„Wenigstens anständig untergehen“
Die Schüsse von Sarajevo • Das multi-ethnische Tirol in den letzten Jahren vor 1914 als Spiegelbild des Vielvölkerstaates • Wie und warum es zum „Großen Krieg“ kam
In den Tiroler Sommerfrischorten und Alpinzentren hatte die Saison gerade begonnen, Nobelhotels und Gasthöfe waren ausgebucht. Herrliches Wetter lockte die Feriengäste in die Berge, als am Sonntag, 28. Juni 1914, gegen Abend die ersten Nachrichten von einem Attentat eintrafen, dem im bosnischen Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie zum Opfer gefallen waren. Was zuerst kaum jemand glauben mochte, war am nächsten Tag Gewissheit. Ein serbischer Student hatte das Thronfolgerpaar ermordet. Allerorts traten die Gemeindeführungen zu Trauersitzungen zusammen, verurteilten die Bluttat und sandten Beileidskundgebungen an „unseren allgeliebten Kaiser“. In den Kirchen wurden Trauergottesdienste abgehalten. Schwarze Fahnen beherrschten das Bild der Tiroler Städte und Dörfer.
In die allgemeine Trauer mischte sich bald die Sorge über den weiteren Verlauf der Dinge. Was würden wohl die Folgen der Schüsse von Sarajevo sein? Würde es Krieg geben oder konnte Serbien, dessen Staatsführung beschuldigt wurde, die Hintermänner des Attentats zu unterstützen, auf andere Weise zur Raison gebracht werden? Und welcher Art würde so ein Krieg sein? Würde er sich lokal und zeitlich begrenzen lassen, wie alle Kriege der letzten hundert Jahre? Dass Serbien als Ausgangspunkt nationaler Hetze gegen Österreich-Ungarn eine Tracht Prügel verdiene und sich jetzt die Gelegenheit böte, diesen Unruheherd am Balkan auszumerzen, war weit verbreitete Meinung von der Spitze der Monarchie bis hinunter zum kleinen Mann auf der Straße, auch in Tirol. Umso bemerkenswerter die Meinung eines Mitarbeiters des „Pusterthaler Boten“, der am 17. Juli in seinem Kommentar zur Situation versicherte, es sei „nicht der geringste Grund vorhanden, an einen Konflikt mit Serbien oder sogar an einen Krieg zu glauben“. Trotzdem – oder gerade deshalb – gemahne man die politisch Verantwortlichen zur Vorsicht, es stehe nämlich außer Zweifel, „daß ein Krieg mit Serbien unvermeidlich zum Krieg mit Rußland, das heißt also zum Weltkrieg führen würde“.
Aus den Zeitungen erfahren die Tiroler, was in Sarajevo passiert ist.
Leider hörten die großen Herren in Wien nicht auf den kleinen Tiroler Zeitungsschreiber. Sie waren ganz auf Krieg eingestellt. Das Attentat war im Grunde der lange ersehnte Grund, Serbien mit Waffengewalt auszuschalten. Kaiser Franz Joseph I. – meist als alt und müde beschrieben, der den Dingen seinen Lauf ließ – wollte den Krieg, das ist durch die Forschungen der letzten Jahre eindeutig erwiesen. Und sein Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf hatte seit 1908 sogar mehrere Varianten für Angriffskriege der Donaumonarchie ausgearbeitet. Ziel war das eine Mal die Neuordnung am Balkan, das andere Mal die Wiedergewinnung des 1859 und 1866 verlorenen Oberitalien. Der Feldmarschall (Conrad ist der Familienname) hätte nicht die geringsten Skrupel gehabt, das seit 1882 mit Österreich und Deutschland verbündete Königreich Italien anzugreifen. Allerdings schien ihm 1914 der Zeitpunkt nicht mehr günstig, weil sich die potentiellen Gegner, Italien eben und Serbiens mächtiger Unterstützer Russland, seitdem von Krisen und Kriegen erholt (Russland vom Krieg mit Japan und Italien vom Libyenabenteuer) und wieder aufgerüstet hatten, während in Österreich-Ungarn die Rüstung sträflich vernachlässigt worden war. Schon 1913 hatte er gegenüber einem Berater des Thronfolgers Franz Ferdinand gemeint, „im Jahr 1908 wäre [der Krieg] ein Spiel mit aufgelegten Karten gewesen, 1912 noch ein Spiel mit Chancen, jetzt ist es ein va banque Spiel“.
Warten auf Neuigkeiten. Wird es Krieg geben?
Was nichts daran änderte, dass er – wie der Kaiser und die meisten seiner Minister – glaubte, das Wagnis eingehen und selbst Russland als weiteren Gegner riskieren zu müssen. Zumal es nicht nur um die Glaubwürdigkeit und das angeblich gefährdete Ansehen des Habsburgerstaates im europäischen Macht- und Bündnisgefüge ging, sondern um nichts weniger als den Erhalt des nur mehr notdürftig zusammengehaltenen Vielvölkerstaates. Das Zusammenleben der elf offiziell anerkannten Nationen und der zahllosen Minderheiten unter dem Dach der Doppelmonarchie wollte nicht mehr richtig funktionieren und vorsichtige, nur Detailprobleme angehende Reformversuche waren bisher schon in den Ansätzen gescheitert. Auch das Aufkommen neuer sozialer Ideen und die zunehmend politisch zersplitterte Gesellschaft in wirtschaftlich schwieriger werdenden Zeiten bedrohten den Staat, der weiterhin vom Geburts- und Geldadel beherrscht wurde und keine Rücksicht auf die nach Anerkennung, Aufwertung und Mitsprache drängenden unteren Schichten nahm.
In Tirol kannte man diese Probleme nur zu gut. Schließlich hatte über ein Drittel der Tiroler Bevölkerung Italienisch als Muttersprache. So vehement die Tiroler ihre Autonomiewünsche in Wien vorbrachten, so wenig Verständnis hatten die meisten deutschsprachigen Politiker für den Wunsch des italienischen Bevölkerungsteils nach größerer Selbständigkeit. In Innsbruck und Bozen wollte man unbedingt an der „historischen Einheit Tirols“ festhalten, während in Trient der Ruf „Los von Innsbruck“ immer lauter wurde. Im Sinne der Politik des „Irredentismus“ hatte das Königreich Italien die „Erlösung“ jener Italiener, die außerhalb seiner Grenzen lebten, auf seine Fahnen geschrieben. Das betraf in erster Linie Triest und den italienischen Teil von Tirol. Deshalb wäre es ein Gebot der politischen Klugheit gewesen, der dortigen Bevölkerung, den Welschtirolern, den Wunsch nach Autonomie zu erfüllen. Auf diese Weise hätte man jenen Trentiner Politikern zuvorkommen können, die nicht nur „los von Innsbruck“, sondern auch „los von Wien“ wollten. Doch in Innsbruck sah man das nicht ein. Die von den Autonomisten für das italienische Tirol verwendete Bezeichnung „Trentino“ wurde als „geographische Übersetzung“ der politischen „Los-von-Innsbruck“-Parole betrachtet und abgelehnt. Offiziell sprach man von Welschtirol oder von Südtirol.
Neben den 500.000 Deutschtirolern – so der ungefähre Stand um 1900 – lebten im Land rund 350.000 Welschtiroler. Sie hatten in ihrem geschlossenen Siedlungsgebiet die volle kulturell-nationale Autonomie: Italienisch war Amts- und Gerichtssprache; es gab genügend viele italienische Schulen; Aufschriften und Namenstafeln waren durchwegs italienisch. Nicht nur die Beamten der autonomen Behörden, wie der Gemeinden, waren stets Italiener, auch staatliche Beamtenstellen wurden fast durchwegs mit italienischsprachigen Einheimischen besetzt. Auch sonst kam es zu keiner Benachteiligung oder gar Unterdrückung der italienischen Bevölkerung. Trotzdem wollten die führenden Welschtiroler mehr, nämlich einen eigenen Landtag, eine eigene gesetzgebende und ausführende Gewalt. Man war im Tiroler Landtag nicht großzügig genug, diesem verständlichen Wunsch Rechnung zu tragen. Aus Protest blieben die italienischen Abgeordneten immer wieder längere Zeit hindurch den Sitzungen des Landtags fern.
Anders verhielten sich die Angehörigen der dritten tirolischen Volksgruppe, die Ladiner in den fünf Dolomitentälern, deren Zahl für die Jahrhundertwende auf rund 20.000 geschätzt wird. Die jahrhundertelange Zugehörigkeit zum Fürstentum Brixen bzw. zum Land Tirol und die enge persönliche, wirtschaftliche und rechtliche Bindung an den deutschen Siedlungsraum hatten bei Bewahrung der eigenen Sprache eine weitgehende Angleichung an die deutschen Lebens- und Kulturformen bewirkt. Mit Ausnahme des Fassatales, das seit 1815 zu einem Welschtiroler Kreis bzw. Bezirk gehörte, waren alle Dolomitentäler deutschen Verwaltungssprengeln zugeordnet. Ampezzo bildete zusammen mit Buchenstein seit 1868 eine eigene Bezirkshauptmannschaft. Ein Anspruch auf Autonomie in irgendeiner Form wurde von den Ladinern nie gestellt. Sie fühlten sich den Deutschtirolern verbunden, von denen sie auch im Landtag vertreten wurden. Eine Ausnahme bildeten auch hier die Ladiner im Fassatal, die von einem Welschtiroler vertreten wurden. Die Bemühungen der Fassaner, in allen Belangen an Deutschtirol angeschlossen zu werden, wurden zwar vom Tiroler Landtag unterstützt, scheiterten aber an der Verständnislosigkeit der Wiener Regierung.
Typisches Welschtiroler Ortsbild: Strigno in der Valsugana
Die Frage der Trentiner Autonomie trat – nach einigen früheren Zugeständnissen – um 1900 in eine entscheidende Phase. Schon 1889 hatte die deutsche Mehrheit im Tiroler Landtag die Berechtigung von „besonderen Einrichtungen und Organen der Selbstverwaltung zur besseren Besorgung der nur den italienischen Landesteil betreffenden Angelegenheiten“ zugegeben. Die eingeleiteten Verhandlungen erbrachten jedoch kein Ergebnis. Zwischen 1900 und 1902 kam es zu...