Essen – Sinneserfahrung für Körper und Seele
Wir essen jeden Tag – und das mehrere Male, der Säugling sogar 16-mal in 24 Stunden. So ist Essen eigentlich das Natürlichste der Welt und gehört zu den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen unter Einbezug seiner Sinne mit Wohlgefühl.
Essen ist ein zentrales Thema und kann nicht vom restlichen Lebenskontext, von Werten und Haltungen, von Beziehungen und Lebensweisen getrennt werden. Ein Kind nimmt durch den Mund mit der aufgenommenen Nahrung die zu erlernenden familiären und kulturellen Verhaltensmuster auf. So wird der kindliche Körper zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Werte und Normen.
Von Erwartungen und Bedürfnissen
Kommt ein Kind auf die Welt, dann haben Erwachsene, Eltern, Großeltern und Ärzte unterschiedliche Erwartungen in Bezug auf seine z. B. Gesundheit, Bildung und sein Wohlergehen. Diese Erwartungen prägen das Kind in seinem Verhalten sowie in seinem späteren Essverhalten. Das Essverhalten isst man sich an und wird familiär/kulturell geprägt. Kinder sollen, so die Erwartungen der Erwachsenen, in den ersten Lebensjahren erst flüssig, dann breiig und zuletzt stückig, auf jeden Fall stets planmäßig und möglichst sauber, immer mit der vorhergesehenen Menge ganz besonders gesund, durchgehend freudig und gerne neugierig ernährt werden. Diese Erwartungen haben nicht nur die Eltern, sondern auch die Großeltern, das Gesundheitssystem, Erzieher und Lehrer.
Aber…: Kinder haben Bedürfnisse, sie wollen in Beziehung, mit Begleitung, mit Selbstvertrauen, mit Verlässlichkeit, mit Kontinuität und Aufmerksamkeit essen lernen. Ihre Mutproben wollen sie nicht am Tisch machen. Zwei Dinge werden immer wieder übersehen: Einmal, dass zwischen Ernähren und Essen Welten liegen können und, dass gut essende Kinder nicht von den Bäumen fallen. Essen wird gelernt. In diesem Lernprozess braucht das Kind sehr viel wohlwollende Aufmerksamkeit und Vertrauen von den Erwachsenen. Wer als Kind bei den Mahlzeiten nicht ausreichend Aufmerksamkeit bekommt und nicht in seinen Bedürfnissen wahrgenommen wird, kann sich selbst im Verlauf des Lebens möglicherweise nicht genügend spüren und lernt nicht, seinen Körper und seine Bedürfnisse wahrzunehmen. Kinder brauchen beim Essenlernen das Vertrauen ihrer Eltern, der Erwachsenen. Sie wollen selber Verantwortung übernehmen: für Hunger, Sattheit und Appetit und sie wollen selbstbestimmt essen lernen.
Kinder wollen ihre Mutproben nicht am Tisch machen.
Die Sorge der Eltern um das richtige und gesunde Essverhalten ihres Kindes macht die Stimmung rund um das Essen ungesund, so dass das Essenlernen nicht möglich ist. Lernen erfordert gute Stimmung, die Möglichkeit des Einbezugs aller Sinne und der unzähligen Wiederholungen sowie positiver Erfahrungen. Quelle aller elterlicher Sorgen ist die Angst und das Gefühl der Überlegenheit, das Bedürfnis nach Kontrolle. Was Kinder aber brauchen, ist Vertrauen, nur so können sie körperlich und seelisch wachsen. Schenkt man Kindern dieses Vertrauen, stärken wir ihre Selbstwirksamkeit und ihr Selbstvertrauen. Essen ist Mitbestimmen, immer prägend und gleichzeitig komplex und störanfällig, kann auf unterschiedliche Weise zu verschiedenen Zwecken manipuliert werden – von gar nicht mehr essen, über nur sehr spezielles essen bis hin zu übermäßigem essen. Oder auch in der Pubertät das „anders essen“ als Abgrenzung.
Lernen erfordert gute Stimmung, die Möglichkeit des Einbezugs aller Sinne, unzähliger Wiederholungen sowie positiver Erfahrungen.
So brauchen Kinder, um gut essen zu lernen, Erwachsene, die ihr Essverhalten reflektiert haben. Vorleben kann nur der, der sich seines Essverhaltens bewusst ist, woher manche seiner Vorlieben und der – möglicherweise nicht immer vorbildliche – Umgang mit Essen stammt. Nur so kann man darauf aufbauend seine Wünsche und Erwartungen an sich selbst und das Kind formulieren und glaubwürdig vertreten (das gilt auch für den Berater!). Die Betrachtung der eigenen Essbiografie und die Reflexion des Essverhaltens steht so an erster Stelle, denn: Es wird in der Familie, in Gruppen und im Beratungskontext nicht gelingen, Essen mit Leben zu füllen, wenn man Wünsche und Erwartungen auf der Verstandesebene zwar bejaht, sich aber aus unbewussten Gründen mit ihnen nicht wohlfühlt. Entscheidend für das Essverhalten eines Erwachsenen ist also nicht ausschließlich, wie er als Kind ernährt wurde, sondern wie er als Kind das Essen gelernt hat. Inwieweit die kindlichen Bedürfnisse, das Essenlernen mit allen Sinnen, von den begleitenden Erwachsenen gesehen und gewahrt worden ist, ist hier von Bedeutung.
Entscheidend für das Essverhalten eines Erwachsenen ist nicht ausschließlich, wie er als Kind ernährt wurde, sondern wie er als Kind das Essen gelernt hat.
Wir sprechen über Ernährung, aber der Mensch isst
Ernährung | = | Tellerthemen Bedarf, er steht im Vordergrund darüber reden wir das, was auf den Teller kommt kognitiv, rationale Ebene öffentlich bedient das „Sollen“ |
Essen | = | Tischthemen Bedürfnis, es steht im Vordergrund das tun wir über den Tellerrand hinaus emotional sinnliche Beziehungsebene privat, intim bedient das „Wollen“ |
In der Kindheit wird das „Sollen“ verkörpert über die Erwachsenen, im Erwachsenenalter wird das „Sollen“ verkörpert über Empfehlungen, ärztliche Ratschläge, selbst aufgezwungene Maßnahmen, Werbung, Lebensstil. Rundum gesunder Genuss entsteht, wenn wir das essen wollen und können, was wir essen sollen.
Wie ist aber die Situation? Am Esstisch sitzen sich das „Wollen“ und „Sollen“ gegenüber. und nicht selten behindert das „Sollen“ die Wahrnehmung des „Wollens“. Damit das „Sollen“ und das „Wollen“ sich annähern können, braucht es das Wissen über die unterschiedlichen Phasen der Essentwicklung sowie der Entwicklung des Geschmacks, dass Essenlernen etwas mit Vertrauen zu tun hat, die Bedeutung von Mahlzeiten, die Reflexion der eigenen Essbiografie und im besonderen Maße das Wissen, dass Essen ein Beziehungsthema auf verschiedenen Ebenen ist.
Essen ≠ Ernährung!
Essen ist ein Beziehungsthema auf verschiedenen Ebenen.
Mit Vertrauen Selbstvertrauen erlangen
Das Wohlergehen eines Kindes hängt in den ersten Lebensjahren davon ab, dass die Eltern (die Erwachsenen) für das Wohl des Kindes sorgen. So lernen sie früh, dass das „Außen“, also die anderen, in der Regel die Eltern, darüber entscheidet, ob es ihm gut geht oder nicht. Im ersten Lebensjahr eines Kindes ist diese Fürsorge unumgänglich. Aber auch hier festigt sich schon das Vertrauen des Kindes in sich selbst umso mehr, je öfter es den Eltern gelingt, ihr Kind zu „lesen“. Beispielsweise können sie erkennen, ob ihr Kind hungrig ist und Milch braucht oder ob es hungrig nach Berührung ist. Je häufiger es den Eltern gelingt, die Unruhe, die Verunsicherung ihres Kindes treffsicher zu beantworten, umso mehr festigt sich das Vertrauen des Kindes in sich selbst, das Vertrauen zwischen Eltern und Kind, die Beziehung. Vertrauen wächst durch positive Erfahrung. So kann es Eltern gelingen – und das ist auch ihre Aufgabe – ihren Kindern zu zeigen, dass sie eigene Wegweiser in sich haben, die sie durch das Leben führen werden. Nicht selten geschieht es jedoch anders. Die Sorge der Eltern um ihr Kind, dass es verhungern könnte, ist z. B. deutlich größer als das Vertrauen, dass es mit ihrer Hilfe selbst für sich sorgen kann.
Kinder lernen früh, dass das „Außen“, also die anderen, in der Regel die Eltern, darüber entscheidet, ob es ihm gut geht oder nicht.
Im ersten Lebensjahr unterscheiden die Kinder nur zwischen zwei Zuständen, dem Zustand der Ordnung und dem Zustand der Unordnung. „Essen anbieten“ ist ein beliebter Versuch von Eltern, den Zustand der Unordnung in einen der Ordnung zu wandeln. So werden unterschiedliche Bedürfnisse, die mit dem Zustand der Unordnung zusammenhängen und ihn verursachen, mit einer einzigen Möglichkeit der Befriedigung beantwortet. Tatsächlich kann Milch bzw. Nahrung kurzfristig den Zustand der Unordnung, z. B. Einsamkeit, Müdigkeit, Langeweile oder Schmerz „wegzaubern“, allerdings nur kurzfristig, danach erfolgt Stress… und dann wieder Milch! Das Kind ist unruhig und Eltern sind, egal aus welchen oft sehr nachvollziehbaren Gründen (z. B. eigene Erfahrungen, mangelnde Reflexion) nicht aufmerksam genug, um das eigentliche Bedürfnis hinter dem Gefühl des Kindes zu lesen. Wer nicht genügend „wahr“-genommen wird, lernt nicht, sich selbst „wahr“-zunehmen. Kinder können so schon früh verinnerlichen, sich nach den Signalen der Außenwelt zu richten. Sie übernehmen unbewusst die Überzeugung, dass Halt und Sicherheit immer von außen/von anderen kommt. Eine Strategie wird gelernt: Wenn ich unruhig bin, brauche ich Nahrung.
Wer nicht genügend „wahr“-genommen wird, lernt nicht, sich selbst „wahr“- zunehmen.
Phasen der Essentwicklung
Die Ernährung und das Essverhalten von Anfang an bis zum Erwachsenenalter kann man grob in sechs Phasen einteilen. Diese Phasen sind geprägt von der Entwicklung des Verdauungstraktes, der Motorik, der physischen und psychischen Bedürfnisse sowie den...