Erbe
Jeden Dienstag trafen sich die beiden Freundinnen um 9 Uhr im Stadtpark. Für eine Stunde bewegten sich ihre Beine genauso intensiv wie ihr Mundwerk. So vertieft waren sie manchmal in ihre Gespräche, dass sie weder der anderen Menschen noch der Natur gewahr wurden. Die Herbstfärbung oder den feinen Schneefall, die aufkeimenden Blumen oder die intensive Sonnenstrahlung quittierten sie gewöhnlich mit einem: „Ist es nicht mal wieder herrlich heute?“, schweiften kurz mit wohlwollenden Blicken über die üppige Umgebung und stürzten sich in ihre persönlichen Berichte. Das Geschehen einer Woche auf ein Stündchen gedrängt! Das war nicht viel Zeit, denn an den anderen Tagen begnügten sie sich mit spärlichen kurzen E-Mails, und die auch nur im Notfall.
„Mit Herrn Dr. Müller bin ich sehr zufrieden“, berichtete Erika, die gleich mit der Tür ins Haus fiel. „Du weißt ja, dass ich ihn vor zwei Monaten eingestellt habe und meine Bedenken hatte. Er hat mir den Laden vollständig umgekrempelt! Es war natürlich mit mir abgesprochen, aber dennoch ist es nicht leicht für mich, mit anzusehen, wie er alte treue Mitarbeiter entlässt. Ich verstehe, dass es notwendig ist. Er hat mir zur Genüge erklärt, dass wir sonst keine Chance haben! Die Konkurrenz aus Fernost lässt uns keine andere Wahl! Es sind schon mehrere Firmen durch sie pleitegegangen. Ohne radikale Maßnahmen gehen wir mit Mann und Maus unter!“
Erika hatte vor sechs Monaten die Spielzeugfabrik übernommen, die schon seit mehreren Generationen im Familienbesitz war. Bereits ihre Mutter, sie selber und auch ihre eigenen Kinder waren fast ausschließlich mit Spielsachen der Eigenmarke aufgewachsen. Sie fühlten sich alle mit ihnen sehr verbunden, kannten jedes Produkt oder glaubten, es zu kennen, liebten die bekannten Gegenstände, als hätten sie sie selber von Hand gefertigt. Dabei waren sie nicht hochkarätiger als andere, im Gegenteil vielleicht sogar einfacher und nicht durch ihre Resistenz hervorstechend. Sie stellten lediglich eine Marke mehr dar.
Erika stand vor der riesigen Aufgabe, die am Rande des Ruins stehende Firma auf Vordermann zu bringen. Dazu benötigte man neue Ideen, neuen Wind, eine Umstrukturierung, ja sogar eine neue Ausrichtung in der Produktion. Denn aus Asien blies es stark. Gegen diese Konkurrenz zu bestehen, nicht unterzugehen, war hart genug.
Dabei brachte Erika nicht die geeigneten Voraussetzungen zur Bewältigung dieser Herausforderung; keine Kenntnisse in Betriebswirtschaft oder gar eine Ausbildung in Management hatte sie genossen, nein, sie hatte lediglich ein Kunststudium absolviert. Dadurch ließe sich vielleicht ihr guter Geschmack erklären, allerdings nicht die treffende Eigenschaft für die Führungsposition, die sie nun auszuüben hatte.
„Ja, du trägst eine enorme Verantwortung, den Angestellten ebenso wie deiner Familie gegenüber“, antwortete Iris voller Verständnis. Mit der Busenfreundin konnte sich Erika über alle Themen, auch die intimsten, unterhalten. Sie wiesen einige Gemeinsamkeiten auf: Beide hatten die gefürchtete Grenze der Sechzig überschritten, dennoch trieben sie regelmäßig mit Leidenschaft verschiedene Sportarten, sie achteten auf ihre Figur sowie auf ihr Äußeres im Allgemeinen und auch kulturelle Veranstaltungen besuchten sie intensiv. Dabei zeigte ihr Erscheinungsbild einen merklichen Kontrast: Während Erika blond und blauäugig war, so war Iris schwarzhaarig mit braunen Augen. Erika war ein wenig zurückhaltend, wogegen Iris mit ihren Energien übersprudelte und offen auf die Menschen zuging. Während Erika keinen Wert auf Markenkleidung legte, achtete Iris sehr darauf. Erika stand über solchen Äußerlichkeiten, sie opponierte sogar gegen diese Abhängigkeit der meisten ihrer Bekannten; für sie zählten die inneren Werte und Reklame für exklusive Labels wollte sie schon gar nicht treiben. Iris hingegen fühlte sich ohne Namensschilder quasi nackt, sie verliehen ihr eine gewisse Sicherheit, eine Zugehörigkeit und eine Stellung in der Gesellschaftsschicht.
„So etwas hast du überhaupt nicht nötig!“, hatte Erika schon öfters geurteilt, „mit deiner ausgeprägten Persönlichkeit stehst du doch eh über den Dingen. Kein Mensch wird dich aufgrund der Marken deiner Kleidung schätzen oder einschätzen, und die, die es tun, kannst du wegen ihrer Oberflächlichkeit vergessen! Worum es geht, ist dein Wesen und deine Wertvorstellungen!“
„Du hast ja recht“, gab Iris zu, „aber nun erzähl weiter von Herrn Müllers Veränderungen.“
„Du kannst dir vorstellen, dass uns daran liegt, den alten Mief aufzuwirbeln, um die Firma wieder auf Vordermann zu bringen. Ich benötigte eine neue Grundeinstellung, ein neues Konzept, einen fähigen Manager und ich bin davon überzeugt, ihn in Dr. Müller gefunden zu haben. Als erstes hat er veraltete Maschinen ausrangiert und durch modernere ersetzt, weiterhin das Produktspektrum komplett umgeändert, es verkleinert und dafür die Qualität der verbleibenden Spielsachen verbessert. Die Umwälzungen schmerzen! Nicht nur die Angestellten, diejenigen, die gehen mussten, genauso wie die, die blieben, obendrein auch mich! Das Ganze birgt ein großes Risiko: Wenn die Maßnahmen erfolglos bleiben, dann treibe ich das Geschäft in den Ruin! Ich habe großes Vertrauen zu ihm, denn mir ist klar, dass ohne Umwälzungen der Betrieb eh kaputt geht. Er hat mir aufgezählt, wie viele Konkurrenten dem Druck aus Asien nicht standhalten konnten. Es ist sozusagen nur eine Frage der Zeit, wann mich der Todesstoß trifft, wenn nicht intensiv dagegen gesteuert wird. Du weißt ja, ich bin ein pragmatischer und rationaler Mensch, d.h. ich sehe ein, dass die durchgeführten Schritte angemessen sind und unterstütze sie. Aber das Schlimmste kommt noch: Er hat die Puppenabteilung geschlossen! Die hätte ich gerne beibehalten! Gerade diese Sparte weiterzuführen, sei unmöglich, meint Herr Dr. Müller. Sie steckt schon seit Jahren in den roten Zahlen. Es sei nichts zu machen! Nur Ballast. Weg damit!, hat er vehement geäußert, und so geschah es!“
„Du siehst ja, dass er stichhaltige Argumente bringt“, warf Iris mit Empathie ein.
„Aber du kannst dir nicht vorstellen, welche Erinnerungen ich mit diesen Puppen verbinde! Und nicht nur ich allein! Wir alle in der Familie! Und nun sind die süßen Kreaturen einfach ausgemistet! Emilys Reaktion war unbeschreiblich!“
Erika hatte zwei Kinder, Emily und Eduard. Beide waren vollauf beschäftigt mit ihren Berufen, ihren Familien, ihrem jeweiligen Nachwuchs. Obendrein lebten sie in weiter Entfernung, standen also nicht als Hilfestellung für die Fabrikleitung zur Verfügung.
„Erzähl doch, wie Emily reagierte!“, fragte Iris nach.
„Als sie die Nachricht erfuhr, war sie außer sich vor Wut. Wie ich das bloß zulassen konnte? Dabei hatte sie doch in den letzten Jahren die Kleidchen entworfen und sie waren bei den Käufern gut angekommen! Sie würde die Muster weiterhin unentgeltlich liefern. Hatte ich denn kein Herz mehr? Die Puppenherstellung sei doch stets das Hauptmerkmal der Firma gewesen und jetzt einfach aufgeben, wegwerfen, zerstören, vernichten, was der Stolz der Familie über Jahrzehnte bedeutet hatte? Sie war nicht zu beruhigen. Sie wollte den Entschluss rückgängig gemacht wissen oder zumindest über die Möglichkeit der Wiedereinführung der Puppenproduktion diskutieren. Herr Dr. Müller sah aber für die kommenden Jahre keinerlei Aussichten dafür, denn der Markt sei doch auf diesem Gebiet fest in fernöstlichen Händen, wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen!“
„Das muss Emily doch einsehen und Herrn Müllers Entscheidung begrüßen!“, meinte Iris.
„Tja, das sollte man annehmen! Aber dem ist nicht so! Sie hat die Logik ausgeschaltet. Als ich versuchte, ihr offen darzulegen, dass Herr Müller sich mit Herz und Seele einsetzt, dass er tiefgehende Recherchen durchgeführt hat, als ihr also deutlich wurde, dass ich seine Ansichten letztendlich teile, kam es zum Bruch.“
„Das ist doch nur eine Laune von ihr! Das ist gleich wieder vorbei!“, unterbrach Iris.
„Der Meinung bin ich nicht“, erwiderte Erika mit ernster Miene. „Emily fühlt sich von mir hintergangen. Sie meint, ich handele egoistisch, nähme keine Rücksicht, sei vollkommen kapitalistisch eingestellt, ginge über Leichen, begrübe die Familienidentifikation!“, sagte Erika und fuchtelte unentwegt mit den Armen in der Luft herum. „Ich täte alles nur, um meinen Verdienst zu steigern, auf den ich nicht im Geringsten angewiesen sei. Ich hätte ja genug durch meines Mannes Rente und die Lebensversicherungen. Wozu bräuchte ich überhaupt eine weitere Einnahmequelle!“
„Aber sie muss doch kapieren, dass du dies für den Erhalt des Familieneigentums tust!...