Vorlauf
Noch nie war ich so aufgeregt vor einem Lauf wie vor diesem – knapp achthundertsiebzig Kilometer über die Pyrenäen. Und das nonstop in vierhundert Stunden, rund sechzehn Tagen. Die TransPyrenea war die größte Herausforderung meiner Laufbahn. Ich war bestens vorbereitet und hatte ausnahmsweise sogar gezielt trainiert. Normalerweise mache ich keine Trainingspläne. Ich laufe einfach, weil es auch so begann: Eines Tages lief ich einfach los im Schwarzwald und dann immer länger, immer weiter, und auf einmal war ich im Extremsport gelandet. Das hatte ich mir nicht vorgenommen, es lief wie von selbst. Weil mich das Laufen glücklich macht; die Grenzen, die ich überwinde, die Natur, die ich durchquere. Es ist ein bisschen so, als würde ich die Landschaften durch die extremen Bedingungen noch intensiver erfahren.
Bei der TransPyrenea würde ich allerdings häufig auf mein GPS blicken müssen. Es gab keine klare Route, den Weg zum Ziel musste ich mir selbst erarbeiten. Allein das Kartenmaterial nahm ausgelegt zwanzig Meter ein. Ich konnte mich aber nicht darauf verlassen, ideale Wetterbedingungen zum Navigieren per Karte vorzufinden. Was machst du bei einem Sturm, bei peitschendem Regen in der Dunkelheit? Da hilft dir das beste Kartenmaterial keinen Schritt weiter. Also GPS, wie es mittlerweile bei manchen Läufen Pflicht ist. Gerade in der Wüste, umgeben von Dünen, die alle gleich aussehen, hängt das Leben nicht am seidenen Faden, sondern am Leitstrahl. Da überprüft man seine Ersatzbatterien nicht bloß dreimal, eher sechsmal.
Ich bin ja noch ein bisschen »old-school«. Nach Karte zu laufen macht einen zusätzlichen Reiz für mich aus. Keine Markierungen, keine Streckenposten, die mir die Richtung weisen. Diese unglaubliche Stille, lediglich durchbrochen von meinem Atem und den Füßen auf der Erde. Erde! Die kann so unterschiedlich sein. Manchmal hart, dann moosweich, glatt, geröllig, steil, sandig, gefährlich, glitschig, felsig. Zuweilen brauchen die Füße Unterstützung von den Händen; es gibt Passagen, die sind nur auf allen vieren zu bewältigen. Oder mit Beinen, die bis zu den Schenkeln im Matsch stecken. Vor allem in der Wüste braucht es stellenweise sogar kräftigen Armeinsatz, denn um die hohen Sandberge zu erklimmen, muss man die Hände mit ausgestreckten Fingern regelrecht in die Dünen hauen.
Pro Jahr absolviere ich drei bis vier große Läufe und zusätzlich den 24-Stunden-Lauf für Kinderrechte in Freiburg, bei dem ich im Schnitt einhundertvierzig Kilometer erreiche. Da meine Läufe so kräftezehrend sind, trainiere ich nicht täglich, zumal ich »nebenbei« noch Vollzeit berufstätig bin, denn ich leite das deutsche Büro einer indischen Softwarefirma. Am Wochenende bin ich zuweilen acht Stunden auf meinen Läuferinnenbeinen. Dieses Training bringt mir wirklich etwas. Eine Stunde joggen am Morgen, darauf verzichte ich, da ich sozusagen in einer anderen Dimension laufe. Das heißt allerdings nicht, dass ich werktags ruhe, ganz im Gegenteil: Alltagstraining hat einen hohen Stellenwert bei mir, jedoch nicht, um meine Fitness zu steigern, sondern um ein gewisses Grundlevel zu bewahren. So nutze ich jede Gelegenheit, um mich zu bewegen. Rolltreppen und Fahrstühle ignoriere ich aus Prinzip.
Neulich erlebte ich wieder einen Klassiker: In einem Hotel, in dem ich zu einem Meeting verabredet war, fragte ich am Empfang nach der Treppe. Ein livrierter Mitarbeiter geleitete mich zu den Fahrstühlen. Als ich abermals um den Weg zur Treppe bat, schaute er mich an, als sei ich ein bisschen merkwürdig. Immerhin lagen neun Stockwerke vor mir. Und ich hatte eine große Tasche dabei, auf die der Mann dann auch deutete, kummervoll geradezu. Was für mich eine Freude ist, hätte für ihn eine Strafe bedeutet.
Bei solchen Begegnungen grinse ich meist in mich hinein. Ich finde es meinerseits ein bisschen verrückt, wenn Leute, die sehr wohl die Gelegenheit dazu hätten, sich den ganzen Tag nicht bewegen, an ihrem Arbeitsplatz nur den Lift benutzen, mit dem Auto auch Kurzstrecken fahren, aber abends in der Muckibude sporteln. Das wäre für mich Zeitverschwendung; ich kann das doch alles miteinander verbinden.
Gerade die Bewegung draußen macht mir unglaublich viel Spaß. Was man da alles mitkriegt! Das hat eine völlig andere Erlebnisdichte als auf dem Laufband im Fitnessstudio. Ich glaube, dass viele Menschen gar nicht mehr darüber nachdenken, sie wählen automatisch den komfortabelsten Weg, als gäbe es keine Alternative. Dabei fängt das Abenteuer gerade dann an, wenn man die Komfortzone verlässt. Man muss einfach nur beginnen – womit auch immer. Dann verpasst man auch nichts, ganz im Sinne des Journalisten Norman Cousins: »Der Tod ist nicht der größte Verlust im Leben. Der größte Verlust ist das, was in uns stirbt, während wir leben.«
Ich habe keinen Führerschein und wohne ein Stück außerhalb von Freiburg. Wenn ich in die Stadt will, nehme ich nicht den bequemsten Weg – Bus, Fahrrad, kürzeste Gehstrecke –, sondern suche mir den schwierigsten aus. Auf der einen Seite den Hausberg Roßkopf hinauf, auf der anderen Seite hinunter nach Ebnet. Das dauert dann nicht zwanzig Minuten wie mit dem Bus, sondern hundertzwanzig. Dafür komme ich schwungvoll an. Laufen macht gute Laune.
»Und was machst du, wenn du verschwitzt bei einem Termin auftauchst?«, werde ich manchmal gefragt. Nun, so schnell komme ich nicht ins Schwitzen. Ich bin ja keine Sprinterin, sondern eine Langstreckenläuferin. Und außerdem gibt es Rucksäcke, in die man Wechselklamotten stecken kann, ebenso wie High Heels. Vor einer Besprechung tausche ich dann die Laufschuhe gegen die Riemchensandaletten. Zu empfehlen sind ferner strategisch verteilte Bekannte. In Freiburg und Umgebung habe ich mittlerweile eine Reihe von Duschmöglichkeiten, falls ich doch mal ins Schwitzen geraten sollte und danach ein Geschäftstermin ansteht.
Als ich mich vor rund zehn Jahren zum ersten Mal auf einen Extremlauf vorbereitete, lief ich jeden Tag eine Distanz meines Arbeitswegs, achtzehn Kilometer. Mal zu Fuß in die Arbeit, mal nach Hause, im Rucksack stets die Wechselklamotten. Neben dem Firmensitz befand sich eine Polizeidienststelle, dort durfte ich freundlicherweise duschen und mich umziehen. Fremdduschen ist witzig, normalerweise kommt man ja nicht auf die Idee, bei Fremden oder Bekannten zu fragen, ob man deren Bad benutzen könne. Selbstverständlich habe ich stets ein Handtuch dabei. So autark wie möglich, das ist mein Motto. Zur Not tun’s auch Feuchttücher oder Babywaschlappen, die haben sich selbst in der Wüste bewährt! Nicht jede Frau, die im Drogeriemarkt vor den Babypflegeprodukten steht, verwendet diese laut Herstellerangaben!
Es freut mich, wenn ich in meinen Alltag viel Bewegung integrieren kann. Sollte ich mal mehr zu tragen haben, umso besser, das erhöht den Trainingseffekt, denn bei meinen Läufen schleppe ich auch alles, was ich benötige, auf dem Rücken. Da gibt es keinen Service, der das Gepäck von Camp zu Camp fährt, ja, oft gibt es nicht mal ein Camp, weil ich mein Lager spontan aufschlage, wenn ich wirklich eine Pause brauche. Zwischen dem Gefühl, eine Pause zu benötigen, und dem Moment, in dem man wirklich eine Pause braucht, liegen manchmal Dutzende von Kilometern.
In Freiburg werde ich öfter von netten Leuten angesprochen, wenn ich schwer bepackt durch die Stadt laufe. Warum ich nicht mit dem Bus führe? Ob sie mich mit dem Auto mitnehmen sollen? Viele von ihnen verstehen nicht, dass man freiwillig den anstrengenden Weg wählt. Ich verstehe nicht, wie man freiwillig den einfachen Weg wählen kann, weil ich dabei so viel verpassen würde. Selbst wenn ich nur vom Büro zur Bank möchte, nutze ich diese Strecke, um fit zu bleiben. Wenn mein Chef aus Indien in Deutschland ist und wir uns bei einem Termin treffen, lacht er gutmütig. Den Bewegungsdrang seiner Mitarbeiterin findet er »amazing«. So wie man sich an die Komfortzone gewöhnt, kann man sich auch an die Pfade rechts und links daneben gewöhnen, zumal sie einen an wundervolle Orte führen, die man sonst niemals gesehen hätte, ob mit oder ohne GPS.
Hinter Ultra beginnt das Extrem
Bei der TransPyrenea gehört das GPS zur Pflichtausrüstung. Erst kurz zuvor waren einige Wanderer auf der Strecke GR 10, Grand Raid, die zu großen Teilen vor mir lag, abgestürzt. Das Gelände ist steil und gefährlich, der Weg nicht gesichert, man muss vielerorts mit Steinschlag und Gerölllawinen rechnen. Nein, das war kein Spaziergang und auch kein Marathon, das war ein Lauf der Extreme.
Laut Definition beträgt die Distanz eines klassischen Marathons 42,195 Kilometer. Alles darüber hinaus wird als Ultramarathon bezeichnet, meistens Strecken zwischen fünfzig und einhundertsechzig Kilometern. Hinter Ultra beginnt das Extrem. Da bin ich zu Hause. Und deshalb war das härteste Rennen der Welt wie für mich gemacht.
Zum ersten Mal fühlte ich mich auch richtig frei, denn seit Kurzem wohnte keine meiner beiden Töchter mehr bei mir. Das ist schon ein Unterschied, ob man seinen Rucksack unter den kritischen Blicken seiner Kinder packt: »Mama, wozu brauchst du ein Schlangenbissset?«, und sich immer wieder fragt: Bin ich verantwortungslos? Was ist, wenn mir etwas zustößt? Ich will meine Kinder nicht zu Halbwaisen machen! Aber letztlich hat man das nicht in der Hand. Es kann einem überall etwas zustoßen. Ich gehe kein unnötiges Risiko ein, aber von übertriebener Vorsicht halte ich nichts.
»Du schaffst das«, sagt mein Freund vor jedem Wettkampf zu mir, und er weiß, wovon er spricht. Jürgen ist Ultraläufer, am liebsten im Gebirge. Ich bin Typ Extrem, Ausrichtung Wüste....