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Der Hauslehrer

Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900

AutorMichael Hagner
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783518744208
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR


<p>Michael Hagner ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er wurde u.a. mit dem Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.</p>

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Leseprobe

Ermittlungszeit


Am Nachmittag des 10. März 1903 begab sich der Bezirksarzt Dr. Friedrich Severin mit dem Auftrag in das abgelegene kleine Haus bei Drosendorf, nach einem akut erkrankten Jungen zu sehen. Er wurde, wie er später vor Gericht aussagte, keineswegs sofort zu Heinz Koch vorgelassen, den er zum Zeitpunkt seiner Ankunft noch am Leben wähnte. Vielmehr nahm ihn der Hauslehrer in Empfang und verwickelte ihn in ein ausführliches Gespräch, in dem er sich über die moralische Verdorbenheit des Jungen ausließ, von Masturbation, Diebstählen und einer unheilbaren Geschlechtskrankheit berichtete und die Geschichte seiner Erziehungstätigkeit in angeblich nicht weniger als zwei Stunden ausbreitete. Als der Arzt darauf drang, den Kranken endlich sehen zu dürfen, wurde ihm beschieden, der sei bereits tot. Die Frage, ob die Eltern informiert seien, habe Dippold verneint und hinzugefügt, daß das auch nicht nötig sei, da diese sich ohnehin nicht um ihre Kinder kümmerten.1 Auch über die Todesursache gab der Hauslehrer weitschweifige Erklärungen ab. Sie reichten von minderwertiger Konstitution und pathologischer Schwäche bis hin zu Onanie und Syphilis.

Ein erster Blick auf den mit blutunterlaufenen Striemen, Schwellungen und Blutergüssen übersäten Körper Heinz Kochs weckte in dem Bezirksarzt sofort den Verdacht, daß der Junge keines natürlichen Todes gestorben sein konnte und er den geforderten Totenschein nicht ausstellen durfte. Fünf Tage später gab er zu Protokoll: »Als ich keine Todesursache finden konnte und die Angaben des Dippold über verschiedene Möglichkeiten des plötzlichen Todes, etwa infolge der Syphilis oder des vielen Onanierens oder Diphtherie oder Schlaganfall gänzlich unmöglich waren und ich den Verdacht längst bekommen hatte, daß Dippold den Knaben totgeprügelt habe und jetzt dies zu verheimlichen suche, so sagte ich, dass eine Sektion stattfinden müsse, um die Todesursache festzustellen. Damit war er einverstanden und meinte, ich solle selbst die Sektion vornehmen.«2 Severin unterrichtete die Staatsanwaltschaft und fuhr mit dem Hauslehrer zum nächstgelegenen Postamt, damit die Familie telegraphisch benachrichtigt werde. Die kurzen Worte enthielten sogleich eine Diagnose: »Heinz gestorben. Arzt konstatiert als Todesursache Blutschwäche.« 3 Vor Gericht räumte Severin später ein, daß er das Wort »Blutschwäche« gegenüber Dippold fallengelassen haben könnte, stellte aber noch einmal heraus, daß er sogleich die Mißhandlungen als Todesursache angesehen habe. Dippold dagegen versuchte noch vor der Obduktion, den Tod seines Zöglings als tragisches Ereignis darzustellen, so auch in einem Telegramm an Oskar Vogt: »Mein Schüler und Patient Heinz Koch starb gestern ohne weiteres als Müdigkeit vorher zu klagen.«4

Bis zum letzten Atemzug Heinz Kochs hatte sein Lehrer ihn für einen Simulanten gehalten, für einen faulen, durchtriebenen, berechnenden und verlogenen Jugendlichen, der seinen moralischen Kredit verspielt hatte. Da in der abgelegenen Welt Drosendorfs keinerlei Kontrolle mehr zu befürchten war und abgesehen von einer eingeschüchterten Haushälterin kein mißtrauisches Dienstpersonal Dippolds Gewalt gegen die Jungen mehr einzuschränken vermochte, die Eltern ihm nach der ärztlichen Intervention und aufgrund ihrer eigenen Wertvorstellungen und Intuitionen vollständig vertrauten, sanken die letzten Hemmvorrichtungen in sich zusammen. Er hatte seinen Schüler gedemütigt, zu schriftlichen Geständnissen gezwungen, diffamiert, zu Tode geprügelt und redete nun, vielleicht noch unter dem Schock der Ereignisse, von seinem »Patienten«, der an seiner schwachen körperlichen und geistigen Konstitution zugrunde gegangen war. Wie kam der Hauslehrer dazu? War es Zynismus oder ein plumper Versuch, die Schuld von sich abzuwälzen? War es Hilflosigkeit oder ein Mangel an Gefühl, der sein Verhalten gegenüber dem Bezirksarzt und die Telegramme erklärt? Gewiß kommen hier Eigenarten einer Persönlichkeit zum Ausdruck, doch dahinter zeichnet sich auch die Wirkmächtigkeit eines Diskurses über Körper und Disziplin, über Schwäche und die Gesetzmäßigkeiten des Lebens ab, der um 1900 kursierte, an Universitäten gelehrt wurde und in Büchern nachzulesen war. Dieser Diskurs durchzog auch das Denken eines wißbegierigen und gleichzeitig mit felsenfesten Überzeugungen ausgestatteten Studenten wie Andreas Dippold.

In den Erklärungen und Rechtfertigungen des Hauslehrers kam ein schroffer Sozialdarwinismus zum Vorschein, der die Härte des Lebens propagierte und davon ausging, daß die Schwachen unausweichlich dem raschen Tod ausgeliefert waren. All das paßte vorzüglich mit dem kriminalanthropologischen Dossier über Heinz Koch zusammen, das Dippold längst vorher angelegt hatte und nun weiter anreicherte. Immer neue Gründe für die vermeintlich unausweichliche Tragödie wurden angeführt, wobei der Hauslehrer sein bereits bekanntes Verfahren anwandte, die Feststellungen und Deutungen anderer für seine eigenen Zwecke einzuspannen und auf wissenschaftliche Überzeugungen zu rekurrieren, um die Plausibilität seiner Aussagen zu unterstreichen. Nicht nur dem Bezirksarzt und Oskar Vogt sowie etwas später dem Untersuchungsrichter – auch der Familie Koch mutete er seine Sicht der Dinge zu, und in diesem Zusammenhang kam auch das bis dahin nicht bekanntgewordene letzte und umfangreichste schriftliche Geständnis Heinz Kochs zum Vorschein.

Das Ehepaar Koch befand sich zu diesem Zeitpunkt mit einigen anderen Familienmitgliedern in Cannes. Bevor sie Genaueres über die Todesumstände wußten, hielten sie es für das Dringlichste, ihren Sohn Joachim in die Familie zurückzuholen. Damit beauftragten sie ihren Schwiegersohn Ferdinand Bugge, der aus Steglitz anreiste und den Jungen in seine Obhut nahm. Um die Formalitäten mit dem Leichnam sollte sich Karl Koch kümmern. Der in Konstantinopel lebende älteste Sohn des Bankdirektors hielt sich zufällig gerade in Deutschland auf und reiste umgehend nach Drosendorf. Als er dort eintraf und Dippold nach den letzten Lebenswochen seines Halbbruders befragte, konfrontierte ihn dieser mit jenem nicht an die Eltern geschickten Selbstbekenntnis von Heinz. Wie schon erwähnt, war darin noch ausführlicher als zuvor die Rede von Denunziationen, Diebstählen, Bordellbesuchen am Kurfürstendamm und einer Syphilis, die die Folge dieser Besuche gewesen sei. In diesem Zusammenhang benutzte Dippold auch das vergiftete Wort vom »geborenen Verbrecher«, von dem er aus Franz von Liszts Seminar gewußt haben dürfte, daß es auf Lombroso zurückging und eine Stigmatisierung bedeutete, der man kaum entrinnen konnte.

Wie genau Dippold seinen Lombroso und die Konstruktion eines Verbrechertypus kannte, geht aus der Zeugenaussage Karl Kochs hervor: »Zum Beleg für die verbrecherischen Neigungen des Heinz, die er [Dippold, MH] mit vielem Aufgebot von Lombroso, Rousseau, Nietzsche, Kant, Hegel u. anderen Philosophen erörterte, zeigte er mir das Portemonnaie, das Heinz jahrelang mit sich herumgetragen habe, u. darin 2 aus einem illustrierten Blatt ausgeschnittene Bilder, deren eines die Ermordung der Kaiserin von Oesterreich, das andere einen bekannten, mir nicht mehr erinnerlichen Verbrecher darstellte.«5

Man sieht, wie sich die Kriminalanthropologie im Alltagsleben einzunisten vermochte. Neben den körperlichen Zeichen, so Lombroso, sollten auch bestimmte Verhaltensmerkmale auf den potentiellen Verbrecher hinweisen. Für Dippold gehörte das Sammeln von entsprechenden Zeitungsnotizen und Bildern dazu. Soviel läßt sich immerhin sagen, doch ob Heinz Koch selbst sie in seinem Portemonnaie aufbewahrte oder ob der Hauslehrer sie vor oder nach dem Tod des Jungen dort hineingeschmuggelt hatte, bleibt offen. Jedenfalls scheint Karl Koch durch die von Dippold vorgelegten vermeintlichen Evidenzen erst einmal beeindruckt gewesen zu sein. Auf seine Frage, wieso der Student überhaupt die Erziehung seines Bruders übernommen habe, wenn er ihn für einen geborenen Verbrecher hielt, replizierte der Hauslehrer, er habe es nicht für ausgeschlossen gehalten, aus Heinz doch noch einen »ordentlichen Menschen« zu machen.6 Genau diesen Ehrgeiz hatte er ja bereits mehrfach hervorgehoben und damit seine Züchtigungen gerechtfertigt. Jetzt hingegen begann er zu suggerieren, daß die Chance auf Erfolg sehr gering gewesen sei, weil die Natur des Jungen es nicht zuließ. Einmal mehr schlüpfte er in die Rolle des Experten, der die Kriminalanthropologie für seine Situation auszunutzen versuchte. Dabei kam ihm zugute, daß er das bereits angesprochene Dossier angelegt hatte, in dem er die Verfehlungen, Sünden und krankhaften Abartigkeiten seiner beiden Schüler festhielt und kommentierte.

Der Student Andreas Dippold war nicht nur ein großer Leser, er war auch ein eifriger Schreiber, der Tage- und Notizbücher mit seinen Lesefrüchten, persönlichen Eindrücken und Einschätzungen füllte und vor allem über sich selbst Rechenschaft ablegte. Diese Hefte sind nicht überliefert, wohl aber eine »autobiographische Skizze«, die aus den letzten Wochen in Ballenstedt stammt. Sie wurde in stenographischer Kurzschrift verfaßt, was dafür spricht, daß er sie für sich selbst anfertigte und vermeiden wollte, daß die Jungen oder das Dienstpersonal sie lesen können. Diesen Text, der zum Teil auf Tagebucheinträge und Passagen aus den Briefen an Rosalie Koch zurückgriff, fand die Staatsanwaltschaft unter Dippolds Papieren in Drosendorf, die sie vollständig beschlagnahmte. Für die weiteren Ermittlungen wurde die autobiographische Skizze genauso relevant wie die Briefe, die...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch/Inhalt2
Impressum4
Inhalt5
Ein Junge stirbt7
Ermittlungszeit68
Der Prozeß in Bayreuth129
Der Skandal und die Medien151
Vom Nutzen und Nachteil der Humanwissenschaften173
Epilog: Das Leben geht weiter239
Nachbemerkung251
Anmerkungen253
Literaturverzeichnis268

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