SPIEGEL Titelbild 28/1995 Der sanfteste Tyrann: Bundestrainer Herberger
SPIEGEL-TITEL 28/1954
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In Washington ließ Sir Winston Churchill seinen Blick über dieses Jahrhundert schweifen und meinte, die Völker hätten im „Jahrhundert des kleinen Mannes eine sehr rauhe Zeit gehabt“. Jetzt aber könnten angesichts der atomaren Gewalten Politik und Geschichte nur noch einen Sinn haben: den kleinen Leuten überall, auch in Rußland, die Chance zu gönnen, „Spaß zu haben“. Woran? „Am Fernsehen und am Fußballspiel“, sprach Sir Winston, der späte Friedensfürst.
In der gleichen Woche noch erhoben sich die kleinen Leute Deutschlands, die eine besonders rauhe Zeit hatten, erhoben sich mit Geschrei vor Fernsehschirmen(1) und an Fußballfeldern der Weltmeisterschaft(2). Vor aller Welt gaben sie sich, als hätten sie nun, Ende Juni 1954, nach zwanzighundertjährigem geschichtlichem Irrweg den alleinigen verheißungsvollen Sinn und die wahre Bestimmung ihrer nationalen Existenz entdeckt. Deutschland erhob sich, und Europa erbebte, weil Josef Herberger, ein gemütlicher kleiner Mannheimer mit verwittertem Bergbauern-Gesicht, die von ihm trainierte deutsche Mannschaft zum größten Triumph der deutschen Sportgeschichte geführt hatte. Am Schluß des 3:2-Spiels gegen Ungarn sangen die deutschen Schlachtenbummler und Sportfunktionäre statt des bundesamtlich konzessionierten „Einigkeit und Recht und Freiheit“ das altvertraute „... über alles in der Welt“.
Nationale Begeisterungsstürme um sportliche Ereignisse hat es vorher schon gegeben: als Max Schmeling die Weltmeisterschaft erboxte, als die deutsche Olympia-Vertretung 1936 Goldmedaillen wie Fallobst sammelte. Niemals zuvor in Europa aber schäumten die kollektiven Gefühle der Deutschen so ausschließlich für nichts als ihre Fußballmannschaft. Früher feierten nationale Leidenschaften in Europa politische Triumphe, heute strömen die nationalen Empfindungen, die sich noch nicht „integrieren“ lassen, zum Sport ab. Sie verschärfen den Sport, „machen etwas aus ihm, was er nicht sein will“, wie Dutzende von Kommentatoren warnen. Aber umgekehrt entschärft auch der Sport die Gefühle. Sir Winston hat den neuen Instinkt der Völker gespürt, die Deutschen haben ihn genossen.
Wie Sternstunden oft, begann auch die Fußballerhebung mit einer tiefsten Erniedrigung, als die deutsche Nationalmannschaft in ihrem ersten Spiel gegen Ungarn am 20. Juni 3:8 überrollt wurde. Von den wirbelnden Magyaren wurde sie auseinandergenommen wie eine kaputte Uhr - vor den geweiteten Augen von 35 000 Deutschen, die, von lange aufgestauter Siegessehnsucht prall, wider alle vernünftige Aussicht auf einen Erfolg hofften, ja, ihn blindlings forderten.
Auf das braungebrannte Haupt des kleinen, versonnen blickenden Mannes von 57 Jahren, der still am Rand des Spielfelds hockte, schien sich in diesem Augenblick grauses Verhängnis zu senken. Seit Monaten schien der Zeitpunkt unerbittlich näherzurücken, an dem die wiedererwachte Nation den verräterischen Bundestrainer Josef Herberger an einem sauren Apfelbaum würde aufhängen müssen. Jetzt hielt man den Zeitpunkt für gekommen.
Herberger hatte ausgerechnet den klopffesten Superspielern aus Ungarn einen verlorenen Haufen von nur sechs Standard-Nationalspielern und fünf Ersatzmännern entgegengeschickt, um seine erste Garnitur für künftige Prüfungen zu schonen. Damit hatte er den langerwarteten Kampf im vorhinein verloren gegeben.
Als der Sport-Journalist Dr. Leo Hintermayr seine Debakelmeldung nach Deutschland telephonierte, schlug ihm ein Landsmann auf die Schulter und schrie erregt: „Schreiben Sie es aber auch rein, diese Gemeinheit! Der Herberger gehört wegen Sabotage vor Gericht.“
Die Journalisten schrieben es rein: „Herbergers taktisches Manöver schädigte den deutschen Sport“, knirschte der Westberliner „Abend“. In der „Welt“ zürnte Chefreporter Dr. Joachim Besser: „Dieses Spiel war das traurige Ergebnis einer taktischen Überlegung des Bundestrainers ... Ist das noch Sport ...? Für uns Deutsche war es eine beschämende Vorstellung.“
Nichts, so schien es, hatte der Bundestrainer unversucht gelassen, um die deutsche Niederlage zu sichern. Er hatte sich in ein paar überalterte, von Hannover 96 abgestrafte Trottel aus Kaiserslautern verliebt - vermutlich ihres katholischen Glaubens wegen. Die Matadoren des Nordens - wie Posipal - stellte er hinterlistig auf falsche Positionen. Er spielte defensiv, wo jeder normale Mensch offensiv spielen würde - und umgekehrt.
Drei Tage nach dem Ungarn-Fiasko jedoch preschten die fünf Aufrechten unverzagt aus Herbergers Schonung und überrannten die Türkei im Entscheidungsspiel um den Eintritt ins Viertelfinale 7:2. Jetzt strahlte jener Dr. Joachim Besser: „Sie bestätigten damit, daß Herbergers Taktik, gegen Ungarn nur mit zweiter Garnitur anzutreten, berechtigt war.“
Beim Spiel gegen Jugoslawien löste sich dann aus der lähmenden Spannung zwischen Durchhaltemut und Defaitismus der Erdrutsch. Aus dem Gewühl in ihrem Strafraum unterlief den Jugoslawen ein Selbsttor, und die deutsche Abwehr (der vorher allgemein für besonders schwach erkannte Teil der deutschen Mannschaft) begann, erbittert, „hingebungsvoll“ zu kämpfen, um den Vorsprung gegen die wütend anstürmenden Jugoslawen zu halten.
Zitternde Erregung pflanzte sich durch die Pressezellen fort. Rundfunksprecher Gerd Krämer warf in der zweiten Halbzeit seine Seltersflasche um. Dann riß ein gestikulierender Kollege dem Dr. Joachim Besser das Telephon vom Tisch. Schwitzende Finger preßten Taschentücher. Einer wurde kreidebleich, als wieder desperater Nahkampf vorm deutschen Tor malmte. „Ich kann das nicht mehr mit ansehen“, stammelte ein Reporter und verschwand. Ihm wurde schlecht. Wacker würgten die anderen, und mancher harte Mann verlor die Herrschaft über seine Tränendrüsen, als die Deutschen sich zu einem Durchbruch aufrafften und das befreiende 2:0 errangen. Langverschüttete Urquellen brachen auf.
Unterschwellig war der Strom, auf dem die Deutschen nun ritten. Österreich wurde ausgespielt, während deutsche Fanatiker auf den Tribünen Platzpatronensalven abfeuerten. „Ein solches Stürmerspiel haben wir bei dieser Weltmeisterschaft noch nicht gesehen“, staunte der stets reservierte Züricher „Sport“. In Berlin erlitt der 57jährige Feuerwehrmann Wilhelm Lange nach Schluß der Radioübertragung vor Erregung einen tödlichen Herzschlag unter den Augen seiner plötzlich verstummten Kollegen.
Durch die Gassen Wiens schlich pestilenzialische Trauer. Bundeskanzler Raab, der seine Koffer schon für Glückwunschreise und Endspielbesuch in der Schweiz gepackt hatte, mußte wieder auspacken.
In Bonn war der Sieg Tischgespräch beim Empfang für den Marschall Papagos. Diesmal hatte nicht nur Bundesinnenminister Gerhard Schröder, sondern auch Vizekanzler Blücher ein Glückwunschtelegramm geschickt, worauf Schröder, der die Zeichen der Zeit zu lesen versteht, wenn er sie sieht, keck den Kollegen Blücher fragte: „Seit wann gehören denn nationale Siege ins Ressort des Marshallplans?“
Wenn je ein Phönix aus der Asche stieg, wenn je ein Gerechter auffuhr aus dem Orkus schnöder Verachtung ins Licht der Ehre - sein Name war Herberger. Doch auch der Bundessepp war von der überpersönlichen Wucht des Umschwungs ein wenig überfordert. Noch als er in die Schweiz fuhr, winkte er alle Glückwünsche ab: „Na ja, wir sind wenigstens dabei.“ Was war geschehen? Herbergers Erklärung klingt zunächst wie eine ratlose Untertreibung: „Wenn ich die Mannschaft mal vier Wochen beisammen habe, dann sind wir eben dran.“
Immer wenn die Deutschen selbst nicht zu wissen scheinen, was mit ihnen passiert, klingeln in ausländischen Hirnen die Alarmglocken. Die italienische „Gazzetta dello Sport“ bibberte: „Das war Deutschland wieder einmal, wie es leibt und lebt. Teutonische Unberechenbarkeit, die sich auf den Fußballrasen geschlichen hat ...“ „Eine Orgie“ schrieb selbst die Londoner „Times“ zum Österreich-Massaker.
Der Franzose Hanot meint, daß die Wurzeln der sportlichen Leistung bei den Deutschen tiefer als sonstwo in unkontrollierbare Düsternis hinabreichen, woher die rätselhafte Fähigkeit rühre, in Augenblicken, in denen es am wenigsten erwartet wird, weit über sich selbst hinauszuwachsen, oder aber weit unter sich selbst zu sinken. Hanot fand das Luftballon-Aperçu: „Die Deutschen spielen einen metaphysischen Fußball.“
Aber das für die Deutschen selbst Überraschende und für die Nichtdeutschen Unheimliche am Furor Teutonicus ist nicht so sehr seine tatsächliche Wucht, vielmehr seine althergebrachte Eigenheit, aus Situationen der Schwäche und Zersplitterung, aus Stimmungen der Verwirrung und Mutlosigkeit scheinbar unvermittelt und unkontrollierbar hervorzubrechen. Der Kontrast zwischen lange währender Niedergeschlagenheit und plötzlicher Wallung ist es, der die Nachbarn Deutschlands in Unruhe hält.
Dieser Kontrast wird im deutschen Fußball besonders offen sichtbar. Mehr als andere Fußball-Nationen haben sich die Deutschen zerspalten und gegeneinander eingezäunt. Nach dem Krieg waren zwar an Stelle der alten „Gau-Ligen“ als oberste Spielklasse die sogenannten „Oberligen“ eingeführt worden, die die jeweils stärksten Vereine von Nord-, West-, Süd- und Südwestdeutschland zusammenfassen. Aber immer noch vertreiben die Liga-Angehörigen ihre Zeit...