Mythos Tomate
Es klingt einleuchtend: »Obst und Gemüse aus heimischem Anbau ist frisch, gesund und schont durch die kürzeren Transportwege die Umwelt.« Mit diesem Satz gab vor einigen Jahren die damalige deutsche Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner den Startschuss für die Kampagne »Einfach naheliegend« der Bundesvereinigung der Erzeugerorganisationen Obst und Gemüse (BVEO).
Ganz so einfach ist die Welt allerdings nicht.
Gewiss: Eine Tomate ist gesund, wenn man dafür einen Riegel Schokolade liegen lässt. Aber ist sie daher automatisch heilsam, wie oft angenommen wird? Und sind Tomaten frischer, wenn sie aus Bayern nach Berlin reisen anstatt aus dem holländischen Grenzort Venlo? Wie frisch sind regionale Äpfel, die über viele Monate in gekühlten »Frischhaltelagern« liegen? Sind kurze Transportwege wirklich gut für die Umwelt, auch wenn die Produkte dafür in beheizten Gewächshäusern wachsen? Sind Qualität und Sicherheit garantiert, nur weil die Erzeuger in Deutschland sitzen?
Auf der Grünen Woche, der jährlichen Landwirtschaftsausstellung in Berlin, wird wie selbstverständlich damit geworben, dass deutsche Tomaten »frisch wie aus dem eigenen Garten« seien. Die Betonung liegt dabei auf dem »wie«, denn die für den Handel bestimmten Tomaten wachsen ja im Gewächshaus, auch in Deutschland und in Österreich. Aber auf den Werbebildern sucht man solche Stahl-und-Glas-Skelette vergebens, dort sind romantische Gärten und grüne Wiesen abgebildet. Niederländische Tomaten dagegen gelten gemeinhin als Industrieprodukte. Liebe Deutsche, habt ihr etwa Tomaten auf den Augen?
Es ist aufschlussreich, dass in einer Auflistung von sechzehn Sorten deutschen Gemüses auf der Internetseite der BVEO ausgerechnet die Tomate fehlt. Man findet sie auch nicht versehentlich unter »Obst«, sondern erst beim Weiterklicken unter dem Stichwort »Rezepte«. Dort wird vermeldet, dass die Tomate das meist gegessene Frischgemüse in Deutschland ist. Warum also fehlt sie auf der Liste? Vermutlich weil für deutsche Erzeuger mit deutschen Tomaten nur wenig zu verdienen ist. Denn es gibt sie kaum; nur etwa jede zwanzigste verkaufte Tomate kommt aus Deutschland.
Nationale Tomaten?
Die Tomate gehört in vielen Ländern der Welt zu den beliebtesten Gemüsesorten überhaupt. Im deutschsprachigen Raum kochen die Emotionen um sie allerdings besonders hoch. Viele fürchten sich hier zum Beispiel vor der »Gentomate«. Aber gibt es die überhaupt? Wo hört die Wahrheit auf und wo fängt die Fiktion an?
Ein Mythos, dem man häufig begegnet, ist der von der »nationalen Tomate«. Die Tomate aus heimischem Anbau ist nicht nur in Deutschland und Österreich heiß begehrt, sondern zum Beispiel auch in Polen, England und Rumänien. Das Saatgut für die in all diesen Ländern angebauten Tomaten wird aber sehr oft in Holland veredelt, also hergestellt. Diese Tatsache ist kaum bekannt, vielleicht auch deswegen, weil die Holländer jedem Kunden gern die Idee von seiner »einheimischen« Tomate gönnen. Früher, in ihren Kolonien, haben sie schließlich gelernt, dass es profitabel ist, so zu tun, als ob die Dorfältesten das Sagen haben, während man selbst im Hintergrund die Fäden zieht.
Wer, wie ich, in Den Haag am Rande der Gewächshauslandschaft des Westlands (der »Gläsernen Stadt«) aufgewachsen ist, kommt gar nicht auf die Idee, die Massen der von dort stammenden Tomaten als eine nationale oder gar lokale Errungenschaft zu betrachten. Nicht weil sie von schlechter Qualität wären, oder weil die meisten davon nach Deutschland exportiert werden. Nein, sondern weil wir wissen, dass der Geschmack einer Tomate vor allem durch ihre Rasse bestimmt wird, egal wo sie wächst. Dabei sollte sie am besten in einem geschützten Glasgewächshaus angebaut werden, so wie sie die Holländer gerne überall auf der Welt errichten. Das ist nicht nur schlauer Handelsgeist: Je mehr Hightech beim Anbau eingesetzt wird, umso weniger Mittel gegen Schädlinge braucht eine Tomate. Dies ist eins der vielen Paradoxe, die in diesem Buch zu Tage treten.
Die Holländer sind für ihren gesunden Pragmatismus oder, wenn man will, üblen Zynismus in Sachen Lebensmittel bekannt. Als Handelsnation kennen die Niederlande seit Jahrhunderten weniger Angst vor dem Unbekannten als der Durchschnitts-Europäer. Das heißt, wenigstens bis vor kurzem war das der Fall. Denn »das Fremde«, ja selbst »Europa«, sind auch in Holland inzwischen zu eher negativ geprägten Begriffen geworden. Und dass, obwohl wir Niederländer doch immer waschechte Europäer waren, und sei es nur, weil keine andere Nation mit ihren Agrarprodukten so stark von den offenen Märkten profitiert hat.
Die Niederlande sind, gemessen am Warenwert, (Vize-)Weltmeister beim Export frischer Tomaten. Wie das Land dies erreichen konnte, obwohl zum Beispiel Spanien und Italien sehr viel mehr Tomaten produzieren, gehört zu den Geheimnissen, die in diesem Buch gelüftet werden. Gleiches gilt für die Frage, warum die europäischen Gartenbausubventionen vor allem nach Holland fließen, während rumänische und ungarische Kleinbauern kaum davon profitieren.
Regionalgeschichten
Als ich für mein letztes Buchprojekt in Ungarn und Rumänien unterwegs war, stieß ich auf ein merkwürdiges Phänomen: Obwohl diese Länder von heißen Sommern und einer langen Landwirtschaftstradition geprägt sind, wurden dort in den Supermärkten und auf den Wochenmärkten massenhaft niederländische Tomaten und Paprikas angeboten. Selbst im Sommer waren sie häufig sogar billiger als das einheimische Saisongemüse. Da fingen die Recherchen zu diesem Buch an. Ich fragte mich zum ersten Mal, nach welchen Regeln die bizarre Welt des Frischgemüses wohl funktioniert. Wieso reisen Millionen nahezu identische Tomaten kreuz und quer durch Europa?
Neben der spanischen ist es vor allem die niederländische Tomate, die sich durch Europa bewegt – frisch oder als Saatgut, und dann teilweise unter den Firmennamen von Bayer oder Monsanto. Auch ins Oderbruch, eine Region ganz im Osten des Landes Brandenburg, reist sie. Um 1900 ging eine holländische Gartenbaufamilie ihr dorthin voran. Mit ihrer Geschichte, der Geschichte des niederländisch-deutsch-ungarischen Geschlechts Kosdi-van Spronsen, beginnt dieses Buch. Die Familie erlebte das turbulente 20. Jahrhundert im Oderbruch, im Osten Ungarns und in Holland. Ihre Geschichte bietet der Tomate einen historischen, geografischen und politischen Kontext. Wer sich fragt, ob das, was damals galt, auch heute noch gültig ist, und ob das, was für Tomaten gilt, auch für Gurken und Paprikas oder gar für Äpfel zutrifft, findet hier Antworten.
Diese grenzüberschreitende Gärtnergeschichte reicht bis in die Gegenwart. So fragt sich der Oderbruch-Bewohner Frank Schütz, der eine wichtige Rolle darin spielt, wieso die nahe Großstadt Berlin heute mit weniger Frischwaren aus der Region versorgt wird als früher, obwohl doch regionales Obst und Gemüse so gefragt sind. Vier Fünftel der Deutschen sind laut Umfragen sogar bereit mehr Geld zu bezahlen für Tomaten »von hier«. Wie kann es überhaupt sein, dass frische Produkte, die in der eigenen Region wachsen, teurer sind als jene, die von weit her kommen? Die Antwort ist ernüchternd, und hat in diesem Fall viel mit dem Strukturwandel in der ehemaligen DDR zu tun.
Viele Deutsche und Österreicher haben auf die Frage, warum ausgerechnet die Tomaten aus den Niederlanden oft billiger sind als die einheimischen, eine schnelle Antwort parat, die fast immer gleich lautet. Besonders drastisch formuliert hörte ich sie in Wien, wo ich 2013 im Rahmen meiner Recherchen ein Visiting Fellowship am Institut für die Wissenschaften vom Menschen innehatte: »Aber Annemieke, das liegt doch daran, dass die Tomaten, die ihr um die Welt schickt, so beschissen schmecken!«
Ja, ich bin Niederländerin. Und nein, ich will kein Werbebuch für holländische Tomaten schreiben, nicht einmal für Tomaten an sich, egal woher sie stammen. Aber diese Antwort ist wirklich etwas zu kurz gegriffen. Ich kontere daher meistens provozierend: »Die Holländer exportieren alle möglichen Sorten von Tomaten, sehr aromatische ebenso wie geschmacklose. Es kommt darauf an, was ihr Deutschen und Österreicher bezahlen wollt.« Als Niederländerin hat man bei diesem Thema schließlich eine gewisse Narrenfreiheit. Die Wirklichkeit ist allerdings komplexer, wie schon die Oderbruch-Geschichte verdeutlichen wird.
Menschen im Mittelpunkt
Etwa sieben Jahre habe ich gebraucht, um den europäischen Frischgemüsehandel vom Samen bis zum Supermarkt – also von der Geburt der Tomate bis zu ihrem Ende auf dem Teller – einigermaßen zu begreifen. Dazu habe ich einem Dutzend ost- und westeuropäischer Staaten recherchiert. Vor Ort habe ich mit den unterschiedlichsten Akteuren der Tomatenbranche gesprochen: mit Züchtern und Zeitarbeitern, mit Saatveredlern und Öko-Aktivisten, mit Gewächshausbauern und Geschmackstestern, mit Händlern und Transporteuren, mit Biologen und Gentechnikern, mit Politikern und Patentspezialisten, mit Ethikern und Lobbyisten, Verkäufern und Verbrauchern. Ich habe mich umgeschaut und viel gelesen, nicht an erster Stelle Bücher, sondern hunderte von Websites, Studien und Berichten. Und ja, auch probiert habe ich. Ich lasse mich beim Testen von Tomaten allerdings genauso verführen wie alle anderen. In einem...