Einführung
Was ist Spiritualität?
Jeder braucht einen spirituellen Führer – einen Geistlichen, einen Rabbi, einen Berater, einen klugen Freund oder einen Therapeuten. Mein kluger Freund ist ein Hund. Er verfügt über tiefes Wissen, an dem er mich teilhaben lässt. Er schließt leicht Freundschaften und ist nicht nachtragend. Er hat Freude an einfachen Vergnügungen und nimmt jeden Tag so, wie er kommt. Wie ein wahrer Zenmeister isst er, wenn er Hunger hat, und schläft, wenn er müde ist. Er hat keine Komplexe, was den Sex betrifft. Und vor allem schenkt er mir eine bedingungslose Liebe, die nachzuahmen den Menschen wohl anstünde.
»Ich glaube, ich könnte alles aufgeben und mit den Tieren leben; sie sind so ruhig und selbstgenügsam«, schreibt der Dichter Walt Witman. »Ich stehe da und betrachte sie in einem fort.«
Er fügt hinzu:
»Sie machen sich keine Sorgen und jammern nicht über ihre Lage; sie liegen nachts nicht wach und weinen über ihre Sünden; sie belästigen mich nicht mit Gesprächen über ihre Pflichten gegenüber Gott. Kein Tier ist unzufrieden, keines ist besessen vom Streben nach Besitz; keines kniet vor dem anderen nieder, auch nicht vor Artgenossen, die vor Jahrtausenden starben; und auf der ganzen Welt gibt es kein vornehmes oder unglückliches Tier.«
Natürlich hat mein Hund auch seine Fehler. Er fürchtet sich vor Knallfröschen und versteckt sich im Kleiderschrank, wenn wir den Staubsauger anmachen. Doch im Gegensatz zu mir fürchtet er nicht, was andere von ihm denken, und macht sich keine Sorgen über sein Ansehen in der Öffentlichkeit. Er bellt den Briefträger und den Zeitungsjungen an; doch im Gegensatz zu einigen Leuten, die ich kenne, knurrt er niemals Kinder an und verbellt nicht seine Frau.
Mein Hund ist eine Art Guru. Wenn ich zu ernst und zu beschäftigt bin, erinnert er mich daran, wie wichtig Spaß und Spiel sind. Wenn ich mich zu sehr in abstrakten Ideen verfange, erinnert er mich daran, wie wichtig Bewegung und Körperpflege sind. Entsprechend seiner eigenen Entwicklungsstufe zeigt er mir, dass es möglich sein müsste, ohne innere Konflikte oder Neurosen zu leben – unkompliziert, natürlich und voller Lebensfreude.
Mark Twain meinte vor langer Zeit, der Mensch könne eine Menge von den höheren Tieren lernen. Dass sie weder das statische Rauschen noch die Interkontinentalrakete noch Fernsehprediger erfunden haben, schließt nicht aus, dass sie spirituell entwickelt sind.
Aber was bedeutet es für ein Tier (auch für das Menschen-Tier), spirituell entwickelt zu sein? Meiner Ansicht nach bedeutet es vielerlei: die Herausbildung eines Moralgefühls, Freude am Schönen, Kreativität, die Erkenntnis, Teil eines größeren Ganzen zu sein, wie auch ein Gefühl für Geheimnisse und Wunder hinter alledem. Das sind die kostbarsten Gaben, die wir besitzen; aber es gibt nichts Esoterisches oder Übernatürliches an diesen »spirituellen« Errungenschaften. Ich behaupte sogar, dass Spiritualität ganz natürlich ist, fest in der biologischen Ordnung verwurzelt und in der Ökologie Teil alles Lebendigen.
Ich bin von Beruf Gemeindepfarrer. Meine Arbeit berührt den schwer fassbaren, vielleicht nicht definierbaren Bereich des Geistigen. Ich bete mit Sterbenden und tröste Hinterbliebene. Ich nehme teil an der Freude der Eltern, taufe ihre Kinder und heiße das neue Leben auf der Welt willkommen. Ab und zu helfe ich Menschen, moralische Zweifel zu bewältigen und ethische Entscheidungen zu treffen. Ich wirke auch bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit; ich fördere ihre natürliche Fähigkeit, Ehrfurcht und Mitgefühl zu empfinden. Woche für Woche stehe ich vor meiner Gemeinde und versuche, von den größten Geheimnissen der menschlichen Existenz zu sprechen. Vor einigen Jahren wurde mir aber bewusst, dass Menschen nicht die einzigen Tiere auf Erden sind, die Zugang zur geistigen Welt haben.
Dies ist ein Buch über das spirituelle Leben der Tiere. Bisher wurde viel über die Intelligenz der Tiere und ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen, geschrieben. Doch Spiritualität hat mit Problemlösung noch weniger zu tun als mit jenen Problemen, über die wir lediglich nachdenken können. Wir können uns zum Beispiel Gedanken über den Tod machen, ohne jemals das Problem unserer Sterblichkeit zu »lösen«. Wenn ich mich mit dem spirituellen Leben der Tiere befasse, kümmere ich mich daher weniger um die Leistungsfähigkeit des Gehirns, um Gedächtnis und Lernvermögen, sondern mehr um subtilere Aspekte der Intelligenz wie Einfühlungsvermögen, Kreativität und Vorstellungskraft.
Wenn wir die Spiritualität anderer Arten untersuchen, begeben wir uns auf unerforschtes Gelände. Sind sich Tiere ihrer selbst bewusst oder nicht? Haben Tiere Kummer? Denken sie über das Ende des Lebens nach? Können Tiere träumen? Haben sie ein Gewissen, eine Vorstellung von Recht und Unrecht? Machen andere Spezies Musik, oder lieben sie Kunst?
Ich bin weder Zoologe noch Verhaltensforscher. Wahrscheinlich würde niemand, der auf diesem Gebiet akademisch gebildet ist, derart kühne Fragen stellen – das würde ihm den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit oder Naivität einbringen. Zum Glück sind Geistliche aber dazu berufen, über Dinge nachzudenken, die für andere undenkbar sind. Als Schamanen des zwanzigsten Jahrhunderts steht es uns zu, an allerlei Rätseln zu knobeln: Was macht uns menschlich? Was macht das Leben heilig?
Allerdings besteht oft die Gefahr, dass wir uns dabei übernehmen. Immerhin schwimmen wir in tiefem Wasser und meiden seichte Stellen. Auf der Suche nach Antworten auf solche Fragen habe ich festgestellt, dass wir dabei nicht nur unser Verständnis für andere Geschöpfe vertiefen, sondern auch Selbsterkenntnis erlangen können.
Ohne unsere nichtmenschlichen Geschwister zu vermenschlichen, können wir die Tatsache anerkennen, dass Menschen und Tiere vieles gemeinsam haben. Sie haben ein Gefühlsleben; sie empfinden Liebe und Furcht; sie besitzen ihre eigene Würde und leiden, wenn diese nicht respektiert wird. Sie spielen und begegnen ihrer Welt mit Neugier. Sie können treu und selbstlos sein. Sie haben ein »tierisches Vertrauen«, eine Spontaneität und Direktheit, die ungemein erleuchtend sein können.
Mir scheint, es deutet alles darauf hin, dass Tiere eine Seele haben. Wir können die Seele allerdings nicht sehen oder messen. Wir können nur beobachten, wie sie sich ausdrückt: im Weinen und Lachen, im Mut und im Heldentum, in der Großzügigkeit und im Verzeihen. Die Seele ist der Punkt, an dem unser Leben ins Zeitlose mündet, wenn wir das Gute lieben, uns am Schönen begeistern, nach der Wahrheit streben. Die Seele macht aus dem Leben jedes Menschen einen Mikrokosmos – er ist nicht nur ein bedeutungsloses Teilchen im Universum, sondern auf einer höheren Ebene eine Widerspiegelung des Alls.
Niemand kann beweisen, dass Tiere eine Seele haben. Doch wenn wir anderen Kreaturen unser Herz öffnen und uns ihren Freuden und Sorgen nicht verschließen, haben sie die Macht, uns umzuwandeln. In anderen Geschöpfen wohnt eine Innerlichkeit, die unser Innerstes aufrüttelt.
Seit Urzeiten weiß der Mensch, dass er von der Ausgeglichenheit und Harmonie der Tiere lernen kann. »Frage die Tiere, und sie werden dich lehren«, rät das Buch Hiob. Andere Kreaturen bewohnen die Erde viel länger als wir. Ihre Anpassungsfähigkeit an das Leben und ihre Instinkte sind manchmal gesünder als unsere. »Am Anfang aller Dinge«, sagt der Pawnee-Häuptling Letakots-Lesa, »besaßen die Tiere Weisheit und Wissen; denn Tirawa, der Hohe, sprach nicht unmittelbar zum Menschen. Er sandte Tiere, um dem Menschen zu sagen, dass er sich durch die Kreaturen offenbart und dass der Mensch von ihnen, wie auch von den Sternen und von der Sonne lernen soll.« Die Vorstellung, dass andere lebende Wesen unsere spirituellen Führer sein können, ist durchaus nicht neu.
Dieses Buch möchte erkunden, in welchem Maße Tiere unsere Seelen- und Reisegefährten sind und an jenen Dingen teilhaben, die uns zutiefst menschlich machen. Jedes Kapitel beleuchtet einen anderen Aspekt des tierischen Erlebens. Warum spielen Tiere? Welche Ängste und Phantasien haben sie? Wie sieht die Welt in ihren Augen aus? Wie nahe kommen ihre Erfahrungen den unseren?
Ein Buch wie dieses wirft wohl mehr Fragen auf, als es beantwortet. Aber wenn die Fragen uns ehrfürchtiger machen, nachdenklicher gegenüber den anderen Geschöpfen, die auf diesem Planeten wandeln, in seinen Meeren schwimmen und sich in seine Lüfte schwingen, dann hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt. Ich glaube, wenn wir unsere Familienheimstatt – die Erde – für künftige Generationen erhalten wollen, müssen wir uns besinnen und der Familie der Lebewesen mit neuer Achtung begegnen.
Voll Liebe und Zuneigung widme ich dieses Buch den Tieren der Welt, vor allem aber meinem eigenen...