Dean Price
Um die Jahrtausendwende, im Alter von etwa dreißig Jahren, träumte Dean Price, dass er auf dem Weg zu seinem Pastor eine asphaltierte Straße entlangging. Hinter einer Kurve wurde aus der Straße ein unbefestigter Weg, und hinter einer weiteren Kurve wurde daraus ein schmaler Hohlweg, in dem alte Bauernkarren tiefe Spuren hinterlassen hatten. Das Unkraut zwischen den Spurrillen reichte ihm bis an die Brust, hier war seit langem niemand vorbeigekommen. Dean lief immer weiter, er breitete die Arme aus und strich über die kitzelnden Gräser. Dann hörte er eine Stimme – sie kam aus seinem Inneren, wie ein Gedanke. »Du wirst jetzt nach Hause gehen, du wirst deinen Traktor holen und an diese Stelle zurückkehren, und du wirst diesen Weg mähen, damit andere, die dir folgen möchten, sehen, dass hier schon jemand gewesen ist. Sie werden kommen, sie werden dir folgen. Du musst nur immer dafür sorgen, dass der Weg gemäht ist.« Dean hatte Tränen in den Augen, als er aufwachte. Sein ganzes Leben lang war er wie ein ruderloses Schiff um sich selbst gekreist und hatte sich gefragt, welche Aufgabe ihm zugedacht war, zu welchem Zweck er überhaupt auf dieser Erde war. Er brauchte eine Weile, um den Traum zu verstehen, aber er spürte gleich, dass er eine Botschaft enthielt, und dass diese Botschaft sein Schicksal war.
Dean hatte sich gerade mit einem Kiosk selbständig gemacht, was nicht gerade nach einer schicksalhaften Berufung aussah. Weitere fünf Jahre sollte er benötigen, um seine wahre Berufung zu finden. Er war hellhäutig und voller Sommersprossen, sein Haar war schwarz, und wenn er lächelte oder mit heller Stimme kicherte, bildeten sich um seine dunklen Augen winzige Fältchen. Die Hautfarbe hatte er von seinem Vater, das hübsche Gesicht von der Mutter. Seit seinem zwölften Lebensjahr kaute er Tabak der Marke Levi Garrett, er verleugnete seine bäuerliche Herkunft nicht und sprach mit der sanften Intensität eines Kreuzfahrers. Er war freundlich und unaufdringlich, seine höfliche Art gab den Männern, die in der Moose Lodge Wodka aus Plastikbechern tranken, Gesprächsstoff, sie fragten sich, wie überzeugend Dean als Bauernjunge war. Seit frühester Kindheit liebte er eine Bibelstelle mehr als alle anderen – Matthäus 7,7: »Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet.« Er hatte immer nach Unabhängigkeit gesucht – besonders finanzieller Art. Vor nichts fürchtete er sich wie vor Armut und beruflichem Scheitern, was seinen guten Grund hatte.
Seine beiden Großväter waren Farmer gewesen, sie bauten Tabak an wie ihre Väter und Großväter, die Tradition reichte zurück bis ins achtzehnte Jahrhundert, immer auf dem gleichen Fleck in North Carolina, Bezirk Rockingham. Alle in der Familie hatten schottisch-irische Namen, die so kurz waren, dass sie bequem auf einen Grabstein passten: Price, Neal, Hall. Und alle waren arm. »Das ist so«, sagte Dean. »Ich muss mir einen Weg bahnen, um den Fluss zu erreichen. Wenn ich ihn jeden Tag gehe, wird schließlich ein Trampelpfad daraus. So und nicht anders sind in diesem Land die Straßen entstanden. Manchmal sind die Menschen, die die Pfade entdeckt haben, den Fährten der Tiere gefolgt. Wenn der Weg einmal angelegt ist, wird es bald unmöglich, einen anderen zu gehen. Weil wir uns an das Muster gewöhnt haben, weil wir uns über Generationen hinweg nicht trauen, es anders zu denken.«
Als Dean ein kleiner Junge war, wuchs der Tabak bis an die Zäune. Von April bis Oktober roch ganz Rockingham County danach. Er wuchs in Madison auf, einem Ort vierzig Minuten nördlich von Greensboro, an der Route 220. Die Familie wohnte im Ort, aber Deans eigentliches Leben spielte sich auf der Tabakfarm seines Großvaters Norfleet Price ab. Er hieß Norfleet, weil sein Vater, Deans Urgroßvater, einmal auf einem Zweispänner eine Ladung Tabak nach Winston-Salem gebracht hatte. Ein Mann, der mit Nachnamen Norfleet hieß, machte ihm einen sehr guten Preis. Deans Vater wurde noch auf dem angestammten Land der Familie geboren, auf einem Grundstück am Rand einer Waldrodung, wo eine Schindelhütte mit einer kleinen Veranda stand. Wenige Meter entfernt war ein Tabakschuppen aus kreuzweise aufeinander gefügten Eichenstämmen, den Norfleet mit nichts als einer Axt gebaut hatte. In den Spätsommern seiner Kindheit, wenn die hellen Blätter vorbereitet, im Schuppen aufgehängt und im Rauch getrocknet wurden, bettelte er so lange, bis er auf der Farm übernachten durfte, wo sein Großvater alle ein bis zwei Stunden aufstand, um nachzusehen, ob Tabakblätter in die Flammen des Ölfeuers gefallen waren. Die Vorbereitung der Blätter war härteste Arbeit, aber Dean liebte den Duft des Tabaks, die reifen gelben Blätter, die an den hohen Stangen schwer wurden wie Leder, er liebte den klebrigen Teer, der seine Hände schwärzte, den Rhythmus beim Aufziehen der Blätter, die Bündel, die wie getrocknete Flundern unter den Dachbalken hingen, die gemeinsamen Stunden. Die Familie schlachtete noch selbst. Es gab einen Gemüsegarten und eine Frau mit einer Kuh, die ein paar Häuser weiter wohnte und Buttermilch brachte. Wenn die Ernte spät kam, wurde der Schulanfang verschoben, und im Frühherbst erwachten die Auktionshäuser von Madison zum Leben. Es gab ein Erntefest mit Marschkapelle und Parade, die Familien hatten Geld für das Jahr und freuten sich auf die Festtage im Winter. Dean zweifelte nicht einen Moment, dass auch er Tabakfarmer werden würde und dass seine Kinder aufwachsen würden wie er selbst.
Sein Großvater war sein bester Freund. Noch im Herbst, bevor er 2001 starb, schlug Norfleet Price sein eigenes Holz. Als Dean ihn zum letzten Mal im Altersheim besuchte, war er neunundachtzig Jahre alt und saß festgeschnallt in einem Rollstuhl. Die letzte Ruhe fand er im Familiengrab, auf einem sanften Hügel, im roten Lehm der eigenen Felder. Norfleet arbeitete, damit er seine Frau nicht sehen musste – manchmal hatte er zwei oder drei zusätzliche Jobs. Aber im Tod stand, auf einen Grabstein gemeißelt, sein Name neben dem von Ruth. Nur ihr Todesjahr fehlte noch, und ihre Leiche.
Deans Vater hatte die Chance, der teuflischen Spirale der Armut, in dem seine Familie seit Generationen steckte, zu entkommen. Harold Dean Price, genannt Pete, war klug und ein begeisterter Leser. Die unbedruckten Seiten am Ende seines Wörterbuchs waren mit einer handgeschriebenen Liste von Wortbedeutungen gefüllt, mit Wörtern wie »Transposition« und »Simulacrum«. Er konnte gut reden, war ein überzeugter, beinahe militanter Baptist und ein Rassist aus tiefster Seele. Als Dean eines Tages das Bürgerrechtsmuseum im alten Woolworth-Haus von Greensboro besuchte, wo in der Cafeteria 1960 die ersten Sit-In-Proteste stattgefunden hatten, betrachtete er ein vergrößertes Foto von vier schwarzen Studenten, die aus einem Gebäude der North Carolina A&T-Universität traten. Sie mussten durch ein Spalier von Weißen gehen, einer Masse jugendlicher, aufgereizter Heißsporne mit zurückgekämmten Haaren, die ihre Hände tief in die Taschen gesteckt hatten, die T-Shirts und aufgerollte Jeans trugen und Zigaretten auf den hasserfüllten Lippen. Einer von ihnen war Deans Vater. Er hasste den trotzigen Stolz der Bürgerrechtler, hatte aber nie etwas gegen Charlie und Adele Smith, die sein Land gepachtet hatten und sich um ihn kümmerten, wenn Deans Großmutter in der Mühle arbeitete. Sie waren herzlich und voller Humor, und sie wussten, wo ihr Platz in der Gesellschaft war.
Pete Price lernte Barbara Neal in einem Tanzcafé kennen, sie heirateten 1961, nachdem er das Studium am Western Carolina College abgeschlossen hatte – er war der Erste in der Familie, der es so weit gebracht hatte. 1963 wurde Harold Dean Price II geboren, in den Jahren darauf folgten drei Mädchen. Die Familie zog in ein kleines Backsteinhaus in Madison, der Tabakspeicher der Firma Sharp and Smith war gleich nebenan. Madison und Mayodan, ein Städtchen in der Nähe, lebten von der Textilindustrie, noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren stellten die Mühlen jeden jungen Mann ein, der einen Schulabschluss hatte. Wer zum College fortging und mit einem Diplom zurückkehrte, konnte sich vor Angeboten kaum retten. Die Hauptstraße war von soliden Geschäftshäusern gesäumt, in den Geschäften – Apotheken und Kurzwarenhandlungen, Möbelläden und einfachen Restaurants – drängten sich die Kauflustigen. Am größten war der Betrieb, wenn die Textilspeicher zum Ausverkauf ihre Tore öffneten. »Unser Land ist damals, genau zu dieser Zeit, so wohlhabend gewesen, wie es nie wieder sein wird«, sagte Dean. »Gas, Strom und Benzin waren billig, das Öl lag unter unseren Füßen, die Felder draußen waren fruchtbar, die Leute nahmen ihre Arbeit ernst und hatten Freude an ihr. Das Geld war da, man musste es nur verdienen.«
Deans Vater nahm eine Stelle bei DuPont an, einer großen Nylonfabrik in Martinsville gleich hinter der Staatsgrenze in Virginia. In den späten Sechzigern lernte er Glenn W. Turner kennen, einen hasenschartigen, lispelnden Schwindler aus South Carolina. Er trug einen glänzenden Dreiteiler und feine, kalbslederne Stiefel, obwohl er aus ärmsten Verhältnissen stammte und kaum lesen oder schreiben konnte. 1967 gründete Turner eine Firma, die er Koscot Interplanetary nannte. Sie verkaufte, zu fünftausend Dollar, Vertriebslizenzen für Kosmetika. Wer einstieg und weitere Investoren rekrutierte, konnte mit einem beträchtlichen »Finderlohn« rechnen. Außerdem brachte er seine Helfer dazu, schwarze Aktenkoffer zu kaufen, die mit seinen eigenen...