1. Rückkehr in ein vergessenes Land
Warum wir ein Drittel unserer Lebenszeit verpassen
Der Schlaf ist voller Wunder.
Charles Baudelaire
Einst empfanden Menschen ihre Träume als Teil der Wirklichkeit. In traditionellen Gesellschaften galten die Bilder der Nacht mindestens so viel wie die Ereignisse des Tages. Eindrucksvoll hat das der Ethnologe Gunnar Landtman dokumentiert, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Kiwai lebte, einem auf großen Flussinseln in Papua-Neuguinea isolierten Volk. Einmal träumte ein Kiwai, wie ihm ein Freund kostbare Geschenke vermachte. Nach dem Erwachen durchsuchte er sein ganzes Haus nach den Schätzen. Als seine Frau sich wunderte, warum er tastend auf dem Boden herumkroch, antwortete er ärgerlich: »Sei still. Ich habe gute Dinge gesehen.« Noch heute sprechen viele Völker in Papua-Neuguinea nicht davon, Träume zu »haben«. Sie sagen: »Ich sehe im Traum.«
Unsere eigenen Vorfahren dachten genauso. Noch vor gut zwei Jahrhunderten waren Träume in Europa Tagesgespräch, und selbstverständlich handelte man nach ihnen. Vom britischen König George II. ist verbürgt, dass er mitten in einer Nacht des Jahres 1732 die Pferde anspannen ließ, nachdem ihm im Schlaf seine verstorbene Frau erschienen war. Der Kutscher musste den Herrscher zu ihrem Sarg in der Königsgruft von Westminster Abbey fahren.
Heute erscheinen uns solche Begebenheiten absurd. Was wir nachts erleben, erinnern wir als entrückte, surreale Bilder – wenn überhaupt. Erscheint ein Kind von einem Albtraum aufgeschreckt nachts im Zimmer der Eltern, raten sie ihm, das Erlebnis zu ignorieren: »Es war doch nur ein Traum.« Unseren Vorfahren bedeuteten Träume Erkenntnis, für uns sind sie Hirngespinste. Jemanden einen »Träumer« zu nennen, hat schon etwas Despektierliches.
Wir haben uns unseren Träumen entfremdet, und das schnelle Tempo unseres Lebens macht es auch nicht leicht, sich ihnen wieder zu nähern. Wer sich bereits vom Takt seiner Tage bis an die Grenze der Erschöpfung gefordert fühlt, blendet verständlicherweise die Erfahrungen der Nacht aus. Viele Zeitgenossen sind sogar davon überzeugt, gar keine Träume zu haben. »In unserer westlichen Zivilisation wurden die Brücken zwischen der Tag- und der Nachthälfte des Menschen abgebrochen«, schreibt der französische Anthropologe Roger Bastide. Seit der Aufklärung achte man vor allem die Vernunft: »Wir haben die nächtliche Hälfte unseres Lebens entwertet.«
Manchmal allerdings ahnen wir, was uns entgeht. Am deutlichsten bemerken wir den Verlust, wenn wir erwachen. Während die ersten Geräusche des Tages in den Kopf eindringen und sich die ersten Gedanken breitmachen, befinden wir uns zugleich noch in einer anderen Welt – als hätte sich unser Leben plötzlich verdoppelt.
Bilder ziehen durch das Bewusstsein wie Nebelschwaden. Oft sind sie so schemenhaft, dass sie sich sofort verflüchtigen, sobald man versucht, sie zu erfassen. Manchmal jedoch sind die Traumbilder so überwältigend, dass man sie nicht abzuschütteln vermag und sie die Stimmung des ganzen Tages vorgeben. Gelegentlich kommen uns bestimmte Träume noch nach Jahren in den Sinn. In solchen Momenten spürt man, dass die Erfahrungen des Tages nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit sind – und wie reich und interessant der andere Teil des Lebens sein kann, den wir gewöhnlich übersehen.
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Träumen wir heute einfach weniger als frühere Generationen? Mit Sicherheit nicht. Dass Menschen, wohl auch Tiere, im Schlaf etwas erleben, ist eine angeborene Funktion des Gehirns. Und anders als der Körper ruht das Hirn nie. Lange galt es als ausgemacht, dass ein erwachsener Mensch nur ungefähr zwei Stunden pro Nacht träumt – und zwar ausschließlich während des sogenannten REM-Schlafs, von dem in Kapitel vier die Rede sein wird. Neue Untersuchungen haben diese Annahme als Mythos entlarvt. Alle Menschen sind in sämtlichen Phasen des Schlafs immer wieder oder sogar durchgehend bei Bewusstsein, sehen Bilder, haben Gefühle, hegen Gedanken, legen Erinnerungen an, üben Handlungen ein.
Wie konnten uns diese vielfältigen Erfahrungen so seltsam gleichgültig werden? Wir hetzen uns ab, um so viele Erlebnisse in unsere Tage zu pressen wie möglich. Viele Zeitgenossen versuchen verzweifelt, das Altern zu verzögern. Was gäben wir dafür, wenn uns jemand sechs Stunden zusätzliche Lebenszeit pro Tag verschaffen könnte? Das entspricht zwanzig weiteren Lebensjahren – und der Zeit, die der Deutsche im Durchschnitt träumend verbringt. Doch fast alles, was sich in dieser Zeit ereignet, ist schon am nächsten Morgen vergessen, verweht.
Zurück in die Traumwelt unserer Vorfahren können wir nicht – und würden es auch nicht wollen. Einer der am wenigsten beachteten Umbrüche in der Menschheitsgeschichte ist, dass unsere Vorfahren erst vor etwa acht Generationen begannen durchzuschlafen. Wer nicht gerade unter Schlafstörungen leidet, erwartet heute ganz selbstverständlich, sich abends ins Bett zu legen und, höchstens von einem Gang zur Toilette unterbrochen, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Für unsere Vorfahren war das undenkbar.
Sie verbrachten ihre Nächte abwechselnd schlafend und wach, üblich war es, vom »ersten« und »zweiten« Schlaf einer Nacht zu sprechen. Wer nach harter körperlicher Arbeit erschöpft am frühen Abend ins Bett fällt, kann unmöglich zehn oder mehr Stunden bis zum Tagesanbruch schlafend verbringen. Auch den Wohlhabenden fielen bei Kerzenschein und ohne viel Ablenkung frühzeitig die Augen zu. Zudem förderten die Orte, an die man sich zur Ruhe zurückzog, nicht gerade den Schlaf. Zugige Zimmer sorgten dafür, dass man spätestens in den frühen Morgenstunden fröstelnd erwachte. Bis dahin freilich hatten die zappelnden, hustenden und schnarchenden Bettgenossen den Schläfer schon mehrmals geweckt, schließlich teilte man sein Bett mit der ganzen Familie. Eine eigene Matratze und eine eigene Decke waren ein Luxus, den nur die wenigsten genossen, sie garantierten im Übrigen auch keine Ruhe, denn darin lauerten Flöhe und Wanzen.
Immer wieder wurden die Menschen so aus ihren Träumen gerissen. Wenn sie erwachten, war die Erinnerung an das Gesehene noch frisch, die Szenen standen ihnen in allen Details vor Augen. »Mein Schlaf ist zerbrochen und voller Träume«, heißt es in der Komödie Gallathea, die zeitgleich mit Shakespeares Dramen am englischen Hof aufgeführt wurde. Anhand von Tagebüchern der frühen Neuzeit konnte der Historiker Roger Ekirch nachweisen, wie oft die Menschen »aufgewühlt«, »perplex« und manchmal auch »gequält« von ihren nächtlichen Erfahrungen waren.
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In manchen Gegenden der Welt ist der Schlaf in mehreren Schichten heute noch üblich. Bei den Ávila Runa etwa, einem Volk am Oberlauf des Amazonas in Ecuador, ist der Schlaf sogar ein Teil des Gemeinschaftslebens. Niemand käme jemals auf die Idee, sich nachts in einem Zimmer zu isolieren; die Bewohner eines ganzen Dorfes schlafen nebeneinander unter einem freistehenden Strohdach. Wer von den Geräuschen der Tiere im Regenwald, der Unruhe seiner Nachbarn oder auch nur vom Vollmondlicht aufgewacht ist, setzt sich an ein die ganze Nacht brennendes Feuer, trinkt Tee und erzählt seine Träume. »Der Alltag ist untrennbar mit dem zweiten Leben des Schlafs und der Träume verwoben«, schreibt der Anthropologe Eduardo Kohn über seine Feldforschung bei den Runa. »Ihre Träume sind ein Teil der Erfahrungswelt.«
Die Unterbrechungen des Schlafs bewirken nämlich nicht nur, dass mehr Träume in Erinnerung bleiben, sondern führen auch dazu, dass die Traumszenen dem Erwachenden als besonders realistisch erscheinen. Das funktioniert auch bei modernen Großstädtern, wie der amerikanische Psychiater Thomas Wehr experimentell nachwies. Der Forscher simulierte im Labor lange Winternächte, die seine Versuchspersonen ohne Fernsehen und elektrisches Licht verbringen mussten; währenddessen maß Wehr ihre Hirnströme und Hormonwerte. Es zeigte sich, dass die Probanden keineswegs wachbewusst waren, wenn sie ihren ersten Schlaf hinter sich hatten und nach ein paar Stunden erwachten. Ihr Verstand befand sich vielmehr in einem etwas entrückten Zustand der Art, in dem sich die Grenze zwischen Außen- und Innenwelt auflöst. Meditierende kennen dieses Phänomen, und auch unsere Vorfahren müssen ihre Schlafpausen ähnlich erlebt haben. Erinnerten sie sich mitten in der Nacht an einen Traum, erschienen ihnen die Bilder so real wie die Gegenstände in ihrem Schlafzimmer.
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Die Träume aus längst vergangenen Epochen bestimmen unser Leben bis heute. Denn die Bilder, die im Zwielicht zwischen Schlaf und Wachen ins Bewusstsein traten, prägten das Denken und hinterließen ihre Spuren in Philosophie und Religion. So formten die Träume unserer Ahnen unsere Vorstellung davon, wer wir Menschen eigentlich sind.
Heute meinen wir, in einer Wirklichkeit zu leben; sie aber lebten in zweien. Neben dem, was sie tagsüber wahrnahmen, stand gleichberechtigt die andersartige Erfahrung der Nacht. Damit führten frühere Generationen ein reicheres, aber auch widersprüchlicheres Leben als wir. Wie etwa war zu verstehen, dass im Schlaf Tote erscheinen, dass sich Dinge und Menschen ineinander verwandeln oder dass sich der Träumer mühelos über Raum, Zeit und sogar die Schwerkraft hinwegsetzen kann? Wer Träume als wirklich begreift, der muss auch davon ausgehen, dass es ihm in...