Kapitel 1 Out of Österreich
Ich wurde in einem Hungerjahr geboren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Österreich 1947 von den vier Siegermächten besetzt. Im Mai, zwei Monate vor meiner Geburt, kam es in Wien zu Hungerrevolten. Auch in der Steiermark, wo wir lebten, war die Not groß, überall fehlte es an Lebensmitteln. Wenn meine Mutter mich daran erinnern wollte, wie viel sie und mein Vater für mich geopfert hatten, erzählte sie noch Jahre später, wie sie von Hof zu Hof gezogen war und um ein bisschen Butter, Zucker oder Getreide gebettelt hatte. Manchmal war sie drei Tage lang unterwegs auf »Hamsterfahrt«, wie das damals hieß.
Unser Wohnort, Thal, war ein typisches Bauerndorf. Die Einwohner zählten nur ein paar hundert Familien. Ihre Häuser und Höfe standen in mehreren Weilern zusammen, die durch Pfade und Feldwege miteinander verbunden waren. Die ungepflasterte Hauptstraße zog sich über mehrere Kilometer die Berge hinauf und hinunter, gesäumt von Feldern und Nadelwäldern.
Die für unsere Region, die Steiermark, zuständige britische Besatzungsmacht sahen wir nur selten – gelegentlich fuhr ein Lastwagen mit Soldaten vorbei. Doch das im Osten angrenzende Burgenland stand unter sowjetischer Herrschaft, was uns allen sehr bewusst war. Es war der Beginn des Kalten Krieges, und die Menschen lebten in der ständigen Angst, eines Tages könnten russische Panzer anrollen und ganz Österreich würde von der Sowjetunion besetzt werden. In der Kirche versetzten die Priester die Gemeinde in Angst und Schrecken mit Horrorgeschichten über Russen, die Babys in den Armen ihrer Mutter erschossen.
Unser Haus lag auf einer Anhöhe direkt an der Straße, doch in meiner Kindheit war es schon ungewöhnlich, wenn mehr als zwei Autos am Tag vorbeifuhren. Gleich gegenüber befand sich eine alte Burgruine, nur hundert Meter von unserer Haustür entfernt.
Auf der nächsten Anhöhe lagen das Rathaus, die katholische Kirche, wo wir auf Drängen meiner Mutter jeden Sonntag die Messe besuchten, das Dorfgasthaus als Mittelpunkt des dörflichen Lebens und die Volksschule, die mein ein Jahr älterer Bruder Meinhard und ich besuchten.
Meine frühesten Erinnerungen sind die an meine Mutter, die Kleider wäscht, und an meinen Vater, der Kohle schaufelt. Ich war noch keine drei Jahre alt, doch das Bild meines Vaters steht mir noch immer klar vor Augen. Er war ein großer, athletisch gebauter Mann und machte vieles selbst. Wenn im Herbst unser Kohlevorrat für den Winter angeliefert wurde, durften Meinhard und ich ihm helfen, die Kohle in den Keller zu schaffen. Wir waren immer sehr stolz, wenn wir ihm zur Hand gehen durften.
Mein Vater und meine Mutter stammten beide aus Arbeiterfamilien, die ursprünglich in Nordösterreich gelebt hatten und dort in der Stahlindustrie tätig gewesen waren. Die beiden lernten sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in Mürzzuschlag kennen, wo meine Mutter, Aurelia Jadrny, bei der städtischen Lebensmittelverteilung arbeitete. Sie war gerade einmal zwanzig Jahre und bereits Kriegswitwe – ihr Mann war acht Monate nach der Hochzeit gefallen. Eines Morgens bei der Arbeit am Schalter fiel ihr draußen auf der Straße mein Vater auf – älter als sie, Ende dreißig, aber großgewachsen und gutaussehend. Er trug eine Gendarmenuniform, und da meine Mutter verrückt nach Männern in Uniform war, hielt sie von nun an immer Ausschau nach ihm. Sie fand heraus, wann er Dienst hatte, und sorgte dafür, dass sie dann am Schalter stand. Sie unterhielten sich durchs offene Fenster, und sie gab ihm etwas von den Lebensmitteln, die gerade verfügbar waren.
Er hieß Gustav Schwarzenegger. Die beiden heirateten Ende 1945. Er war achtunddreißig und sie einundzwanzig Jahre alt. Mein Vater wurde nach Thal versetzt und erhielt das Kommando über den örtlichen Gendarmerieposten mit vier Mann, der für das Dorf und die Umgebung zuständig war. Vom Gehalt konnte man kaum leben, doch zu dem Posten gehörte immerhin auch eine Dienstwohnung im alten Forsthaus. Der Förster wohnte im Parterre und der Gendarmerie-Kommandant mit seiner Familie im ersten Stockwerk.
Das Haus meiner Kindheit war ein schlichter Bau aus Ziegel- und Naturstein, recht geräumig, mit dicken Mauern und kleinen Fenstern, um die winterliche Kälte der Alpen draußen zu halten. Wir hatten zwei Schlafzimmer, in denen es sogar einen Kohleofen gab, und eine Küche, in der wir aßen, Hausaufgaben machten, uns wuschen und spielten. Beheizt wurde die Küche durch den Herd.
Wir hatten keinen Wasseranschluss, geschweige denn eine Dusche oder eine Toilette mit Wasserspülung, nur eine Art Nachttopf. Der nächste Brunnen war mehrere hundert Meter entfernt, doch einer von uns Brüdern musste dort Wasser holen, selbst wenn es heftig regnete oder schneite. Entsprechend sparsam gingen wir mit dem Wasser um. Es wurde auf dem Holzherd heiß gemacht und in einen Zuber gegeben, in dem wir uns mit einem Schwamm oder Waschlappen wuschen – zuerst meine Mutter mit dem noch sauberen Wasser, dann mein Vater, und am Schluss waren Meinhard und ich an der Reihe. Uns machte es nichts aus, wenn das Wasser schon ein bisschen trüb war, solange uns dafür der Gang zum Brunnen erspart blieb.
Wir hatten einfache Holzmöbel, aber immerhin elektrische Beleuchtung. Mein Vater hatte eine Vorliebe für Bilder und Antiquitäten, aber als wir Kinder waren, konnten wir uns solchen Luxus nicht leisten. Zu unserer Unterhaltung hatten wir Musik. Meine Mutter spielte Zither und sang uns Volkslieder vor, doch der eigentliche Musiker in der Familie war mein Vater. Er konnte alle möglichen Blasinstrumente spielen – Trompete, Flügelhorn, Saxophon und Klarinette. Er komponierte auch selbst und leitete die Gendarmeriekapelle. Wenn in der Steiermark ein Polizist starb, spielte die Kapelle bei seiner Beerdigung. Im Sommer gingen wir sonntags oft in den Park, wo mein Vater dirigierte oder manchmal auch selbst spielte. In seiner Familie waren fast alle musikalisch – eine Begabung, die weder Meinhard noch ich von ihm geerbt haben.
Als Haustiere hatten wir Katzen. Ich weiß nicht, warum wir keine Hunde hatten – vielleicht, weil meine Mutter Katzen liebte und weil sie sich ihr Futter selbst beschafften und deshalb nichts kosteten. Wir hatten immer mehrere Katzen, die bei uns ein und aus gingen, ihr Schläfchen hielten, wo es ihnen gerade gefiel, oder halbtote Mäuse vom Dachboden brachten, um zu zeigen, was für großartige Jäger sie waren. Jeder in der Familie hatte seine Katze, die bei ihm im Bett schlafen durfte – das war bei uns Tradition. Einmal hatten wir sieben Katzen. Wir liebten die Katzen, wussten aber, dass wir unser Herz nicht allzu sehr an ein Tier hängen durften, denn damals ging man mit einer Katze nicht zum Tierarzt. Wenn eine Katze zu alt war oder krank und nicht mehr richtig laufen konnte, kümmerte sich mein Vater darum. Wir warteten dann, bis wir hinten aus dem Garten einen Schuss hörten – die Pistole meines Vaters. Anschließend gingen meine Mutter, Meinhard und ich nach draußen und richteten ein Grab her mit einem kleinen Kreuz darauf.
Meine Mutter hatte eine schwarze Katze namens Muki, von der sie immer behauptete, sie sei etwas ganz Besonderes, obwohl keiner von uns hätten sagen können, warum. Eines Tages, ich war damals vielleicht zehn, stritt ich mit meiner Mutter, weil ich meine Hausaufgaben nicht machen wollte. Muki lag wie immer gemütlich auf dem Sofa. Ich muss etwas wirklich Freches gesagt haben, denn plötzlich holte meine Mutter aus und wollte mir eine Ohrfeige geben. Ich versuchte, sie abzuwehren, und traf sie dabei mit dem Unterarm. Wie ein Blitz sprang Muki vom Sofa, ging auf mich los und krallte sich in meinem Gesicht fest. Ich schrie laut auf: »Au! Was soll das?«, und zog sie von mir weg. Meine Mutter und ich sahen uns an und fingen an zu lachen, obwohl mir Blut von der Wange tropfte. Damit war eindeutig bewiesen, dass Muki etwas Besonderes war.
Nach den Schrecken des Krieges war unseren Eltern sehr daran gelegen, dass wir in sicheren und stabilen Verhältnissen aufwuchsen. Meine Mutter war eine große, kräftig gebaute Frau, die praktisch dachte und sich stets zu helfen wusste. Sie war eine Hausfrau im traditionellen Sinn, die unser Heim makellos sauber hielt. Regelmäßig rollte sie die Teppiche zusammen und schrubbte auf Händen und Knien den Dielenboden mit Bürste und Seife, um ihn anschließend mit Lumpen trocken zu reiben. Sie achtete peinlich genau darauf, dass unsere Kleidung ordentlich im Schrank hing und dass Bettwäsche und Handtücher sorgfältig zusammengelegt waren, mit messerscharfen Kanten. Im Garten hatte sie Rüben, Kartoffeln und Beeren für uns gepflanzt, und im Herbst kochte sie Gemüse und Sauerkraut in dicken Gläsern für den Winter ein.
Wenn mein Vater um halb eins von der Wache nach Hause kam, hatte meine Mutter das Mittagessen fertig, und das Abendessen stand pünktlich um sechs auf dem Tisch. Die Verwaltung der Haushaltskasse war ebenfalls ihre Aufgabe. Als Büroangestellte war sie an Verwaltungsabläufe gewöhnt und konnte gut rechnen und schreiben. Wenn mein Vater seinen Lohn nach Hause brachte, gab sie ihm 500 Schilling als Taschengeld und behielt den Rest für den Haushalt ein. Sie kümmerte sich um den gesamten Schriftverkehr und bezahlte die monatlichen Rechnungen. Einmal im Jahr, im Dezember, ging sie mit uns Kleider kaufen. Wir fuhren mit dem Bus ins nahegelegene Graz und gingen ins Kaufhaus Kastner & Öhler. Das alte Gebäude hatte nur zwei oder drei Etagen, doch für uns war es so groß wie die Mall of America. Es gab dort Rolltreppen und einen Aufzug aus Metall und Glas, von dem aus wir alles sehen konnten. Meine Mutter kaufte nur das absolut Notwendige – Hemden, Unterwäsche, Socken und so weiter....