Einleitung
«Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen, mit allgemeinen Maßstäben nicht zu messen, es hat ein besonderes Wesen – an Russland kann man nur glauben.» Dieses viel zitierte Bonmot des russischen Dichters und Diplomaten Fedor Tjutčev (1803–1873) suggeriert auf den ersten Blick, dass der Historiker vor Russland resignieren müsste. Es ist schließlich nicht seine Aufgabe, ein Glaubensbekenntnis aufzuschreiben, sondern er möchte verstehen, womit ihn die Quellen konfrontieren, er möchte das, was er vorfindet, in Sinnzusammenhänge einordnen und erklären. Wenn sich aber nun der Gegenstand im Falle Russlands einem solchen rationalen Zugriff prinzipiell entzöge, dann müsste der Historiker das Feld anderen überlassen.
Nun kann es aber in einer Geschichte Russlands gar nicht darum gehen, das «Wesen» dieses Landes und seiner Bewohner zu begreifen. Die «russische Seele», die in diesem Zusammenhang häufig genannt wird, ist nicht das Thema des vorliegenden Buches. Sein Anliegen ist bescheidender: Es möchte verstehen und einordnen helfen, was sich im vergangenen Jahrhundert in Russland ereignet und welche Entwicklungen dieses Land durchlaufen hat.
Dennoch wurde Tjutčevs Aussage bewusst an den Anfang gestellt, denn sie spielt auf zwei wichtige Aspekte an, die auch den Historiker tangieren: Der erste ist die Vielgestaltigkeit Russlands. Wer sich ernsthaft mit dem Land beschäftigt, der weiß, dass eine große Kluft zwischen den beiden Hauptstädten Moskau und St. Petersburg auf der einen und dem großen «Rest» des Landes auf der anderen Seite besteht und dass sich dieser «Rest» aus sehr unterschiedlichen Regionen zusammensetzt, die von Menschen unterschiedlicher Sprache, Kultur und Religion bewohnt werden. Diese Vielgestaltigkeit des russischen Staatswesens hat sich erst durch den Zerfall der Sowjetunion verringert, besteht aber prinzipiell auch in der Russländischen Föderation weiter fort. Sie bedingt eine Parallelität von Lebenswelten, die sich mitunter gravierend voneinander unterscheiden. Im Zusammenspiel mit der sprichwörtlichen Weitläufigkeit des Landes und der daraus resultierenden erschwerten Kommunikation führte sie darüber hinaus immer wieder zu Diskrepanzen zwischen dem Wollen in der Zentrale und der Realität vor Ort. In St. Petersburg oder Moskau Dekrete zu unterzeichnen ist eine Sache, ihre Umsetzung in der Provinz eine andere und die Wahrnehmung der Folgen durch die Betroffenen eine dritte. Das ist zwar unter Russlandkennern eine Binsenweisheit, und dennoch erweckten Gesamtdarstellungen der russischen Geschichte mitunter den Eindruck, als spielte sich die Geschichte nur in den Hauptstädten ab, als wären die hauptstädtischen Elitendiskurse repräsentativ für das ganze Land.
Der zweite Aspekt ist die Frage nach dem Referenzrahmen. Mit den allgemeinen Maßstäben sei Russland nicht zu messen, sagt Tjutčev und spricht damit ein grundsätzliches Problem an, denn es gehört zum Geschäft des Historikers, an seine Gegenstände Maßstäbe anzulegen und zu vergleichen. In der Vergangenheit wurde das in Bezug auf Russland oft unreflektiert getan, indem man den westeuropäischen Entwicklungspfad stillschweigend zur Norm erklärte und dann feststellte, was es in Russland alles nicht gegeben habe. Daraus resultierte eine Defizitgeschichte von Rückständigkeit und Unzulänglichkeit. Gegen diese Sichtweise lässt sich einwenden, dass es unterschiedliche Wege der Entwicklung gibt und nicht jede Abweichung von den westeuropäischen Mustern automatisch mit «Rückständigkeit» gleichzusetzen ist. Der Referenzrahmen für die russische Geschichte kann nicht willkürlich im Sinne der klassischen Modernisierungstheorie von außen als ein mit normativen Kategorien zu messendes und mit historischer Gesetzmäßigkeit ablaufendes Fortschrittsprogramm oktroyiert werden, sondern muss sich am Selbstverständnis des Landes orientieren und seine Spezifik ernst nehmen. Das schließt allerdings nicht aus, dass man über den Umweg der russischen beziehungsweise sowjetischen Selbstreflexion wieder bei der Kategorie der Rückständigkeit landet.
Beide Aspekte, die Vielgestaltigkeit des Landes wie die Problematik des Referenzrahmens, haben als Leitmotive die kulturgeschichtliche Forschung der vergangenen zwanzig Jahre geprägt. Diese Forschung, die seit der Öffnung der russischen Archive für westliche Forscher geradezu explodiert ist, hat unseren Blick auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert erheblich erweitert. Sie angemessen zu berücksichtigen, ist eines der Anliegen dieses Buches. Es konnte nicht vorrangig darum gehen, die Ereignis- und Sozialgeschichte Russlands und der Sowjetunion ein weiteres Mal zusammenzufassen. Der Blick soll vielmehr auf Dinge gelenkt werden, die bisher auf der Ebene der Synthesen unterbelichtet waren. Das Buch beschränkt sich daher nicht darauf, politische und sozioökonomische Strukturen und Entwicklungen zu analysieren, sondern legt einen besonderen Fokus auf das, worauf uns die kulturgeschichtlichen Forschungen der letzten zwei Jahrzehnte gestoßen haben: Repräsentationen, Alltag, Verhaltensmuster und Lebenswelten im Sinne subjektiver Wahrnehmungen und Deutungen der Wirklichkeit.
Das impliziert eine Multiperspektivität, die nicht nur die hauptstädtischen Elitendiskurse, sondern auch das Leben der Menschen auf dem Land berücksichtigt. Eine gewisse Schwierigkeit stellt dabei die ethnisch-kulturelle Vielfalt des Landes dar. Eine russische Geschichte muss dem Umstand, dass es sich um ein Vielvölkerreich handelt, Rechnung tragen. Da sich das vorliegende Buch aber nicht vorrangig als eine Geschichte der nichtrussischen Peripherien versteht, musste aus Gründen des Umfangs und der Lesbarkeit davon Abstand genommen werden, bei allen untersuchten Aspekten jeweils systematisch nach den Nationalitäten beziehungsweise den Regionen zu differenzieren und Parallelgeschichten zu schreiben. Die Darstellung konzentriert sich daher bei den strukturellen Betrachtungen auf den im engeren Sinne russisch geprägten Raum und wirft zwischendurch immer wieder Schlaglichter auf die Nationalitäten. Obwohl der Verfasser selbst in früheren Arbeiten nichtrussische Milieus beschrieben hat, hätte es den Rahmen gesprengt, die Vielfalt der Lebenswelten in größerer Breite darzulegen. Was allerdings im Sinne der Multiperspektivität des Ansatzes in diesem Buch einen großen Raum einnimmt, ist die Dichotomie der Lebensverhältnisse in Stadt und Land.
Das Buch steht nicht für sich allein, sondern folgt als Teil der Buchreihe zur europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert einem gemeinsamen Ansatz, der die Komposition der Darstellung und das ihr zugrunde liegende Erkenntnisinteresse bestimmt hat. Wie der Reihenherausgeber in seinem Vorwort ausführt, beginnt die Darstellung nicht mit dem Ende des Ersten Weltkriegs beziehungsweise im Falle Russlands mit dem Revolutionsjahr 1917, das üblicherweise als Zäsur Verwendung findet, sondern setzt um 1890 an. Der Erste Weltkrieg wird nicht als Ursache der weitreichenden Umwälzungen des 20. Jahrhunderts betrachtet, sondern als Zwischenstation und Katalysator einer größeren gesamtgesellschaftlichen Entwicklung im europäischen Maßstab, die im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte. Sie verwandelte mit der Implementierung der Industriemoderne das Leben der Menschen grundlegend und stellte die Gesellschaften vor neue Herausforderungen, die mit höchst unterschiedlichen, zum Teil radikalen Konzepten beantwortet wurden, bis in den 1960er Jahren neue Herausforderungen auftauchten.
Nun fand in Russland um 1890 noch kein flächendeckender Durchbruch der Industriemoderne statt. Dennoch ist es sinnvoll, eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert hier beginnen zu lassen, denn in den 1890er Jahren beschleunigte sich auch in Russland der ökonomische, soziale und politische Wandel, formierten sich Kräfte und entstanden Problemlagen, die bereits auf die Revolutionen von 1905 und 1917 verwiesen und sich im Ersten Weltkrieg krisenhaft zuspitzten. Auch in Russland wirkte der Erste Weltkrieg als Katalysator von Problemen, die ohne ihn möglicherweise anders gelöst worden wären, die aber nicht erst 1914 entstanden. Ohne die im ausgehenden 19. Jahrhundert erfolgten Veränderungen sind die Revolutionskrisen von 1905 und 1917 nicht verständlich. Auch in Russland erzeugte die moderne Industriegesellschaft Herausforderungen, eröffnete Handlungsoptionen und verlangte nach Antworten. Im eigenen Land steckte die Industriemoderne zwar noch in den Anfängen, aber die Akteure sahen am Beispiel von England, Deutschland oder den USA, welche sozialen und politischen Auswirkungen sie zeitigte. Der Blick nach Westen und das Abschätzen der eigenen Entwicklung im Vergleich zu dem, was man dort sah, müssen für Russland im gesamten Untersuchungszeitraum stets mitgedacht werden.
Auch in Russland ist man bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts damit beschäftigt, sich an den um die Jahrhundertwende als solche erkannten Problemen abzuarbeiten, und sucht dabei zwischendurch sein Heil in gewalttätigen Konzepten. Inwieweit es dann im weiteren Verlauf in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in politischer, sozioökonomischer und kultureller Hinsicht zu einer Annäherung an die...