Der Ingenieur
Reisetagebuch, Mai 1991
Bin mit ihm und seinem Bus zum ersten Mal campen. Sehr idyllisch hier in Dänemark, Steilküste, Blick auf’s Meer, der Platz liegt direkt am Strand. Er hat ’ne Riesenclique, alle sehr nett. Nur das Toilettenproblem müssen wir irgendwie lösen …
Wieder ein VW-Bus. Dieses Mal ein T3, Baujahr 1980. Weiß mit Hochdach, links und rechts und obendrauf beladen mit coolen Surfbrettern. Er gehörte dem braun gebrannten Hamburger namens Udo, der zum Mann meines Lebens werden sollte.
Als ich zusagte, mit ihm Pfingsten in Dänemark zu campen, kannten wir uns noch nicht lange und ich hatte seit jenem legendären Atlantik-Trip keinen Fuß mehr auf einen Campingplatz gesetzt. Keine Zeit, kein Geld, keine Lust. Wenn ich während meiner aufregenden Lehr-, Wander- und Workaholic-Jahre von Wuppertal über Paris (Au-pair), Münster (Studium) und New York (Praktikum) bis nach Berlin (Volontariat) überhaupt mal »Urlaub« machte, dann als Betreuerin bei Ferienfreizeiten mit körperlich und geistig behinderten Kindern. Das reichte mir in diesem Alter als Auszeit, natürlich gegen Kost und Logis. Auch aus gesellschaftlich-moralischen Gründen. Während andere durch Indien trampten oder in Nicaragua aus Solidarität die Felder beackerten, lernte ich mit Rollstühlen umzugehen, Windeln zu wechseln und mich auf kleine Menschen einzulassen, die anders ticken als die meisten von uns. Eine Erfahrung, von der ich bis heute genauso zehre wie andere von ihren Abenteuerreisen.
Aber zurück zu Udo. Pfingsten in Dänemark also. Ich war sehr verliebt und wäre mit ihm auch in eine Jugendherberge in Castrop-Rauxel gefahren, also sagte ich zu. Ich lebte damals noch in Berlin, den Norden von Deutschland kannte ich kaum. Umso begeisterter war ich von der Weitsicht über die rapsblühenden Landschaften, durch die wir fuhren.
»Du wirst es mögen«, sagte er, »wir fahren da seit Jahren hin und stehen immer auf derselben Parzelle direkt an der Steilküste. Von da hat man einen tollen Blick auf die Ostsee.« Ich ließ meinen Blick durch den Bus schweifen. Blaue Polster, blau-weiße Vorhänge an den Fenstern, Sperrholzschränke, ein kleiner Herd mit zwei Flammen, ein Minikühlschrank. Richtig gemütlich.
»Sieht ja aus wie in der Camping-Werbung. Hast du das alles selbst ausgebaut?«, fragte ich bewundernd.
»Klar, als Flugzeugbau-Ingenieur muss man so was ja wohl können«, grinste mein neuer Freund, »nur die Vorhänge hab ich nicht selbst genäht, das hat meine Mutter gemacht.« Ich liebte ihn noch ein bisschen mehr und stellte mir vor, wie wir schon bald romantisch in den blauen Polstern kuscheln und am nächsten Morgen idyllisch zu zweit mit Meerblick frühstücken würden.
Das mit dem Kuscheln klappte auch, nachdem wir in dänischer Finsternis den Bus auf der Wiese abgestellt hatten. Nur mit der Romantik war es vorbei, als ich mitten in der Nacht wach wurde und pinkeln musste. Ich sah auf die Uhr. Halb vier. Vorsichtig weckte ich meinen Liebsten.
»Wo ist eigentlich das Klo?«, flüsterte ich ihm ins Ohr, »das hab ich hier drinnen noch gar nicht entdeckt.«
»Klo?«, gähnte er, »da musst du am Ende der Wiese links und dann immer geradeaus, dann kommst du zum Waschhaus.«
»Waschhaus? Ich soll hier im Dunkeln ganz alleine über den Campingplatz wandern? Nee, da musst du schon mitkommen.« Empört rüttelte ich an meinem Bettnachbarn, der schon wieder in leises Wohlfühl-Schnarchen abgetaucht war. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie ich mit achtzehn dieses Problem gelöst hatte. Entweder musste ich nachts gar nicht hoch oder ich hatte mich einfach neben den Bulli ins Gras gehockt.
»Kann ich nicht einfach neben den Bus pinkeln?«, zischte ich. Plötzlich saß er kerzengerade im Bett. Zugegeben, wenn ich sehr unter … na ja … Druck stehe, klingt meine Stimme nicht mehr ganz so liebevoll.
»Das geht auf keinen Fall. Die anderen stehen ja auch alle hier, stell dir mal vor, wie das riechen würde, wenn das jeder …« Genervt zog ich mir was über, schob die Schiebetür auf, die mir in der nächtlichen Stille entsetzlich laut vorkam, und machte mich auf den Weg. Es war stockdunkel, eine Taschenlampe hatte ich natürlich nicht dabei. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ein Leuchtkörper in der Tasche oder noch besser am Kopf nach Einbruch der Dunkelheit zur Grundausstattung eines zünftigen Campers gehört. Schon nach wenigen Schritten stolperte ich und landete unsanft auf den Knien. Verdammt – überall Zeltschnüre! Logisch, es war ja nicht jeder mit so einem Luxusgefährt wie wir unterwegs. Mit schmerzendem Knie und wachsendem Druck auf der Blase humpelte ich weiter, tastete mich an Autos, Zelten und Hecken entlang, bis ich in der Ferne ein Licht schimmern sah. Endlich, das rettende Waschhaus. Kein Mensch weit und breit. Dachte ich – bis ich dieses Geräusch aus einer der Nebenkabinen hörte. Wasser. Da lief eine Dusche. Und dem leisen Schnaufen nach zu urteilen, stand auch jemand drunter. Aber wer um alles in der Welt duscht nachts um halb vier, fragte ich mich. Hier machten doch alle Urlaub und keiner musste um sechs auf der Baustelle antreten. Als ich mir die Hände wusch, öffnete sich plötzlich die Tür neben mir. Heraus wankte ein junger Mann. Er war vollständig angezogen, aber klatschnass. Mit glasigen Augen starrte er mich an. Er hatte mit mir wohl genauso wenig gerechnet wie ich mit ihm.
»Schulligung«, murmelte er, »brauchtema ne Ab… Aaabkühlung …«
»Ja, nee, is klar«, hörte ich mich hauchen.
Fassungslos sah ich ihm hinterher, wie er davontorkelte und ein schlangenlinienförmiges Rinnsal auf dem Boden zurückließ. Es gibt Momente, die man nicht unbedingt erleben möchte. Schon gar nicht nachts um halb vier in einem dänischen Sanitärgebäude.
Nachdem ich mich ohne weitere Begegnungen der dritten Art und auch so gut wie unverletzt zurück zu unserem Platz durchgekämpft hatte, konnte ich natürlich nicht wieder einschlafen. Ich wälzte mich hin und her und fasste einen Entschluss. Wie auch immer der Rest dieses Pfingstwochenendes verlaufen, wie sehr meine Liebe zu diesem leidenschaftlichen Camping-Boy auch wachsen würde – eins stand von jener Nacht an fest: nie wieder ohne eigene Campingtoilette. Dass es so etwas gab, wusste ich. Das Ding hatte den absurden Namen »Porta Potti«, das hatte ich irgendwo mal gelesen. Aufgewühlt tippte ich dem Ingenieur auf die Schulter.
»Wenn du willst, dass ich mit dir weiter zum Campen fahre, musst du eine Porta Potti anschaffen. Sonst kannst du’s vergessen!« Er blinzelte mich mit seinen grünen Augen an, mit einem Blick, der nicht unbedingt auf weitere 27 Jahre gemeinsames Campingglück hindeutete. »Lass uns morgen darüber sprechen, okay?«, murmelte er und drehte sich seufzend auf die andere Seite.
Porta Potti. Schon mal davon gehört? Es handelt sich um eine Chemietoilette – quadratisch, praktisch, gut. Sie lässt sich auf jedem Campingplatz in einer eigens dafür vorgesehenen Entsorgungsstation ausleeren. In meinen Augen eine segensreiche Erfindung, auch wenn die Begriffe »Chemie« und »Segen« zugegebenermaßen in diesem Zusammenhang in einem gewissen Widerspruch zueinander stehen. Man sollte das Behelfsklo eigentlich nur im Notfall benutzen oder Bio-WC-Flüssigkeit verwenden. Dann stinkt es nur schneller. Aber für empfindliche Nasen ist ein Campingurlaub ohnehin nicht ideal. Ich habe mir schnell angewöhnt, ausschließlich durch den Mund zu atmen, sobald unangenehme Gerüche zu befürchten sind.
Wir reisen jedenfalls seitdem nie mehr ohne unsere Porta Potti. Benutzung, Betankung und Entleerung funktionieren reibungslos, auch wenn wir nicht im Besitz einer Transportkarre sind, mit der viele andere Wohnmobilbesitzer ihren randvollen Toilettentank über den Platz rollen, um ihn nicht schleppen zu müssen.
Nur einmal, ein einziges Mal habe ich es bereut, nicht auch so ein albernes Handwägelchen mein Eigen zu nennen. Das war an diesem Julitag auf Korsika, als ausnahmsweise mal ich den schwarzen Peter gezogen hatte. Normalerweise ist dieser Job Männersache, alte Campingtradition. Es war mir einfach zu heiß, die Toilette über den ganzen Platz zu schleppen, und ich beschloss, sie auf dem Gepäckträger meines Hollandrads zu transportieren. Das ging gut, bis zu dem verhängnisvollen Moment, als mir direkt vor der Rezeption des Campingplatzes ein großer Hund entgegenlief. Ich kam ins Schlingern, wollte ausweichen, bremste scharf … und sah, wie meine Potti im hohen Bogen rechts an mir vorbeiflog, mit einem krachenden Geräusch auf den Boden knallte und zerbarst. Zur Salzsäule erstarrt sah ich zu, wie sich eine widerliche graublaue, mit durchtränkten Klopapierfetzen vermischte Flüssigkeit über den blumengeschmückten Vorplatz ergoss.
»Iiiihgitt, Mama, was stinkt hier so?«, rief ein kleiner Junge, der mit seinen Eltern aus einem gerade angekommenen Wohnmobil mit Rendsburger Kennzeichen kletterte.
»Tja, da ist wohl jemandem ein Missgeschick … oh! Frau Tietjen, das ist ja eine Überraschung! Was machen Sie denn hier?«, rief die Mutter und sah mich mit einer Mischung aus Ekel, Mitleid und Begeisterung an.
»Äh, ja, also … Urlaub?«, stotterte ich, stieg vom Rad und versuchte hilflos, den Schlamassel mit den Füßen irgendwie zusammenzuschieben.
»Ah non, Madame, arrêtez, on va vous aider« (»Lassen Sie das, Madame, wir helfen Ihnen«), rief die freundliche Dame, die jetzt aus der Rezeption auf mich zugelaufen kam. Ein paar Meter vor mir blieb sie stehen, sie schien Angst um ihr schickes Kostüm zu haben. Gott sei Dank kam kurz darauf ein patenter korsischer Mitarbeiter dazu und brachte das peinliche Malheur mit...