch nicht mehr schreiben können». Nach «Heldenplatz» war’s vollkommen aus. Dieses Drama als letztes literarisches Werk und das Testament als letzte Verfügung über sein Werk erhalten somit einen besonderen Stellenwert. Bei einem Autor, der jahrzehntelang Hinterlassenschaften, Nachlässe und testamentarische Verfügungen zu seinem literarischen Thema gemacht hatte, war damit zu rechnen, dass auch sein eigenes Testament ein vieldeutiges Kunstwerk darstellen würde. Einen komischen Hintersinn enthält die letzte Verfügung des Autors ja allein schon dadurch, dass sie unablässige Rechtsstreitigkeiten, immer neue Ausdeutungen, Umgehungen und Verstöße gegen seinen letzten Willen geradezu vorprogrammiert. So müssen nun die Gerichtsprozesse, die früher gegen den Autor angestrengt wurden, von Thomas Bernhards Nachlassverwaltern fortgesetzt werden.
Die posthume […] Emigration ist auch deshalb eine literarische, weil sie im heutigen Österreich – und diese Differenz ist schwer zu überschätzen – ein Ereignis darstellt, das gegenüber der realen Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich des Jahres 1938 doch vor allem «literarischen» Status hat. Der im Testament angesprochene österreichische Staat war immerhin der politische Raum, innerhalb dessen Grenzen Bernhards verschiedene Formen des literarischen «Staatsstreichs» ihren anerkannten Platz einnahmen und ein Publikum fanden, mit dem er stets die Lacher auf seiner Seite hatte. Eine Zeitlang, Mitte der siebziger Jahre, spielte man im Unterrichtsministerium sogar mit dem Gedanken, Thomas Bernhard zum Direktor des renommiertesten österreichischen Staatstheaters, des Wiener Burgtheaters, zu berufen.
Heldenplatz wurde im Burgtheater aufgeführt, dem ehemaligen k.k. Hofburgtheater der Habsburger Residenz. Bis in die Gegenwart ist diesem Theater seine repräsentative kulturelle Bedeutung in Österreich erhalten geblieben. Die Verbindung zum Staat und zu den großen Staatsakten ist an seiner Lage in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hofburg und Heldenplatz abzulesen. Und genau in diese kulissenhafte Wiener Regierungs- und Geschichtsarchitektur hat Bernhard den Schauplatz seines Stückes Heldenplatz hineinverlegt, die topographische Nähe zu den Orten geschichtlicher Erinnerung in die anspielungsreichen Reden seiner Figuren aufgenommen und zu einer geradezu körperlich schmerzenden Nähe verdichtet. Die Frau des eben beerdigten jüdischen Professors – das Stück spielt nach seinem Selbstmord und im Anschluss an das Begräbnis – kann das Geschrei der Massen auf dem Heldenplatz, das Trauma aus dem März 1938, nicht mehr aus dem Kopf bringen. Im Massengeschrei vom Heldenplatz herauf, das am Ende des Dramas bis an die Grenze des Erträglichen anschwillt, bricht sie tot am Tisch zusammen.
Das große Medienspektakel um Bernhards Stück entzündete sich aber nicht an dem Heldenplatz-Trauma, sondern an den Österreich-Beschimpfungen, einer Art literarisches Gegenstück zu den Lobreden auf Österreich im Werk des österreichischen Burgtheater-Klassikers Franz Grillparzer: «es ist ein gutes Land» – Grillparzer; in Österreich ist alles/immer am schlimmsten gewesen – Bernhard.
Eine wichtige Rolle spielte in dem echt Wiener Theater-Theater um Heldenplatz, dass es im Burgtheater aufgeführt wurde, noch dazu zur Hundertjahrfeier dieses traditionsreichen Hauses. Der Heldenplatz-Skandal, den die Medien aufgrund eines Pressevorabdrucks einiger Passagen des Stücks schon Monate vor der Premiere aufführten, hatte zum Teil mit der besonderen Stellung des Burgtheaters in der staatlichen österreichischen Hochkultur zu tun. «Die Presse» vom 11. Oktober 1988 sah in der bevorstehenden Burgtheater-Aufführung von Heldenplatz den Tatbestand einer Beleidigung der Staats-Majestät gegeben und vermutete eine «anarchistische Königsidee» in Bernhards Stück: Den «Staat und alles, was sich für staatstragend hält, auf dessen Kosten in seinem Staatskunstinstitut mit Unflat zu bombardieren».
Die «Burg» war seit Herbst 1986 in der Hand von Bernhards Meisterregisseur Claus Peymann, einem Burgtheaterdirektor, der, vom sozialistischen Ministerium für Unterricht und Kunst eingesetzt, den kulturpolitischen Gegenwind nach Kurt Waldheims und Jörg Haiders Erfolgen in Österreich zu spüren bekam, im Sinne eines Theaters aber, das «in dieser Gesellschaft polarisieren und entzünden kann» – was immer das heißt –, die Konfrontation nicht scheute. Die Boulevard-Presse, durch einen Vorabdruck aus dem sonst geheim gehaltenen neuen Bernhard-Stück auf den Plan gerufen, schoss sich auf die Stellen ein, in denen die Politiker und die Österreicher – in solchen Fällen gern von der Presse und den Politikern als «Steuerzahler» apostrophiert – der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die Gelegenheit war da, zum Sturm auf Peymanns «Burg» und Bernhards Heldenplatz zu blasen, die Politiker waren zur Stelle, um die Ehre des gekränkten Staatsvolks und ihre eigene mit volksnahen Sprüchen zu verteidigen, die Leserbriefspalten in den Zeitungen füllten sich mit den üblichen Drohungen gegen Autor und Regisseur, und manchmal war man sogar mit einem gewissen Witz dafür oder dagegen. Der Skandal war da, der Andrang auf die Karten groß, die Premiere konnte, drei Wochen verspätet, am 4. November 1988 über die Bühne gehen.
Das Bernhard-Publikum brachte dem Stück den Erfolg, den es verdiente. Der Sieg im Kulturkampf ging vorderhand an Bernhards und Peymanns künstlerischen Beitrag zum Bedenkjahr 1988. Dass eine Bernhard-Aufführung auch ein internationales, mindestens europiäsches Kulturereignis darstellte, versuchte die Burgtheater-Direktion angesichts der vordergründigen Polemiken in einer Presse-Aussendung am 10. Oktober 1988 in Erinnerung zu rufen: «Thomas Bernhards Weltruhm ist heute unbestreitbar. Seine Bücher erscheinen seit über zwanzig Jahren kontinuierlich auch in den großen Verlagshäusern in Amerika, in Frankreich, in Italien und werden in alle Kultursprachen der Welt übersetzt. Seine Theaterstücke beeinflussen seit zwanzig Jahren in hohem Maße das Theater in Europa, so werden allein in diesem Herbst in Paris an vier renommierten Theatern vier seiner Stücke in prominentester Besetzung gespielt.»
Von den bedrängenden Fragen des Stücks, von der verschlungenen Problematik von Täter und Opfer, vom provokativ Österreichischen der österreichischen Juden Bernhards, von der ästhetischen, historischen und lebensgeschichtlichen Dimension in Heldenplatz war ja in der erregten öffentlichen Debatte sowieso kaum die Rede. Allein, die Emigrations-Thematik im letzten Theaterstück stellt ein so zentrales Motiv im gesamten literarischen Schaffen Thomas Bernhards dar, dass man bei einer genaueren Auseinandersetzung nicht daran vorbeigekommen wäre. So literarisch sich auch die «zweite» Emigration im Vergleich zur...