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E-Book

Tiere in der Stadt

Eine Naturgeschichte

AutorBernhard Kegel
VerlagDuMont Buchverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783832187361
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Graureiher jagen neben einer Berliner U-Bahn-Station, Füchse dösen im Kölner Klingelpützpark in der Sonne, und vom Aussterben bedrohte Graukopf-Flughunde hängen in den Bäumen nahe der Oper von Sydney. Unübersehbar drängt die Wildnis in die Städte, ehemals scheue Tierarten werden Teil der Stadtnatur. Dabei findet sich zwischen Stein, Beton und Asphalt eine erstaunliche Vielfalt der Arten. Nirgendwo lassen sich so viele heimische Vogelarten (mehr als 150) auf so kleiner Fläche beobachten wie in Berlin - schon gar nicht in der viel gerühmten, aber intensiv genutzten freien Natur. Wie ist das zu erklären? Sind unsere Städte zu Oasen aufgeblüht, während das Land ringsherum zur Agrarwüste verkommt? Was sagt diese Vielfalt über die Qualität der Lebensräume in Stadt und Land aus? Was müssen Tiere mitbringen und wie müssen sie sich verändern, um in unserer Nachbarschaft überleben zu können? Und wie beeinflussen diese Begegnungen unseren Umgang mit der Natur? Mit eindrucksvollen, höchst anschaulich erzählten Geschichten nimmt uns Bernhard Kegel mit auf Forschungsreise in die Stadtnatur und öffnet unsere Augen für die Wildnis vor unserer Haustür.

Bernhard Kegel, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 veröffentlichte er zahlreiche Romane und Sachbücher. Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei DuMont >Ausgestorben, um zu bleiben< (2018) und >Die Natur der Zukunft< (2021). Der Autor lebt in Berlin.

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Leseprobe

Einleitung – Drei Städte in drei Kontinenten

Ich sehe ihn fast jeden Tag und doch habe ich mich noch immer nicht an seinen Anblick gewöhnt. Jedes Mal halte ich an und steige kurz vom Fahrrad. Anderen geht es genauso. Oft sehe ich Spaziergänger, die sich gegenseitig auf ihn aufmerksam machen und staunend stehen bleiben, um ihn aus nächster Nähe zu beobachten. Hinter ihm, im Park, sonnen sich an warmen Tagen müßige Großstädter auf der Wiese, spielen Kinder, führen Herrchen und Frauchen ihre Hunde spazieren, nähern sich lärmend Kindergartengruppen, um die Enten zu füttern – es scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Er stakst weiter am Rand des Schilfs entlang oder durch den flachen Uferbereich und fixiert dabei die Wasseroberfläche. Die Enten, auf die er aus einem Meter Höhe herabschaut, halten respektvoll Abstand.

Manchmal, vor allem morgens und am späten Nachmittag, kann man ihn mit seinen langen, dünnen Beinen hoch oben auf den langen, dünnen Ästen einer Trauerweide balancieren und sein Gefieder putzen sehen. Er ist immer allein, nie taucht ein Gefährte oder eine Gefährtin auf. Er hat dieses seltsame kleine Gewässer ganz für sich. Verbringt er die Nacht auf dem Baum? Oder schläft er irgendwo in Gesellschaft seiner Artgenossen, im Schutz der Kolonie, um dann fast jeden Tag hierherzufliegen, in sein eigenes kleines Reich, sein großstädtisches Jagdrevier an diesem geschichtsträchtigen Ort inmitten der deutschen Hauptstadt?

Nur einen Steinwurf entfernt, im Schöneberger Rathaus, schlug das politische Herz des alten West-Berlins. Auf seinem Balkon sprach John F. Kennedy am 26. Juni 1963 vor Zehntausenden von Menschen die berühmten Worte: »Ich bin ein Berliner«, stimmten am 10. November 1989 Bundeskanzler Helmut Kohl, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Bürgermeister Walter Momper und andere gegen ein gellendes Pfeifkonzert eine denkwürdig verunglückte Fassung der deutschen Nationalhymne an. Helmut Kohl zeigte sich später ob der »linken Chaoten« nachhaltig verstimmt. Er hatte extra seine wichtige Polenreise unterbrochen, um nach Berlin zu kommen. Wenige Stunden zuvor war die Mauer gefallen.

Damals gab es unseren gefiederten Parkbesucher vermutlich noch nicht, obwohl die Tiere über dreißig Jahre alt werden können. Damals waren Graureiher in Berlin eine Seltenheit. Am östlichen Stadtrand gab es einige wenige Brutkolonien, für West-Berliner nahezu unerreichbar, heute müsste man nur ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren. Im Jahr 2001 wurde in der Nähe der Robbenanlage des Zoologischen Gartens das erste innerstädtische Brutpaar beobachtet – und urbane Vogelfreunde sind in diesen Dingen sehr genau.

So gelassen, wie der stattliche Vogel sich jetzt gibt, würden ihn wohl auch die Buhrufe und Pfiffe Tausender Berliner nicht aus der Ruhe bringen. Ob man das auch über die Graureiher der 1960er-Jahre hätte sagen können, ist zu bezweifeln. Irgendetwas ist mit den Vögeln geschehen. Noch in den Kriegs- und Nachkriegsjahren wurden die Tiere landesweit intensiv verfolgt und die Bestände gingen stark zurück. Angler und Fischwirte sahen in den Reihern Konkurrenten, andere in Zeiten der Not nur potenzielle Nahrung. Doch als man Schonzeiten einführte, erholten sich die Bestände und mit ihrem Comeback zeigten die Graureiher plötzlich ein verändertes Verhalten. Nun drangen sie auch in Gebiete vor, die sie vorher wegen der Menschen gemieden hatten. Seit Mitte der 1990er-Jahre brüten sie im Ruhrgebiet und immer häufiger sind sie in Städten zu sehen. Ihre Fluchtdistanz verringerte sich auf wenige Meter. In Amsterdam warten sie auf Bürgersteigen darauf, von den Menschen mit Fischen gefüttert zu werden.1

Der kleine künstliche Teich, den sich unser Berliner Exemplar ausgesucht hat, ist erst vor wenigen Jahren gründlich saniert worden. Sein Boden wird von einer riesigen Plastikfolie gebildet, die an einigen Uferstellen zu sehen ist und unschöne dreckige Falten schlägt, was jede Illusion zerstört, dass man es hier mit einem halbwegs natürlichen Gewässer zu tun hat. Da hilft auch das an einer Seite gepflanzte Schilf nicht. Der Teich befindet sich am östlichen Ende eines schmalen, lang gestreckten Parks und grenzt unmittelbar an eine brückenartig gestaltete U-Bahnstation, die den Park in zwei ungleiche Hälften teilt. Durch große Glasscheiben können Parkbesucher die Züge zählen, die hier im Zehn-Minuten-Takt in den Bahnhof einfahren. Umgekehrt eröffnen sich den Fahrgästen, die in einer haltenden U-Bahn sitzen oder auf dem Bahnsteig warten, ungewöhnliche Blicke ins Grüne und damit auf den Teich und seinen Reiher. Ob es eine Sie oder ein Er ist, kann ich nicht sagen. Männliche und weibliche Tiere sind praktisch nur an der Größe zu unterscheiden.

Auf der Brücke, eine Etage über den U-Bahnfahrern, stehen Parkbänke, auf denen einige Hauptstädter diesen warmen Mainachmittag genießen, und von hier oben werde ich Zeuge, wie der manchmal auch Fischreiher genannte Vogel diesem Namen alle Ehre macht und erstmals sein wahres Gesicht zeigt. Er ist eben nicht hier, weil ihn deutsche Geschichte interessiert oder weil er die Gesellschaft der Menschen so schätzt, sondern weil diese den Teich mit großen Goldfischen bevölkert und darin sogar ihre in Ungnade gefallenen Haustiere entsorgt haben, wie die Anwesenheit mindestens einer Schildkröte beweist, die ich kürzlich durchs trübe Wasser paddeln sah.

Der Reiher steht regungslos im Schilf, wie so oft, plötzlich nimmt er ausgiebig maß und stößt zu. Im nächsten Moment zappelt etwas in seinem langen, spitzen Schnabel. Er hat ein Prachtexemplar erwischt, leuchtend rot und unterarmlang. Fast sieht es so aus, als begutachte er stolz seine Beute, als lege er Wert darauf, dass auch alle Zuschauer sie bestaunen. Es dauert eine Weile, bis er sie in die richtige Position befördert hat. Dann verschwindet der Fisch, mit dem Kopf voran, im scheinbar viel zu dünnen Hals.

»Wohl bekomm’s«, kommentiert ein älterer Herr, der neben mir an der steinernen Balustrade steht.

Ein anderer kann es gar nicht fassen. »Der hat eben ’n janzen Fisch vaschluckt«, sagt er verblüfft. Seine Stimme klingt amüsiert, aber es schwingt auch ein wenig Befremden mit. Darf man das – in einem öffentlichen Park und vor aller Augen einen friedlichen Zierfisch verschlingen? Wir tauschen einige stumme Blicke aus, als müssten wir uns gegenseitig vergewissern, dass wir das ungewöhnliche Schauspiel nicht geträumt haben. Fressen und Gefressenwerden mitten im Volkspark – was soll man davon halten?

Auch auf der anderen Seite des Erdballs, in den Metropolen Australiens, sind Parks Oasen der Ruhe, die im hektischen Getriebe der Großstädte zu Entspannung und Müßiggang einladen. Und wie in Berlin wird diese Einladung nicht nur von Menschen angenommen. Was sich in Sydney, Melbourne, Brisbane und einigen kleineren australischen Städten bei Einbruch der Dämmerung in den Himmel schwingt, kann zwar ausgezeichnet fliegen, trägt aber keine Federn, frisst keinen Fisch und sitzt auch nicht. Solange die Sonne scheint, hängt es kopfüber von den Ästen, bewegungslos und stumm wie überdimensionierte schwarze Früchte.

In Sydney baumeln diese seltsamen Gebilde auch im zentralen Hyde Park zwischen Elisabeth und College Street in den Bäumen, direkt neben dem Australian Museum. Die große Masse der über 20.000 Tiere hat sich aber den nahe gelegenen Botanischen Garten ausgesucht und verschläft dort, in unmittelbarer Nähe von Hochhäusern und der berühmten Oper, die Tage. Wenn es über der Skyline langsam dunkel wird und die Menschen Restaurants, Kinos und Theater ansteuern, erwachen sie zum Leben. Mit der Ruhe ist es dann vorbei. Bald kommen sich die nervösen und dicht an dicht hängenden Tiere in die Quere und es wird lautstark gezankt und gezetert. Wenig später füllt sich der Himmel mit schwarzen Batman-Silhouetten.

Mit einer Flügelspannweite von etwa einem Meter sind die Graukopf-Flughunde eine der größten Fledermaus-Arten der Welt. Sie leben nur in einem relativ schmalen Küstenstreifen im Osten und Südosten des Kontinents, und weil ihre Zahl in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen ist, hat sie die International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) 2008 in ihre Rote Liste der gefährdeten Tierarten aufgenommen. Unglücklicherweise bevorzugen auch die menschlichen Bewohner Australiens diesen Küstenstrich, was den Flughunden nicht gut bekommen ist. Wenn man sieht, wie sich die Tiere inmitten einer Millionenstadt zu Tausenden in die Lüfte schwingen, um während der Nacht bis in die Vorstädte auszuschwärmen, kann man kaum glauben, dass Mensch und Flughund sich nicht vertragen. In Städten scheinen andere Gesetze zu herrschen.

Als der britische Vogelkundler und Tiermaler John Gould in den 1830er-Jahren durch den Süden des Kontinents streifte, um Material für sein berühmtes 36-teiliges Werk The Birds of Australia zu sammeln, fielen ihm auch die großen »Vampire« auf, die »in den weiter abgelegenen Gebieten des Waldes schliefen«. Gut hundert Jahre später kämpfte sich der Biologe Francis Ratcliffe durch einen dichten Dschungel aus Palmen und Feigenbäumen auf den Gipfel des Mt. Tamborine in Queensland, etwa 80 Kilometer südlich von Brisbane, wo er auf eine große Kolonie von Flughunden stieß. Das Dschungelgebiet existiert noch heute, als Teil eines Nationalparks, aber die Flughunde sind verschwunden. Sie haben es vorgezogen, an die nahe und dicht besiedelte Goldküste umzuziehen, nach Broadbeach, in die Nachbarschaft von Golfclubs und Spielcasinos. Einige von ihnen schlafen nur wenige Meter neben dem vierspurigen Gold Coast Highway.2

Vampire sind die...

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