KAPITEL I
Wie Normalfamilien sich in Weltfamilien verwandeln
Die Kunst, die Belletristik, die autobiographischen Romane und Erzählungen haben einem neuen Thema Prominenz verschafft: bunt gemischten Liebes- und Familienbeziehungen, aufgespannt über Länder und Kontinente. Diese neuen Realitäten sind derart verbreitet und voller überraschender Aspekte, daß Erzähler und Dokumentaristen sich intensiv mit ihnen beschäftigen. Immer mehr Bücher umkreisen in manchmal komischen, manchmal anklagenden, manchmal ironischen, manchmal auch schrillen Tönen ähnliche Fragen. Es sind Geschichten von Liebe, Ehe, Elternschaft über Grenzen und Kulturunterschiede hinweg; Geschichten von gelingenden oder scheiternden Beziehungen; Geschichten darüber, wie die Gegensätze der Welt im Binnenraum der Familien ankommen. Hier drei gewichtige Beispiele.
1. Der Blick in die Literatur: Komödien und Tragödien der Fernliebe
Marina Lewyckas Roman Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch handelt nur ganz am Rande von Traktoren, dagegen vor allem von einer Explosion. Die Explosion ist weiblich, mit Touristenvisum aus der Ukraine nach Großbritannien eingereist, nun zielstrebig auf Heirat, Wohlstandsteilhabe und Bleiberecht hoffend. »Zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter verliebte sich mein Vater in eine berückende blonde geschiedene Frau aus der Ukraine. Er war vierundachtzig, sie sechsunddreißig. Wie eine flauschige rosa Granate schoss sie in unser Leben, wirbelte trübes Wasser auf . . . und trat unseren Familiengespenstern kräftig in den Hintern« (Lewycka 2006: 7). Mit Energie, zärtlichen Verheißungen und Einsatz ihrer gesamten Weiblichkeit erreicht die Blondine aus Osteuropa ihr Ziel, den »Familien-Paß«: Heirat als Einlaßkarte in den bewachten Wohlstandsclub der westlichen Welt. »Sie will mit ihrem Sohn im Westen ein neues Leben beginnen, ein schönes Leben mit einem guten Job für gutes Geld und mit einem schönen Auto – auf gar keinen Fall ein Lada oder ein Skoda – und mit einer guten Ausbildung für den Sohn, Oxford/Cambridge, mindestens. Sie selbst hat ja . . . auch eine gute Ausbildung. Einen Abschluss in Pharmazie. Damit kann sie hier eine gutbezahlte Stelle finden, wenn sie erst richtig Englisch spricht. Bis es so weit ist, gibt er ihr Unterricht, und sie hält ihm das Haus in Ordnung und kümmert sich um ihn. Sie setzt sich ihm auf den Schoß und lässt ihn ihre Brüste streicheln« (ebd.: 8 f.).
Betty Mahmoodys Buch Nicht ohne meine Tochter (1988) ist ein autobiographischer Erfahrungsbericht, angesiedelt zwischen Iran und USA, Islam und dem Westen. Die Autorin, US-Amerikanerin, ist mit einem aus dem Iran stammenden Arzt verheiratet. Dieser beschließt, in seine iranische Heimat zurückzukehren, und lockt Frau und Tochter in den Iran, um sie gewaltsam dort festzuhalten. Betty Mahmoody fügt sich äußerlich, plant aber heimlich die Flucht für sich und die gemeinsame Tochter – ein Vorhaben, das nach achtzehn qualvollen Monaten und vielen hochdramatischen Szenen schließlich gelingt. Das Buch ist eine Liebe-schlägt-in-Haß-um-Tragödie, Mann versus Frau, Gewalt und Opferbereitschaft, Unterdrückung und Widerstand, Freiheit und Freiheitsberaubung. Am Ende die Wendung zum Guten, Mutter und Tochter aus dem Griff der dunklen Mächte gerettet, wieder angekommen in der amerikanischen Heimat. Mahmoodys Frauen- und Leidensgeschichte erzählt vom Tod einer Liebe zwischen den Welten, aus der Perspektive der einen Seite, aus dem Horizont der westlichen Frau, ihrer Wahrnehmungen, ihrer Hoffnungen und Enttäuschungen.
Jan Weilers Maria, ihm schmeckt’s nicht (2003) beschreibt in vielen Anekdoten Szenen einer deutsch-italienischen Familienkonstellation. Der Autor, selbst in einer solchen Konstellation lebend, erzählt von den Alltagskomödien, die auf den Bühnen der Familien aufgeführt werden, wenn zwei Menschen aus Mitteleuropa heiraten wollen, der Bräutigam aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft und gehobenen Mittelschicht stammt, der Vater der Braut als Gastarbeiter aus dem armen Süden Italiens nach Deutschland kam. In der Serie der Ereignisse werden wiederum die Gegensätze der Welten erkennbar, hier jedoch in komödiantischer Form. Da trifft deutsche Gründlichkeit, Genauigkeit, Pedanterie auf das Temperament, die Improvisationskunst und Lebensfreude der Italiener, was Stoff für freudige wie andere Überraschungen abgibt, aber auch einen rauh-aber-herzlichen Charme hat. So klingt hier die Botschaft am Ende versöhnlich: Die Liebe ist stärker als die Gegensätze der Welten, sie baut Brücken über Gräben.
So unterschiedlich diese drei Bücher auch sind, sie fügen sich doch zu einer gemeinsamen Erzählung. Sie schildern – in je eigenen Ausschnitten und Brechungen –, wie die Weltgesellschaft Einzug hält in Normalfamilien, dort Unruhe stiftet, Verwirrung, Überraschung, Lust, Freude, Zusammenbrüche und Haß, wie die Turbulenzen, Unruhen, Aufregungen der Welt zum Bestandteil von Normalfamilien werden.
Alle drei Bücher haben die Bestseller-Listen erobert, Millionen-Auflagen erreicht und Übersetzungen in viele Sprachen erfahren. Dieser unerwartete Publikumserfolg dürfte verschiedene Gründe haben. Zum einen verfügen die Bücher, in der einen oder anderen Form, über autobiographische Grundlagen. Das wird umgesetzt in einen Erzählstil der Direktheit, die sich auf den Leser/die Leserin überträgt und ihn/sie fesselt. Hinzu kommt die Faszination, die aus der Verbindung von Exotik und Erotik entsteht und zusätzliche Würze durch Beilagen wie Situationskomik oder Bedrohungsdramatik erhält. Hinzu kommt erst recht, daß Themen dieser Art bei vielen an eigene Erfahrungen rühren, an damit verbundene Überraschungen, Freuden und Ängste: Der Schwager hat jetzt eine Frau aus Thailand; für die Pflege von Opa haben wir eine Frau aus Polen engagiert; unsere Patennichte ist neuerdings mit einem Theologen aus Togo zusammen. Wo liegt dieses Land eigentlich? Warum ist er hier? Liebt er sie wirklich, oder benutzt er sie nur als Eintrittskarte in die Erste Welt?
Solche Verbindungen, solche Fragen werden mehr und mehr zur Alltagserfahrung in Familien der Mehrheitsgesellschaft. In dieser Weise gelangen die Wirtschaftskrisen und Finanzmärkte Asiens, die Bürgerkriege und politischen Umbrüche Afrikas, die ideologischen Kämpfe und das ökonomische Auf und Ab Lateinamerikas ins eigene Wohnzimmer. Die Frau aus Thailand, der Mann aus Togo sitzt auf unserem Sofa, ist bei Geburtstagen dabei, spielt Fußball mit unserem Sohn und füttert den Opa. Jede(r) hat eine Schwiegertochter, einen Schwiegersohn, eine Schwester, einen Bruder, eine Cousine, einen Cousin, Nichten und Neffen, Enkelkinder usw., die unsere Sprache mit einem fremden Akzent sprechen, die deutlich anders aussehen als wir, deren Namen seltsam und beinahe unaussprechlich klingen. Da mag es mancher als erleichternd empfinden, wenn er/sie beim Lesen Szenen des eigenen Lebens wiederfindet, im Erzählen zugleich verfremdet und pointiert, durch die anekdotische oder dramatische Zuspitzung gesteigert. So wird das Verwirrende ein Stück weit begreifbar, erkennbar als eine Erfahrung vieler Menschen. Man sieht: Auch die anderen wissen nicht, wie sie mit der neuen Familienwirklichkeit umgehen sollen, wie das Aufeinandertreffen von Nähe und Ferne ganz eigene Pannen und Peinlichkeiten erzeugt, in denen alle jetzt mühsam lavieren. Der Publikumserfolg der beschriebenen Bücher liegt also auch darin begründet, daß sie den Irritationen, die mit den neuen »diasporischen« Familienwirklichkeiten einhergehen, einen weiteren Rahmen geben. Sie zeigen, in welcher Form das individuelle Schicksal ähnlich andere trifft, sie bieten Orientierung und Trost, praktische Lebenshilfe in den privat gewordenen Turbulenzen der Weltgesellschaft.
2. Neuland
Um die Turbulenzen, die das Aufeinandertreffen von Nähe und Ferne erzeugt, geht es auch in diesem Buch. Wir führen den Begriff »Weltfamilien« ein und machen ihn dann zur Grundlage, um die neue Familienwirklichkeit darzustellen. Unsere Fragen lauten: Wie läßt sich systematischer beschreiben und begreifen, was längst weitverbreitete Alltagserfahrung ist? Wie werden Liebe und Familie zum Schnittpunkt der Welt? Was geschieht, wenn nationale Grenzen und internationale Rechtsordnungen, Migrationsgesetze und die Trennlinien zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit, zwischen Erster und Dritter Welt mitten durch die Familie gehen? Was bedeutet es für Liebe und Intimität, wenn die Liebe zur Fernliebe wird, zur Langstrecken-Liebe über Länder und Kontinente hinweg?
Mit solchen Fragen betreten wir terra incognita, unerforschtes Gebiet. Zwar gibt es zahllose Untersuchungen, die den Wandel der Familie (vom nichtehelichen Zusammenleben bis zum Geburtenrückgang) zum Thema machen. Zwar gibt es Studien aus der Familienforschung und um so mehr solche aus der Migrationsforschung und Anthropologie, die sich mit globalisierten Familien befassen. Aber, das ist das Entscheidende, sie richten den Blick immer nur auf einen Ausschnitt der globalisierten Familienwirklichkeit (z. B. binationale Paare oder transnationale Adoption oder Fernbeziehungen). Wir dagegen nehmen deren...