III. Sprachgeschichte
Die lateinische Sprache gehört zur indogermanischen Sprachfamilie, die auch die keltischen, germanischen und slavischen Sprachen sowie das Griechische umfaßt. Aus dem volkssprachlichen Latein sind viele ‹Tochtersprachen› hervorgegangen: Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch, ferner Katalanisch, Provenzalisch, Rätoromanisch bzw. Ladinisch, Sardisch.
Die Heimat der indogermanischen Völker liegt vermutlich im mitteleuropäischen Raum mit dem Rhein als der Grenze im Westen und dem Ural im Osten, der Ostsee im Norden und den Alpen, der Donau, dem Schwarzen Meer und dem Kaukasus als der südlichen Grenze. Der allen indoeuropäischen Sprachen gemeinsame Wortschatz deutet auf eine seßhafte, Ackerbau und Viehzucht betreibende Gesellschaft hin. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die zeitliche Eingrenzung der gemeinsamen Sprache ziehen; sie dürfte zwischen dem 6. und 5. vorchristlichen Jahrtausend liegen, bevor um 4000 v. Chr. erste Abwanderungen Sonderentwicklungen einleiteten.
Im Zuge dieser Völkerverschiebungen sind etwa in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. indogermanische Stämme aus der pannonischen Tiefebene (die Gebiete des ehemaligen Jugoslawien und Ungarn) nach Italien eingedrungen. Die Zuwanderung erfolgte wahrscheinlich in drei Wellen: Die erste über Land entlang der nördlichen Adria brachte die venetische Sprache und den Vorläufer des Lateinischen nach Italien. Mit dem zweiten Zug über See von der dalmatinischen an die italische Küste zwischen Po-Mündung und Gargano kam das Oskisch-Umbrische, das sich geographisch zwischen das Venetische und das mit ihm verwandte Lateinische schob. Die dritte Welle führte das Messapische aus dem heutigen Albanien über die See in das antike Kalabrien ein.
Die lingua Latina (nach der Landschaft Latium) war ein Idiom, das zunächst auf ein sehr kleines Gebiet, nämlich die Stadt Rom, begrenzt war. Anders als das sich weithin erstreckende Griechisch hat es demzufolge auch keine separaten Dialekte ausgebildet. Allenfalls läßt sich eine dialektale Verwandtschaft mit dem Faliskischen konstatieren, einer Sprache, die von dem kleinen Volk der Falisker nördlich Roms gesprochen wurde. 241 v. Chr. zerstörten die Römer ihre Hauptstadt Falerii. Das Faliskische ist uns vor allem von Vasen und Grabinschriften bekannt.
Sprachen im vorrömischen Italien
Die Nähe zu den übrigen angrenzenden Sprachen hat einige Spuren hinterlassen. So nahm nachweislich Einfluß auf die lateinische Sprache etwa das Etruskische, wenngleich nur in einem geringen Umfang. Das gut lesbare etruskische Alphabet geht eindeutig auf das Griechische zurück, die Sprache selbst ist jedoch immer noch weitgehend unbekannt. Auch die Frage der Herkunft der Etrusker, ob sie – wie von vielen antiken Autoren angegeben – aus Kleinasien stammten oder in Italien beheimatet waren, ist ungeklärt. In das Lateinische sind vor allem Termini aus dem Staats-, Militär- und Bauwesen (zum Beispiel populus: Volk < etrusk. pupli) sowie aus Kleinhandel und Handwerk und nach Livius 7, 2 auch aus dem Bühnenwesen (vgl. die Entlehnungen histrio: Schauspieler < etrusk. ister und persona: ‹Maske› < evtl. etrusk. fersu) eingedrungen. Daneben gelangten über das Etruskische auch zahlreiche Gräzismen in das Lateinische (lanterna: Lampe < λαμπτήρ).
Die Etrusker traten wohl auch als Vermittler der Schrift auf. Die ursprünglich 21 Buchstaben des lateinischen Alphabets sind dem griechischen entnommen und wurden in der Antike als Majuskeln (Großbuchstaben) geschrieben. In der Zeit des Augustus wurden für die Wiedergabe griechischer Wörter zusätzlich die Buchstaben Y und Z eingeführt. Vorher schrieb man s für z (sona für ζώνη, etwa Plautus, Mercator 925) und u für y (mit Wirkung auf die Aussprache, vgl. das Wortspiel Plautus, Bacchides 362: facietque extemplo Crucisalum me ex Chrysalo).
Das Oskisch-Umbrische umfaßt die Idiome, die, im Gebiet entlang des Apennins etwa vom Metaurus bis Lukanien beheimatet, die wichtigste Sprachgruppe des vorrömischen Italiens darstellten. Zu ihm gehören im Norden das Umbrische und das wenig bekannte Picenische, in der Mitte die sabellischen Dialekte (zum Beispiel Paelignisch, Marsisch, Sabinisch) und das Volskische und im Süden das Oskische (Samnitische). Das Oskisch-Umbrische war, wie Inschriften aus Pompeji und Herkulaneum bezeugen, im 1. Jh. n. Chr. noch lebendig. Im Bundesgenossenkrieg (91–89 v. Chr.) gab es sogar unter den latinischen Aufrührern die Absicht, es anstelle des Lateinischen als Bundessprache einzuführen. Der Einfluß auf das Lateinische läßt sich nur lautlich fassen, so beispielsweise in Wörtern mit -f- im Inlaut (bufo: Kröte) oder -p- (popina: Garküche [= coquina]; lupus: Wolf, vgl. griech. λύκος).
Andere Sprachen haben in vergleichbar geringem Maße auf das Lateinische gewirkt, so das Messapische, eine dem Illyrischen verwandte Sprache im Südosten Italiens, und das Venetische an der Küste und dem Hinterland der nördlichen Adria. Von weiteren Sprachen im nördlichen Italien haben wir kaum Kenntnis, dies betrifft die Ligurer, ein vor-indogermanisches Volk, und die mit den Etruskern verwandten Räter. Aus Sizilien sind uns im Westen das vorindogermanische Sikanisch und in der Mitte und im Osten der Insel eine jüngere eigenständig indogermanische Sprache bekannt, das Sikulische.
Von weitaus größerer Bedeutung waren zwei Sprachgruppen, die erst in späterer Zeit in Kontakt mit dem Lateinischen kamen, das Griechische und das Keltische. Die griechische Besiedlung Süditaliens und Siziliens setzte im 8. Jh. v. Chr. ein. Die älteste Stadtgründung ist wohl Kyme in Kampanien (Strabon 5, 4, 4); etwas früher, zwischen 775 und 760, wurde Pithekusa (Ischia, Strabon 5, 4, 9) besetzt. Noch im 8. Jh. wurde auch mit der Errichtung von Stützpunkten auf Sizilien (734/3 Syrakus) begonnen. Aus dem 5. Jh. stammen die jüngsten Gründungen (um 470 Neapolis, 444/3 Thurioi). Zusammen mit den Aussiedlern gelangte der jeweilige Dialekt in die neue Heimat: das Ionische nach Kampanien und dem nördlichen Sizilien, das Dorische nach Kalabrien und Südsizilien, das Achaiische nach Lukanien und ins südliche Kampanien (Poseidonia, lateinisch: Paestum). Die früheste Vermittlung des Griechischen geschah über das Etruskische. Hinzu kamen Übernahmen aus dem Ionischen von Kyme (sceptrum: Szepter < σκῆπτρον, sc(a)ena: Bühne < σκηνή), und schließlich, wie schon angedeutet, fanden Wörter mit lautlichen Charakteristika des Dorischen (langes α statt ionisch η: malum: Apfel < μᾶλον, Aesculapius: Asklepios < ’Aσκλαπιός; Bewahrung des Ϝ [Digamma]: oliva: Olive< ἐλαίϜα, vinum: Wein < Ϝονος) Eingang in die lateinische Sprache.
Die Kelten, in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. im Gebiet des Oberrheins und der jungen Donau ansässig, wanderten um 500 v. Chr. nach Westen und Südwesten und gelangten bis nach Spanien (Keltiberer) und Britannien. Eine weitere Gruppe zog nach Südosten auf den Balkan, und nach 278/77 v. Chr. besetzten diese sogenannten Galater einen Teil Kleinasiens. In Richtung Süden scheiterte die keltische Expansion letztlich an den Römern: 390/386 standen sie, nachdem wohl schon im 5. Jh. Kelten in die Poebene eingedrungen waren, vor Rom. Im Zuge der römischen Eroberung Norditaliens nach den Feldzügen Hannibals wurde das Keltische ins jenseits der Alpen gelegene Gallien und in einige schwer zugängliche Rückzugsgebiete verdrängt. Aus dem Keltischen stammen Worte wie ambactus (Sklave) oder braca (Hose).
Die frühesten uns erhaltenen Zeugnisse lateinischer Sprache datieren aus dem 5. Jh., frühestens aus dem 6. Jh.v. Chr. (fragmentarischer Cippus vom Forum Romanum, der sogenannte «Lapis niger», CIL I2 2, 1 (S. 40); Inschrift auf der 1880 zwischen Quirinal und Viminal gefundenen Duenos-Schale, CIL I2 2, 4), sie sind für uns teilweise noch immer unverständlich (vgl. auch Quintilian 1, 6, 40 über das carmen Saliare und das carmen Arvale, CIL VI 2104 = I2 2, 2). Daß die bei späteren römischen Juristen und Antiquaren erhaltenen Fragmente des Zwölftafelgesetzes (um 450 v. Chr.) vertrauter wirken, hängt damit zusammen, daß diese Autoren sie wahrscheinlich in etwas modernisierter (d.h. dem zeitgemäßen Sprachgebrauch angepaßter) Form zitierten. Die Inschriften des 3. und 2. Jh.s dagegen weisen schon ein, wenn auch archaisches, so doch gut verständliches Latein auf (Bronzetafel mit dem senatus consultum de Bacchanalibus 186...