1. Kapitel:
Vom Individuum und seinem Verhalten
Wir leben in einer Welt, zu deren hervorstechendsten Merkmalen die Kommunikationsschwäche gehört. In guter deutscher Umgangssprache heißt dies: es gelingt dem einzelnen immer weniger, eine fruchtbare Verbindung zu seinen Mitmenschen herzustellen. An diesem Zustand ist nicht etwa die oft bemühte Reizüberflutung durch die Massenmedien schuld, sondern eine Schwäche in der Persönlichkeitsstruktur jedes einzelnen. Denn wenn ich meiner selbst nicht sicher bin und nichts mit mir anzufangen weiß, dann kann ich mich auch nicht für andere engagieren. Da aber gerade das Lehren ohne ein starkes Engagement für die Lernenden undenkbar ist, kann man nicht über Pädagogik reden, ohne deren psychologische Grundlagen erarbeitet zu haben.
Psychologie heißt wörtlich übersetzt »Lehre von der Seele«. In der Psychologie unserer Tage handelt es sich praktisch um einen zweiteiligen Fragenkomplex, und zwar: um den Aufbau der Persönlichkeitsstruktur des Menschen und um seine daraus resultierenden Verhaltensweisen gegenüber seinen Mitmenschen. Dem Aufbau der Person widmet sich die sogenannte »Individual-Psychologie«. Mit ihr wollen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen.
Wir haben uns daran gewöhnt, die menschliche Seele in zwei Abteilungen zu gliedern: das Ober- und das Unterbewußtsein. Obwohl natürlich innerhalb einer Person diese Zweiteilung nicht strikt stattfindet, weil Ober- und Unterbewußtsein sich wechselseitig bedingen, so hat sich doch diese Einteilung für pädagogische Zwecke ausgezeichnet bewährt. Uns geht es ja im Zusammenhang mit diesem Buch und im Hinblick auf seine Zielsetzung nicht darum, mit wissenschaftlicher Akribie spitzfindige Definitionen zu erarbeiten; vielmehr sollen die wesentlichen psychologischen Zusammenhänge so dargestellt werden, daß sie von jedem intelligenten Laien erfaßt und in die Praxis des Berufsalltags übernommen werden können.
Das Oberbewußtsein ist jene Kategorie der menschlichen Persönlichkeit, die vor allem durch die Denkprozesse bedingt wird. Etwas überspitzt und sehr vereinfacht können wir auch formulieren: Das Oberbewußtsein ist mit dem Denken identisch. Und obwohl wir uns alle auf unsere Intelligenz und unser Vermögen zum logischen Denken sehr viel einbilden, spielt das Oberbewußtsein im Ablauf des menschlichen Lebens eine recht bescheidene Rolle. Gesteuert werden wir durch unser Unterbewußtsein. Ihm wollen wir uns zunächst zuwenden, weil es in erster Linie für den charakteristischen Aufbau unserer Persönlichkeit zuständig ist.
Im Unterbewußtsein (oder wie manche Autoren sagen: im Unbewußten) sind die Triebe und Antriebe lokalisiert. Ein Trieb ist psychologisch definiert als ein Bedürfnis, dessen Nichtbefriedigung zum Tode führt. Derartige Bedürfnisse kennt der Mensch drei: Hunger, Durst und Schlaf. Wobei, nebenher bemerkt, der Schlafentzug am schnellsten zum Exitus führt. Die sogenannten Antriebe sind jene Kräfte, die uns treiben, etwas ganz Bestimmtes zu »wollen«. Es seien hier nur einige wesentliche hervorgehoben: Selbsterhaltungstrieb, Geschlechtstrieb, Mutter- beziehungsweise Bruttrieb, Machttrieb, Herrschsucht, Habgier. Schließlich entstehen im Unterbewußtsein auch die sogenannten »Aggressionen«. Auf sie kommen wir später noch zurück.
Ein ganz wesentlicher Tatbestand sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervorgehoben, und zwar deshalb, weil er in der Praxis viel zu wenig berücksichtigt wird: Jeder Trieb beziehungsweise Antrieb ist mit Energie besetzt! Man kann den Menschen somit als lebendes Energiepotential betrachten. Und jeder, der einmal Gelegenheit hatte zu beobachten, wie ein Tobsüchtiger von mehreren kräftigen Männern gebändigt werden mußte, oder wer einen epileptischen Anfall bei einem Mitmenschen erlebte, hat eine schwache Vorstellung davon erhalten, wie ungeheuer groß dieses Energiepotential in uns ist! Dieses Potential hat der menschlichen Rasse (im Verein mit den Leistungen des Gehirns) nicht nur das Überleben auf diesem Planeten ermöglicht. Es stellt auch eine Garantie dafür dar, daß wir die Zukunftsaufgaben meistern werden – wenn wir diese Energie sinnvoll einsetzen! Tatsache ist jedenfalls, daß die meisten Menschen von ihrer seelischen Energie nur zu einem Bruchteil Gebrauch machen. Und das ganze Gejammere über den Leistungsdruck unserer Industriegesellschaft wirkt einfach lachhaft, wenn man weiß, welches Potential wir brach liegenlassen!
Energie hat, wenn sie erst einmal entstanden ist, die Tendenz, sich in Bewegung umzusetzen. Es gibt keine »ruhende Energie«. Deshalb treiben uns die mit Energie besetzten Triebe, etwas zu tun. Und dieser jedem Physiker selbstverständliche Tatbestand macht uns das Leben mit den Trieben so schwer. Denn alles, was im Unterbewußtsein angesiedelt ist – Triebe, Antriebe, Verdrängtes etc. – hat die Tendenz, sich rücksichtslos durchzusetzen – ganz gleich, wie unsere äußere Gesamtsituation beschaffen ist! Wir werden auf diese Gegebenheit noch zurückkommen.
Alles menschliche Handeln läßt sich durch folgendes Schema versinnbildlichen:
D. h.: Der Mensch hat ein Motiv (oder mit einem deutschen Wort: ein Bedürfnis); jedes Motiv ist aber zielorientiert. Und danach richtet sich dann unser Verhalten.
Dazu ein paar ganz einfache Beispiele:
- Der Mensch hat Hunger (das ist sein Motiv); sein Ziel heißt: Sättigung; sein Verhalten: Er wird essen.
- Oder: Ein Mensch hat ein sehr ausgeprägtes Geltungsbedürfnis; sein Ziel: Anerkennung durch seine Mitmenschen; sein Verhalten: besondere Leistungen auf irgendeinem Sektor.
Wenn wir also mehr über das menschliche Verhalten wissen wollen, über unser eigenes so gut wie über das unserer Mitmenschen; wenn wir, was ja noch wesentlicher ist, das Verhalten anderer Menschen richtig einschätzen, voraussagen oder verändern wollen – dann müssen wir mehr über die Bedürfnisse wissen. Ganz konkret gefragt: Welche Bedürfnisse hat der Mensch?
Wir können die menschlichen Bedürfnisse zunächst einmal grob in drei Kategorien einteilen:
- physische Bedürfnisse,
- soziale Bedürfnisse,
- psychische Bedürfnisse.
Zu den physischen Bedürfnissen zählen jene Triebe und Antriebe, die unser Leben und die Erhaltung der Art sicherstellen: Hunger, Durst, Schlaf, Selbsterhaltungstrieb, Geschlechtstrieb.
Zu den sozialen Bedürfnissen zählen jene Antriebe, die dem Menschen das Leben mit seinen Mitmenschen, speziell in einer Gruppe, ermöglichen. Auf dieses Thema werden wir im 2. Kapitel näher eingehen.
Zu den psychischen Bedürfnissen zählen jene »höheren« Bedürfnisse, die der Mensch befriedigen muß, um sein Selbstwertgefühl zu steigern. Hierher gehören vor allem das Geltungsbedürfnis und der Drang nach Selbstverwirklichung.
Der amerikanische Psychologe A. H. MASLOW hat sich lange und eingehend mit den menschlichen Bedürfnissen beschäftigt. Seine Forschungsergebnisse schlugen sich in einer sogenannten »Bedürfnispyramide« nieder, die in vereinfachter Form wie folgt dargestellt wird:
MASLOW – und das ist das Interessanteste an seiner Theorie – spricht von einer Bedürfnis-Hierarchie. D. h., die Stufen seiner Pyramide, von unten nach oben betrachtet, symbolisieren gleichzeitig die Reihenfolge, in der diese Bedürfnisse befriedigt werden müssen.
Demnach hat für den Menschen zunächst einmal das Überleben absolute Priorität: Er braucht zu essen und zu trinken, muß eine Schlafgelegenheit haben und die Möglichkeit, sich fortzupflanzen. Dann strebt er danach, seine Existenz abzusichern. Früher tat er das, indem er sich in Höhlen oder Baumkronen einnistete, Pfahlbauten über dem Wasser errichtete oder feste Burgen auftürmte. Heute geschieht diese Absicherung vorwiegend in monetärer Weise: Der Mensch spart sich einen »Notgroschen« und schließt Versicherungen ab. Wenn nun die Existenz abgesichert ist, geht der Mensch daran, seine sozialen Bedürfnisse zu befriedigen: Er baut sich einen Freundes- und Bekanntenkreis auf, tritt Vereinen bei oder betätigt sich politisch. D. h., er betont seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft, er integriert sich in sie.
Es gibt keinen Zweifel darüber, daß die meisten Menschen zufrieden sind, wenn sie die ersten drei Stufen der Bedürfnispyramide hinter sich gebracht haben. Wer so viel verdient, daß er sich den Lebensstandard leisten kann, der ihm seiner Ansicht nach zusteht, ein Auto vor der Tür hat und jedes Jahr eine Urlaubsreise nach Spanien oder Nordafrika machen kann, will in der Regel nicht mehr. Und nichts fürchtet er mehr, als daß in dieses System Unordnung, d. h. Unsicherheit, kommen könnte. Deshalb wählt auch der größte Teil unseres Volkes eine Partei, die unter dem Motto: »Keine Experimente!« verspricht, daß alles so bleibt, wie es ist. Denn Experimente auf politischer Ebene, wie z. B. Reformen aller Art, tragen stets das Risiko des Scheiterns in sich. Und ein derartiges Risiko möchten nur wenige...