1 Medizinische Trainingstherapie
„Wissen was gut ist und es nicht in die Praxis umsetzen, ist gleichbedeutend mit Mangel an Mut.“ (Konfuzius)
1.1 Vom Altertum zur Moderne
Schon in der Antike galt die Anleitung zum Selbstüben als ein sehr wichtiger Bestandteil der Therapie. Soranus von Ephesus (1.–2. Jahrhundert n. Chr.), dessen verlorene Schriften über akute und chronische Krankheiten durch den Arzt Caelius Aurelianus (um 400 n. Chr.) überliefert wurden, erklärte, dass bei Lähmungen der Patient die ersten Aufstehversuche aus einem Barbierstuhl (sella tonsoria) unternehmen soll und danach an einer Art Gehwägelchen das Gehen üben soll. Um die Gangsicherheit zu verbessern, soll der Patient auf einer Art Parcours üben, der aus unterschiedlichen Untergrundbeschaffenheiten und Hindernissen besteht (▶ [138]).
Von den Römern gelangten die Erkenntnisse vom Zusammenhang von Bewegung und Gesundheit über Byzanz zu arabischen und persischen Ärzten. Wir haben es der arabischen Kultur zu verdanken, dass das medizinische Wissen der griechischen und römischen Ärzte erhalten geblieben und von den arabischen Gelehrten weiterentwickelt worden ist. Abu Ali Sina (ca. 980–1037), der in Europa als Avicenna bekannt wurde, schrieb über 150 Werke. Er war eine der bekanntesten Persönlichkeiten seiner Zeit. Als persischer Universalgelehrter beschäftigte er sich neben der Medizin auch mit Physik, Philosophie, Astronomie, Alchemie und Musik. Sein bekanntestes Werk „Qanun“ (Canon Medicinae) war bis ins 17. Jahrhundert hinein eines der wichtigsten Lehrbücher der Medizin in Europa (▶ [138]). Die arabische Medizin wurde in erster Linie durch jüdische Ärzte aus Spanien und Portugal im mittelalterlichen Europa verbreitet. Danach beeinflusste die Kloster- oder Mönchsmedizin die Medizin im Mittelalter in Mitteleuropa. Diese Mönchsmedizin begriff die Hilfeleistung für Kranke als göttlichen Auftrag und in dieser Medizinphilosophie war ein gezielter Einsatz von Gymnastik oder Bewegung nicht vorgesehen. Erst die Renaissance brachte im 16./17. Jahrhundert wieder die Rückbesinnung auf die positiven Wirkungen von Bewegung auf die Gesundheit. Der italienische Arzt Hieronymus (Geronimo) Mercurialis (1530–1606) veröffentlichte 1569 sein Werk „De arte gymnastica“, in dem er die Bedeutung der antiken Gymnastik für die Erhaltung der Gesundheit in den Vordergrund stellte.
Pehr Henrik Ling (1776–1839), schwedischer Dichter und Autor, gilt als Erfinder der schwedischen Gymnastik und als einer der Väter der Massagetherapie. Ling zeigte nach seiner Reise durch Europa und seinem Dienst in der Armee Symptome von Rheuma und hatte Paralysen. Durch ein Training im Fechten erfuhr er eine körperliche Verbesserung der Symptome und schließlich wurde er vollständig rehabilitiert. Ling gründete danach 1814 das gymnastische Central-Institut in Stockholm. Das Institut wurde später dem Kultusministerium unterstellt. Ling leitete das Institut bis zu seinem Tod im Jahr 1839. Er entwickelte ein ganzes System von genau definierten Übungen, die in einer ganz bestimmten Abfolge durchgeführt werden mussten. Die „schwedische Gymnastik“ nach Ling beeinflusste über viele Jahre die Geschichte der Krankengymnastik (▶ [364]).
Der schwedische Arzt Gustav Zander (1835–1920) ließ in den Jahren nach 1850 ein System heilgymnastischer Geräte bauen und entwickelte die medico-mechanische Therapie. In den Jahren nach 1870 gründete Gustav Zander weltweit seine Zander-Institute, Deutschland wurde mit fast 80 Zander-Instituten führend. Der Gerätepark erreichte 1905 mehr als 70 Apparate. Ganz zu Recht kann Zander als der Protagonist und Erfinder der Fitnessstudios und des Franchise-Systems genannt werden. Ebenso war er ein Pionier und Wegbereiter der heutigen apparategestützten Trainingstherapie. Aus einem Zander-Institut, das vom Kieler Arzt Johann Hermann Lubinus als medico-mechanisches Institut geführt wurde, entstand im Frühjahr 1901 die erste in Deutschland staatlich anerkannte Lehranstalt für Heilgymnastik.
Die Frührehabilitation von Schlaganfallpatienten, wie sie zum Beispiel Tissot beschrieben hat, wurde nicht weitergeführt. Ganz im Gegenteil: in den Therapierichtlinien des allgemeinen Krankenhauses Wien wurden im Jahr 1888 Empfehlungen zur Behandlung von Schlaganfällen gegeben: „Apoplexia cerebrl. Gehirnblutung […] weiterhin strenge Bettruhe, flüssige Nahrung. Nach etwa 2 Monaten gegen die zurückbleibenden Lähmungen Faradisation der gelähmten Extremitäten. Gebrauch indifferenter Thermen. […] Zur Verhinderung weiterer Anfälle Sorge für regelmässige Stuhlentleerung.“ (▶ [225], S. 66).
Der Schweizer Arzt Heinrich S. Frenkel (1860–1931) war einer der Pioniere der neurologischen Rehabilitation. Er führte genaue Übungsanweisungen zur Behandlung der Ataxie bei Tabes dorsalis ein und erkannte, dass nur ein intensives in den Alltag integriertes Üben Erfolge bringt. Bei einer Untersuchung eines Tabes-dorsalis-Patienten ließ Frenkel den Finger-Nasen-Test durchführen. Der Patient schnitt beim Test schlecht ab. Einige Monate später kam derselbe Patient wieder zu Frenkel und schnitt beim Test erheblich besser ab. Frenkel konnte sich die Verbesserung nicht erklären. Auf die Nachfrage von Frenkel erklärte der Patient, er habe beim Test diesmal gut abschneiden wollen, deshalb habe er intensiv die Bewegung geübt. „Die wichtigste Eigenschaft der nervösen Substanz ist deren Übungsfähigkeit. Diese Eigenschaft beruht auf der Fähigkeit Eindrücke oder, ganz allgemein gesprochen, Zustände, welche wiederholt in gleicher Weise das Nervensystem ergriffen haben, in einer eigentümlichen Weise zu reproduzieren.“ (▶ [132], S. 105). Frenkel bemerkt auch, dass das Wie beim motorischen Lernen unbekannt ist, aber dass „der betreffende Vorgang sich häufig wiederholt hat“ und weiter: „Zur Erlernung irgendeiner neuen Tätigkeit müssen drei Factoren zusammenarbeiten: das Vorstellungsbild desselben, die Aufmerksamkeit, durch welche die Vorstellung eben in den Blickpunkt des Bewusstseins gerückt wird, und der wiederholte Ablauf der Tätigkeit.“ (▶ [132], S. 105). Hier beschreibt Frenkel die heute geltenden Vorstellungen über motorisches Lernen und die Möglichkeiten der Bewegungsvorstellung.
Ebenso sieht Frenkel die Notwendigkeit der Anpassung der Übungen an die Leistungsfähigkeit des Patienten (heute nennen wir dies „shaping“). Frenkel richtete ein Zimmer mit verschiedenen speziellen Trainingsgeräten ein, um mittels seiner speziellen Heilgymnastik die Fingerfertigkeit und die Mobilität seiner Patienten zu verbessern. Die Erfolge waren so gut, dass bald Patienten aus ganz Europa nach Heiden zu Frenkel kamen. Sein Ruf wuchs und immer mehr Ärzte besuchten ihn in seiner Einrichtung, um von seinen Erfahrungen zu lernen. F. Raymond, der Nachfolger von J. M. Charcot als Chefarzt vom Hôpital Salpêtrière, schickte seinen Assistenten R. Hirschberg nach Heiden. Hirschberg war von den Behandlungsmethoden von Frenkel so begeistert, dass er Raymond überzeugte und im Hôpital Salpêtrière den wohl ersten Gymnastiksaal in einer neurologischen Klinik einrichtete (▶ [454]). 1896 ging Frenkel nach Berlin und arbeitete an der Charité.
Otfrid Foerster (1873–1941), der zwei Jahre bei Frenkel in Heiden verbrachte, beschäftigte sich intensiv mit der Neurologie der Motorik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es noch kaum effektive Therapien in der Neurologie. Foerster veröffentlichte 1916 und 1936 in Handbüchern seine Gedanken zur motorischen Rehabilitation, er nannte es „Übungstherapie“ (▶ [125] und ▶ [126]). Er erarbeitete einen „Leitfaden“ zur Behandlung von zentralen Paresen (Übersicht 3.1, ▶ [139], S. 43).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Einrichtungen für Patienten mit Unfallfolgen sowie „Krüppelheime“ für Kinder mit frühkindlichen Geburtsschädigungen bzw. Missbildungen eingerichtet. Bis dahin wurden Patienten im chronischen Stadium von der gesetzlichen Krankenversicherung nicht unterstützt und waren auf die Armenhilfe der Kommunen angewiesen (▶ [288]). 1907 forderte dann der Orthopäde K. Biesalski den Aufbau einer öffentlichen „Krüppelfürsorge“ unter dem Motto „Almosenempfänger zu Steuerzahlern“.
1909 wurde dann die „Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge“ gegründet, die Vorgängerorganisation der heutigen „Deutschen Vereinigung für Rehabilitation“. Zwischen 1906 und 1914 wurde mit finanzieller Unterstützung des Fabrikantenehepaars Oskar und Helene Pintsch das Oskar-Helene-Heim gebaut zur Versorgung von orthopädisch und neurologisch behinderten Kindern und Jugendlichen. Dieses Heim gilt als erste deutsche Rehabilitationsklinik (▶ [138]). Im Oskar-Helene-Heim erhielten behinderte Kinder und Jugendliche eine medizinische Versorgung, besuchten die Schule, die dem Heim angeschlossen war und konnten an den eigens geschaffenen Werkstätten einen Beruf erlernen. Die Resultate dieser Rehabilitation waren so gut, dass der preußische Landtag 1920 das „Preußische Krüppelfürsorgegesetz“ einstimmig verabschiedete. Biesalski war maßgeblich an der Formulierung des Gesetzes beteiligt. Damit wurde zum ersten Mal ein Anspruch auf medizinische Behandlung und berufliche Eingliederung gesetzlich festgelegt (▶ [288]). Biesalski führte bis zu seinem Tod 1930 zusammen mit Hans Schütz (1875–1958), ein einflussreicher Protagonist der „Krüppelpädagogik“, das Oskar-Helene-Heim in Berlin. 1934 wurde das Heim der SS unterstellt und die führenden Ärzte des...