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E-Book

Thomas Mann

Ein Porträt für seine Leser

AutorHermann Kurzke
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783406615245
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
«Alles Große steht als ein Trotzdem da», heißt es im Tod in Venedig. Es ist trotz Kummer, Qual und tausend Hemmnissen zustande gekommen. Zehn Jahre nach seinem Buch über das Leben Thomas Manns legt Hermann Kurzke nun einen Gang durch das dichterische Werk vor, der die Lebensbeschreibung an Dichte und Innigkeit womöglich noch übertrifft. Was alles dazugehörte, um Romane wie Buddenbrooks, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder oder Doktor Faustus zu schreiben, - was dazugehörte an Bedingungen, Umständen, Vorlieben, Prägungen, Überzeugungen, Kenntnissen, Techniken, Leidenschaften, Widrigkeiten, Glücksfällen und Katastrophen, und wie es dann jeweils zu einem Werk zusammenschoß, das wird hier in einer kunstvoll verflochtenen Kette von in sich geschlossenen thematischen Abschnitten gezeigt. Sie heißen «Lange Sätze» oder «Lebensausbeutung», «Erotik» oder «Feinde», «Süßer Schlaf» oder «Der Sinn der Welt» und sind stets unterhaltsam geschrieben, kurz und bündig, aufs sorgfältigste pointiert und von dem Wunsch beseelt, über das voluminöse Werk Thomas Manns auf knappstem Raum das Entscheidende zu sagen.

Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz. Er ist Herausgeber einer kommentierten Ausgabe der Essays von Thomas Mann und Mitherausgeber der Großen kommentierten Frankfurter Thomas Mann-Ausgabe.

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Leseprobe

Prolog


1 Porträt


Im persönlichen Verkehr wirkte er unscheinbar. Er war kein Goethe, bei dem ein Eckermann fortwährend Bedeutendes mitzuschreiben gehabt hätte. Er produzierte schriftlich, nicht mündlich, allein, nicht in Gesellschaft. Wenn er irgendwo etwas sagen mußte, improvisierte er nicht, sondern bereitete sich sorgfältig vor. Das Herz lag ihm nicht auf der Zunge. Er wirkte infolgedessen auf die meisten Mitmenschen fern und temperamentlos, allzu gemessen, wenig spontan und schwer zugänglich. Viele verachteten ihn wegen dieser dauernden Selbstkontrolle und empfanden ihn als personifizierte Bügelfalte oder als sitzfleischgesteuerten Literaturbeamten.

Die Innensicht ist eine ganz andere. Wir kennen sie aus den Tagebüchern und aus den versteckten Selbstporträts im literarischen Werk. Sie zeigt unter dem Panzer der gepflegten Erscheinung ein scheues Reh – einen vielfältig bedrohten, nervösen, überanstrengten, von Panikattacken heimgesuchten und von unterdrückten Emotionen geschüttelten Mann, der mit Mühe sein Ich zusammenhält, wegzuckend bei jeder Berührung. Aber das sollte niemand sehen. Es war sehr aufreibend, so zu leben. Aber er hatte keine Wahl oder glaubte jedenfalls, keine zu haben.

Warum hatte er so große Angst davor, aus der Rolle zu fallen? Warum konnte er sich nicht faul zeigen, nicht schlampig, nicht nackt und preisgegeben, ungepflegt und schlecht rasiert, warum nicht wütend, ungerecht, maßlos, leidenschaftlich, warum nicht betrunken, untreu oder unzuverlässig? Da gab es natürlich die gute Erziehung, die er als Sohn eines Senators der Freien und Hansestadt Lübeck genossen hatte, und die preußisch-kantisch-protestantische Pflichtethik, die zu dieser Erziehung gehörte. Aber hätte er nicht gerade dagegen rebellieren und aus dieser Rebellion sein Selbstgefühl gewinnen müssen? So etwas Ähnliches erwarteten jedenfalls seine Kritiker. Aber wo wäre Thomas Mann gelandet, wenn er die Schleusen geöffnet hätte?

Bei seiner Homosexualität. Sie bildete die Mitte des Strudels, um den herum er ein verwickeltes System von Dämmen und Schutzringen errichtet hatte. Wenn er in seinem Leben auch den einen oder anderen Wall schleifen, das eine oder andere Schleusentor öffnen mußte, so wurde doch immer nur eine begrenzte Kam mer geflutet. Die Abwehr insgesamt blieb immer intakt. Seiner Männerliebe sexuelle Wirklichkeit zu geben hat er sich niemals erlaubt. Er war ja verheiratet. Er hat kein Doppelleben geführt. Er hat sich nicht heimlich zu jungen Männern geschlichen. Das hätte für ihn Sünde und Schande bedeutet und hätte sowohl seine religiöse Würde als auch das bürgerliche Leben zerstört, das zu führen er sich verpflichtet fühlte.

Hat er also den gleichgeschlechtlich gepolten Anteil seiner Sexualität verdrängt? Ja, zweifellos. Aber aus dieser Verdrängung resultierte seine wunderbare Literatur. Wir hätten sie nicht, wenn er seiner Liebe zu attraktiven Kellnern und zu Gärtnerburschen mit starken Armen nachgegeben hätte. Das wirklichkeitsreine Traumreich der Phantasie war ihm wichtiger als die immer unvollkommene, immer ein Stück weit peinliche Berührung in der konkreten Lebensrealität. Nur in seinen Dichtungen war er frei. Da konnte er ausschweifen, konnte sich Geschichten ausdenken mit dem Thema «Was wäre, wenn ich mich preisgäbe» – Geschichten vom Verlust der Würde, die oft mit einem Todesfall endeten, wie Gustav von Aschenbachs Liebe zu dem schönen Tadzio im Tod in Venedig.

So mag letzten Endes Todesangst der Grund dafür sein, warum er seinem Leben einen so überkorrekten Anstrich gab. Zweifellos aber geht jeder fehl, der auf die Gediegenheit hereinfällt und die Abgründe von Leidenschaft nicht sieht und nicht spürt, die hinter dieser Maske verborgen sind. «Man ist als Künstler innerlich immer Abenteurer genug», sagt Tonio Kröger. «Äußerlich soll man sich gut anziehen, zum Teufel, und sich benehmen wie ein anständiger Mensch …»[1]

2 Süßer Schlaf


Als Kind schlief Thomas Mann in einem Gitterbettchen mit grüner Gardine.[2] Das Schlafen hat in seinem Leben und in seinem Werk eine tiefe Bedeutung. Sie hat zu tun mit des Lebens Anfang und Ende, die wir berühren, indem wir schlafen. Das Bett nennt Thomas Mann geheimnisvoll «dies metaphysische Möbelstück, in dem die Mysterien der Geburt und des Todes sich vollziehen».[3] Der Geburt und des Todes gedenkt er unaufhörlich – das ist seine Art von Frömmigkeit.

Er hatte «Schlaflust», wie sein Felix Krull.[4] Der Schlaf lindert jedes Leid. Nie, so bekennt er, nie schlief er köstlicher, als wenn er unglücklich war.[5] Grausam und grell ist der Tag, die Nacht aber ist Bad und Balsam, Labe und Lethe. Thomas Mann respektierte den Tag, aber er liebte und verehrte die Nacht. Wachen und Schlafen, das ist wie Ausatmen und Einatmen, wie Aufstehen und Zurücksinken, wie Denken und Träumen, wie Progression und Regression. Am Tag mühen wir uns ab, in der Nacht aber wandern wir mühelos zurück in den Schoß, aus dem wir kommen. Im Bett eingehüllt liegen wir «warm, unbewußt und mit emporgezogenen Knien wie einst im Dunkel des Mutterleibes, wieder angeschlossen gleichsam an den Nabelstrang der Natur».[6] Ob wir nachts gleich weit zurückgehen, wie wir tags vorangegangen sind? Möglicherweise. Jedenfalls liegen hier die tiefsten Wurzeln aller Fortschrittsskepsis und allen Konservatismus.

Aber nicht nur zurück gehen wir im Schlaf, sondern zugleich weit voraus, fast bis ins Paradies. Der Schlaf ist Sozialist. Jede Nacht vollzieht sich eine spöttische Gleichmacherei aller Menschen. Die Hungri gen wie die Satten, die Armen wie die Reichen, die Bösen wie die Guten, die Klugen wie die Dummen, sie alle sind im Schlaf von ihrem Kummer und ihrem Können erlöst, keiner hat mehr einen Vorteil, und alles Begehren erlischt. Tagsüber mit Anstrengung aufgebaut, zerfließt nachts alle Konzentration, alle Gestalt, alle Begrenzung, und alles Geschaffene gleitet zurück in ein formloses Nirwana. Vielleicht ist ja der Schlaf der eigentliche, dem Menschen natürlichste Zustand, vielleicht wachen wir ja nur, um zu schlafen?[7] Alles Wachen wäre dann Wahn. Schlafen aber ist Freiheit, Unendlichkeit, Ewigkeit, ist «Schlummern und Weben in raum- und zeitloser Nacht».[8]

Hanno Buddenbrook schläft, als wenn er niemals wieder erwachen wollte.[9] Schlafen ist Rückkunft, Heimkehr, Weltflucht und Ahnung des Todes. Süß wie der Schlaf wird auch der Tod sein. So nötig es ist, hienieden tüchtig zu sein, so wenig zählt es doch am Ende. Schlafen ist ein religiöser Zustand, Arbeiten nicht. Das Gegenteil der Hingabe an den Schlaf ist die Gewöhnlichkeit, die sich ohne höhere Sehnsucht in der platten Wirklichkeit zu Hause fühlt und nicht heraus will in jene andere Welt, in der jedes Verlangen gestillt ist. In Thomas Manns Vorstellung ist der Tod bei aller Schrecklichkeit ehrwürdig. Sterben ist wie Musik hören.[10] Wer religiös unmusikalisch ist und die Andacht zum Tode nicht kennt, dem fehlt etwas Ausschlaggebendes. Es gibt Menschen, die so sehr nur Leistung bringen und so sehr nur ordentlich und tüchtig sind, daß man sich, so schreibt Mann mit erstaunlicher Pointe, gar nicht vorstellen kann, sie «könnten jemals der Weihe und Verklärung des Todes teilhaftig werden.»[11]

3 Meeresmetaphysik


Meta-physik ist die Metareflexion der Physik; sie sucht die Physik der Physik; sie bemüht sich, durch die Physik hindurchzudringen zu den Prinzipien, die sie bestimmen. Dazu eignet sich zwar theoretisch gesehen jeder beliebige Gegenstand der Welt, aber poetisch gesehen gibt es für eine solche Prinzipienreflexion ein paar besonders geeignete, besonders anschauliche Ausgestaltungen des Seins. In vorderster Linie sind es die «metaphysischen Landschaften»: die Gipfel und die Höhlen, die Wüste und das Meer.

«Meine Liebe zum Meer», schreibt Thomas Mann, «ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf […]». Jede Nacht schaukeln wir hinaus «auf das Meer des Unbewußtseins und der Unendlichkeit».[12] Raum und Zeit und Maß und jedes Bewußtsein davon sind matt gesetzt – eine Erfahrung, die schon die Mystik des Mittelalters kannte: «schach unde mat/zît, formen, stat!»[13] Im Bild des Meeres und seiner rollenden Monotonie erfährt Thomas Mann (und erlebt auch sein Leser) die Grundstimmungen einer diskret religiös getönten Metaphysik: Ewigkeit, Unendlichkeit, Befreiung aus dem Hier und Jetzt, Erlösung vom Ich und seinen Begrenzungen. Vorerst ist es eine Metaphysik ohne Gott. Das Meer selbst erscheint als mysterium tremendum et fascinosum, ungeheuerlich und begeisternd zugleich. In einem gebetähnlichen Hymnus preist der Erzähler des Zauberberg-Romans das Meer und seine erlösende Macht:

O Meer, wir sitzen erzählend fern von dir, wir wenden dir unsere Gedanken, unsre Liebe zu, ausdrücklich und laut anrufungsweise sollst du...

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