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Das Dilemma
Was bedeutet es, Christ zu sein? Auf diese Schlüsselfrage können unsere Zeitgenossen eine Vielzahl von Antworten geben. Ihre Bandbreite erstreckt sich von »ein guter Mensch sein« über »jeden Sonntag zur Kirche gehen« bis hin zur »Wiedergeburt durch die Begegnung mit meinem persönlichen Retter Jesus Christus«. Um jedoch eine maßgebliche, dauerhaft gültige Antwort zu finden, müssen wir uns den grundlegenden Schriften der Christenheit zuwenden, die uns als das Neue Testament bekannt sind. Wir wollen mehr oder weniger zufällig drei Texte herausgreifen, die unser Thema betreffen. Am Ende des Johannesevangeliums begründet der Evangelist, warum er schreibt:
Diese [Zeichen] aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen. (Joh 20,31)
Und zu Beginn des Evangeliums nach Markus geben uns die ersten Worte, die Jesus spricht, Aufschluss über die wesentliche Aussage seiner Botschaft:
Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)
Schließlich schreibt der heilige Paulus an die Frauen und Männer, die in der griechischen Stadt Korinth als Erste an Christus als den Messias glauben:
Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. (1 Kor 15,20f.)
Messias, Gottes Sohn, Reich Gottes, Auferstehung der Toten … Das sind keine vom Verstand geprägten oder abstrakt philosophischen Vorstellungen. Es handelt sich um Begriffe, die sowohl uns als auch den meisten Menschen im Laufe der Zeitgeschichte nur schwer zugänglich sind und waren. Die Ausdrücke platzieren uns unmissverständlich in die Gedankenwelt einer bestimmten Gruppe von Menschen, in ihre Zeit und an ihren Lebensort – das jüdische Volk vor ungefähr 2000 Jahren. Die oben angewandte Sprache drückt die Hoffnung Israels aus, und die Texte behaupten, dass sich eben jene Hoffnung durch das Leben eines einzelnen, bestimmten Menschen – Jesus von Nazareth – jetzt erfüllt: Der Messias ist da, das Reich Gottes ist greifbar, die Auferstehung hat begonnen. Dies ist der Kern der von den Jüngern bezeugten »Guten Nachricht«. Um die wahrhafte Bedeutung des christlichen Glaubens zu verstehen, müssen wir daher mit einer Betrachtung der Weltanschauung jenes Volkes beginnen, in dem dieser Mann geboren wurde.
Ein Volk der Hoffnung
Einer der Gründe, warum sich das winzige Volk Israel von allen anderen Nationen unterscheidet, ist zweifelsfrei seine einzigartige Vision von der Geschichte der Menschheit. Die Erzählungen davon finden sich in den heiligen Schriften, die später von den Christen als das Alte Testament bezeichnet werden. Sie beschreiben die Handlungen eines Gottes, der anders ist als alle Götter. Er ist nicht einfach nur der Gott eines einzelnen Volkes, der im Wettstreit oder Schulterschluss mit anderen, ähnlichen Göttern steht, sondern er ist der Schöpfer und Herrscher des ganzen Universums. Und der Geschichte zufolge tritt dieser Gott in eine besondere Beziehung mit Israel, um aus dem Volk ein »Königreich von Priestern« (Ex 19,6) zu machen, ein lebendiges Zeichen seiner Gegenwart im Herzen der von ihm erschaffenen Welt.
Der Gott der hebräischen Bibel war weit davon entfernt, den Menschen gleichgültig oder abgeneigt zu begegnen. Vielmehr zeigte er sich leidenschaftlich um ihr Wohl besorgt. In seinem Grundwesen war er wohlwollend, »ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Gnade und Treue« (Ex 34,6), und das von ihm geschaffene Universum war »sehr gut« (Gen 1,31).
Es ist keine große Einsicht vonnöten, um das Dilemma zu erkennen, das in dieser Sichtweise ihren Ursprung nimmt. Die Welt, die wir wahrnehmen und in der wir tagtäglich leben, scheint mit dieser Beschreibung ihres Schöpfers und seinen Absichten nicht übereinzustimmen. Das ist keine neue Entdeckung. Schon frühzeitig nahmen die Menschen die offensichtliche Unvereinbarkeit wahr, die zwischen einem guten Gott und einer nicht immer guten Welt bestand. Die Vorstellung von einem mächtigen und dafür weniger wohlwollenden Gott, oder anders ausgedrückt, das Bild eines wohlwollenden Gottes, dessen Macht beschränkt ist, scheint jeweils besser auf unsere Welt zuzutreffen als das Bild, das uns die Bibel von der Göttlichkeit gibt.
Für diese scheinbare Unvereinbarkeit zwischen einem allmächtigen und liebenden Gott und einer alles andere als perfekten Welt wurden verschiedene Lösungsansätze entwickelt. Bleiben wir auf einer rein spekulativen Ebene, dann ist keiner von ihnen vollauf befriedigend. Der allgemein bekannte Versuch, das Problem anzugehen, stellt die Wahlfreiheit des Menschen in den Mittelpunkt. Um sein Universum auszufüllen, ist Gott das Risiko eingegangen, Wesen zu erschaffen, deren Verhalten nicht im Voraus bestimmt ist. Die Menschen sind mit einem Verstand und mit einem Willen ausgestattet; sie versuchen, die Welt zu verstehen und daraus folgend zu handeln. Daher können sie sich irren oder sich aufgrund ihrer begrenzten Sicht sogar auf eine Weise benehmen, die zwar ihnen, nicht aber den Menschen und ihrem Umfeld nützt. Das von Gott eingegangene Risiko birgt in sich einen Verzicht: Gott will das Universum und die menschliche Gesellschaft nicht durch einen eigenmächtigen Entschluss auf die bestmögliche Weise leiten. Die göttliche Macht will vielmehr die Wahlfreiheit des Menschen respektieren. Daher ist Gott gezwungen, einen Weg zu finden, auf dem die Freiheit des Handelnden nicht aufgehoben, sondern so erhellt wird, dass der Mensch dem bestmöglichen Weg folgt.
Natürlich berücksichtigt die Bibel die Vorstellung von der menschlichen Freiheit. Sie tut dies allerdings nicht zuerst, um eine Rechtfertigung dafür zu liefern, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Sie erkennt sie eher als Teil des Problems. Wir suchen in der Bibel vergebens nach einer befriedigenden, intellektuellen Erklärung für den anscheinenden Gegensatz zwischen der Güte des Schöpfers und dem Zustand der erschaffenen Welt. Stattdessen finden wir eine mögliche Lösung: Die Bibel ist darum bemüht, uns eine Hoffnung zu schenken und diese zu umschreiben.
Diese Hoffnung kommt bereits auf den ersten Seiten der hebräischen Schriften zum Vorschein. Wenn die Bibel in ihrer Grundaussage die Geschichte von Gottes liebender Beziehung zu der von ihm geschaffenen Welt ist, dienen die ersten elf Kapitel des Buches Genesis als eine die Dramatik aufbauende Vorgeschichte. Sie erzählen eine Geschichte, die uns erklärt, weshalb die beschriebene Beziehung so problematisch ist und nur mit der Zeit aufgearbeitet werden kann. Wir entdecken ein Universum, das in sich gut und zugleich beschädigt ist, weil der Mensch dazu neigt, nicht in Übereinstimmung mit dem Weitblick des Schöpfers, sondern aus seinem eigenen, begrenzten Blickwinkel heraus zu handeln. Nichtsdestotrotz versichert uns die Bibel, dass weder das menschliche Fehlverhalten noch seine Ichbezogenheit dazu in der Lage sind, die guten und schöpferischen Absichten Gottes außer Kraft zu setzen. Selbst im äußersten Fall findet Gott noch immer einen rechtschaffenen Mann. Es ist Noah und die Geschichte von der großen Flut in Genesis 6 – 9, in der Gott es scheinbar bereut, die Menschheit überhaupt geschaffen zu haben. Durch diese eine Person und deren Familie kann alles einen neuen Anfang nehmen.
Gott ist quasi dazu in der Lage, den menschlichen Fehler in Gutes zu wandeln. Der Versuch, in Babel einen Turm zu bauen, der bis in den Himmel reicht (Gen 11), führt zur Verschiedenheit der Sprachen, durch die die Menschheit getrennt und zerstreut wird. Gleichzeitig und glücklicherweise folgt aus diesem vermeintlichen Fehler aber auch, dass die Erde bevölkert und ein Weg hin zu einer Einheit bereitet wird, die sich nicht in der Gleichförmigkeit ausdrückt, sondern in der Versöhnung der Unterschiede, die in einer umfassenden Einheit bewahrt bleiben.
Im 12. Kapitel des Buches Genesis findet sich der Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte an sich. Im dort beginnenden Bericht von Abraham erscheint das Thema der Hoffnung bereits als Leitmotiv der biblischen Erzählung. Es wird durch ein anderes, ihm verwandtes Motiv ausgedrückt, dem Motiv der Verheißung. Der unbekannte Gott, der eines Tages in das Leben des Patriarchen eintritt, kommt nicht, um ihn zu warnen oder zu verdammen, sondern mit der Verheißung eines Segens, der Verkündigung eines größeren Lebens. Und dieses Versprechen betrifft nicht nur ihn, sondern auch seine Nachkommen und, durch sie, die ganze Menschheit:
Der Herr sprach zu Abraham: Ziehe fort aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen; du sollst ein Segen sein. Ich werde segnen, die dich segnen, und die dich verwünschen, werde ich verfluchen! Durch dich sollen gesegnet sein alle Generationen der Erde. (Gen 12,1–3)
Die Verheißung von einem größeren Leben wird die treibende Kraft der Geschichte, und dies nicht nur im Buch Genesis, sondern in der gesamten hebräischen Bibel. In den folgenden Büchern wird sie durch politische Befreiungen und die Schenkung eines Landes dargestellt, aber sie erschöpft sich nie in einem bestimmten Handeln des göttlichen Wohlwollens. Stets reicht sie über sich selbst hinaus.
Es ist nicht immer einfach, einen zeitlichen Ablauf der biblischen Geschehnisse herauszuarbeiten, denn die Endfassungen einer...