Kommt denn hier keiner?
Das Foyer des Seniorenheims ist hell und einladend, durch eine breite Fensterfront sieht man den bunt bepflanzten Garten. »Willkommen bei uns!«, steht auf dem Plakat am Eingang neben dem Zeitungsständer mit der Heimzeitschrift. Tüdelig – na und? heißt das Monatsblättchen. Na, die nehmen es hier offenbar mit Humor.
Wir werden gebeten, in einer Sitzecke Platz zu nehmen. Während wir warten, studiere ich die gerahmten Bilder an der Wand gegenüber. Alle leitenden Angestellten sind dort mit Foto abgebildet, daneben hängen jede Menge Zertifikate, die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung regelmäßig an alle Pflegeeinrichtungen vergeben werden. Ich sehe nur »sehr gut« in allen Bereichen, was mich in diesem Moment beruhigt. Wie diese Noten zustande kommen und dass sie ihren Zweck, Transparenz zu schaffen, nur bedingt erfüllen, werde ich erst später lernen.
All das hatte ich mir schon einmal aufmerksam angesehen, vor einem Jahr, als ich nach einer Unterkunft für meinen Vater in meiner Nähe suchte. Auf den Internetseiten der Hamburger Gesundheitsbehörde wurden unter der Rubrik »spezielle Demenzbetreuung« in meiner unmittelbaren Umgebung nur zwei Heime aufgeführt, eins davon war dieses hier. Bei der Besichtigung fiel mir neben der angenehmen Atmosphäre vor allem eins auf: Es roch nirgendwo nach Urin. Und das ist in einem Altersheim leider ganz und gar nicht selbstverständlich.
»Kommt denn hier keiner?«, fragt mein Vater leicht ungehalten. Er weiß zwar nicht, wo er ist, erwartet aber, dass sich jemand um ihn kümmert. In seiner Jugend hatte man Personal: Köchin, Kindermädchen, Gärtner, Putzfrau. Die wohlhabenden Eltern machten sich selbst nicht die Finger schmutzig. Den leicht arroganten Befehlston hat er sich wohl schon als Kind angewöhnt. Der Dünkel kam immer mal durch, im Restaurant zum Beispiel rief er gern, noch bevor er sich gesetzt hatte: »Hallo? Bekommt man hier mal was zu essen?« Die Demenz hat ihn zwar sehr viel weicher und nachgiebiger werden lassen, aber ein bisschen Herrenreiter blitzt gelegentlich noch auf.
»Herzlich willkommen in unserem Haus, Herr Schniewind!«
Eine kleine, durchtrainierte Frau um die 40 hat sich neben meinen Vater gehockt. Ihre schwarz gefärbten Haare sind raspelkurz geschnitten, die Schläfen sind rasiert. Sie hat auffällig blaue Augen und einen offenen, klaren Blick. Leise, aber deutlich und freundlich spricht sie meinen Vater an und fragt, wie es ihm gehe. Er sei sicher noch müde von der langen Fahrt und brauche erst mal ein bisschen Ruhe. Sie stellt sich vor als Frau Platt, Heimleitung, und legt ihre Hand auf seinen Arm. Mein Vater lächelt. Er scheint sie sympathisch zu finden. Und das, obwohl ihre Fingernägel schwarz lackiert sind und sie einen dicken silbernen Totenkopfring am Mittelfinger trägt. Eine solche Erscheinung hätte ihn früher gleich skeptisch gemacht.
Frau Platt erklärt kurz, was jetzt auf uns zukommt: Mein Vater bekommt erst einmal ein Doppelzimmer zugewiesen, das er alleine nutzen kann. Für vier Wochen – die sogenannte Kurzzeitpflege.
»Verstehen Sie, Herr Schniewind? Damit Sie erst mal sehen können, ob es Ihnen hier überhaupt gefällt!«
Mein Vater schaut etwas irritiert und nickt. Die Chefin lächelt und stellt uns dann eine attraktive junge Frau vor, die sich gerade zu uns gesellt hat: »Das ist Frau Fedder, unsere Pflegedienstleiterin. Sie ist meine wichtigste Kraft hier und wird Sie jetzt zum Wohnbereich bringen.«
Frau Fedder ist groß und kräftig, hat einen wilden blonden Lockenkopf und fröhliche braune Augen. In der einen Hand hält sie eine Tüte mit Weingummis und ein Handy, mit der anderen schüttelt sie meine Rechte. Ich muss einen Schmerzensschrei unterdrücken, so einen Händedruck haben sonst nur Bodyguards.
»Herzlich willkommen!« Als sie den Blick meines Vaters sieht, der sich an die Weingummis geheftet hat, hält sie ihm die Tüte hin. »Die hab ich immer dabei«, sagt sie grinsend, »kommt super an bei Menschen jeden Alters!«
Wir fahren mit dem Aufzug in die zweite Etage: Wohnbereich 2.
»Das ist der sogenannte beschützte Bereich«, erklärt die Pflegedienstleiterin. »Hier leben 34 demenziell veränderte Menschen in Doppel- oder Einzelzimmern in einer Art Wohngemeinschaft. Der Jüngste ist erst 47 Jahre alt, die Älteste 101.«
Auch hier ist alles modern und geschmackvoll eingerichtet, es gibt zwei große Aufenthaltsräume mit Küchenbereich, Esstisch und Sitzgruppe. Alles ist liebevoll dekoriert im Retrostil: hier ein altes Transistorradio, da ein Herd aus Omas Zeiten, ich sehe auch ein Grammofon, ein Klavier und Blumen auf den Tischen.
Mein erster Blick fällt auf einen alten Mann im Rollstuhl. Er ist an eine Art Tropf angeschlossen, guckt apathisch, sein Mund steht offen. Er sieht aus wie ein Gespenst.
Oh mein Gott, denke ich, hoffentlich bleibt das meinem Vater erspart.
Frau Fedder sieht meinen Blick, streichelt dem Mann liebevoll über die Wange und beugt sich zu ihm hinunter: »Na, Herr Subowski, Sie sehen ja wieder fit aus! Immer schön aufpassen, dass hier kein Unbefugter den Flur betritt.«
Der Mann hebt kurz die Hand und verzieht den Mund zu etwas, das man mit viel Phantasie als Lächeln interpretieren könnte. »Herr Subowski ist schon 92«, sagt sie, während sie mit großen, energischen Schritten den Flur entlanggeht, »er hat vor Kurzem eine PEG, also eine Magensonde, gelegt bekommen. Seit er künstlich ernährt wird, ist er wieder richtig aufgeblüht.« Ich drehe mich vorsichtig noch mal um. Also, wenn so »aufgeblüht« aussieht, befindet sich mein Vater ja offensichtlich noch in Höchstform.
Auf dem Weg zum Zimmer rollt uns ein anderer Mitbewohner entgegen und strahlt mich an.
»Hallooooo!«, ruft er. »Kannst du mir helfen?«
»Was möchten Sie denn?«, frage ich leicht verunsichert.
»Zigaretten!«, ruft er fröhlich und krallt sich an meinem Arm fest.
»Nun lass mal los, Arthur!«, sagt Frau Fedder lachend und schiebt uns weiter den Flur entlang. »Das ist unser Schwerenöter Arthur. Er quatscht jede Frau an, entweder will er rauchen oder heiraten.«
Das Zimmer ist groß und fast leer. Bett, Nachttisch, Kleiderschrank, Stuhl. Na ja, es ist ja nur vorübergehend. Nachdem wir von den Pflegern begrüßt und eingewiesen wurden, kehrt erst einmal Ruhe ein. Ich beobachte meinen Vater. Wie nimmt er das hier auf? Versteht er, was gerade passiert? Ist er traurig, böse, durcheinander? Ist er so weit, den Umzug ins Altersheim zu akzeptieren?
Er sitzt auf dem einzigen Stuhl und guckt aus dem Fenster in den Garten. Dann dreht er sich zu mir um.
»Scheiße!«, sagt er.
Ich bin nie ganz sicher, was er meint, wenn er flucht. Das ist eine Angewohnheit, die mit fortschreitender Demenz immer schlimmer geworden ist. Niemals hätte er solche Ausdrücke in seinem früheren Leben benutzt, nur nachts, in seinen Albträumen, brach es manchmal aus ihm heraus. Tagsüber aber war alles, was sich »nicht gehörte«, tabu.
»Ach was, Vati, alles wird gut. Guck mal, wie schön die Sonne scheint! Ich packe jetzt erst mal deinen Koffer aus.«
Ich täusche gute Laune vor, trotzdem bin ich irgendwie deprimiert. Das hier ist jetzt also sein Zuhause. 47 Jahre hat er in seinem Reihenhaus gewohnt, seit dem Tod meiner Mutter vor über 20 Jahren allein, mal abgesehen von dem Jahr mit Iveta und Anna, den beiden Lettinnen. 47 Jahre umgeben von den vertrauten Möbeln, den Bildern an den Wänden, dieselbe Straße, derselbe Garten, derselbe Blick aus dem Fenster. Und jetzt diese Entwurzelung. Habe ich das richtig gemacht? Hätten wir uns nicht doch nach neuen Betreuerinnen umsehen müssen? Hätten wir möglicherweise mehrere Fachkräfte fest anstellen müssen, die 24 Stunden für ihn da gewesen wären? Das wäre allerdings finanziell kaum zu stemmen gewesen. Oder doch ein Heim im vertrauten Wuppertal?
Diese Zweifel werden mir von jetzt an immer wieder kommen. Aber immer sind auch schnell die Gegenargumente bei der Hand: Er merkt nicht mehr wirklich, wo er ist. Für ihn sind (fast) alle Menschen immer wieder neu und fremd. Die Gruppe und das umfangreiche Unterhaltungsprogramm werden ihn aufmuntern. Er ist hier umgeben von Fachkräften, die etwas von Demenz verstehen, dazu gehören Ergotherapeuten, Musiktherapeuten, Logopäden und Krankengymnasten. Es gibt Vorträge, Filmvorführungen, Spiele, Ausflüge und Feste. Es ist das Konzept dieses Seniorenheims, die alten Menschen nicht zu isolieren, sondern sie am sozialen Leben teilhaben zu lassen, wann immer es geht. Direkt neben dem Haus fließt ein kleiner Bach, über den eine Holzbrücke führt, am Ufer steht eine einladende Bank. Gegenüber ist ein großer Park, da kann ich mit ihm spazieren gehen.
Und das Wichtigste: Er ist jetzt hier bei mir. Ich kann mich kümmern und muss nicht ständig mit schlechtem Gewissen bei meiner Schwester anrufen und meinen übervollen Terminkalender nach Tagen durchforsten, an denen ich mich nach Wuppertal absetzen kann.
»So, Vati. Morgen mache ich dir erst mal einen schönen Osterstrauch. Und in zwei Wochen holen wir deine Möbel, damit du es hier richtig gemütlich hast!« Er guckt teilnahmslos. Eine hübsche Pflegerin steckt den Kopf durch die Tür:
»Herr Schniewind? Möchten Sie etwas essen? Es gibt Schnitzel mit Bratkartoffeln.«
Sofort hellt sich sein Blick auf.
»Essen gut! Ich Hunger«, sagt er und folgt der Pflegerin in den Aufenthaltsraum, ohne sich nach mir umzudrehen.
Schon wenige Tage nachdem Lettland bei meinem Vater eingezogen war, hatte er das gebrochene Deutsch der beiden Frauen übernommen,...