KAPITEL 1
Faszien: das vergessene Organ
Bis vor ein paar Jahren waren Faszien nur wenigen Insidern bekannt. Neben einigen alternativen Manualtherapeuten und im wahrsten Sinne des Wortes eingefleischten Wissenschaftlern hatte lediglich noch die Fleischindustrie ein Interesse daran, sich mit dem weißen, fasrigen Zeug auseinanderzusetzen – zartes Fleisch verkauft sich nun mal besser als zähes.
Zart oder zäh, diese Frage wird ganz wesentlich auf der Ebene des intramuskulären Bindegewebes entschieden. Einer kleinen Gruppe von Manualtherapeuten – allen voran den Osteopathen – war das muskuläre Bindegewebe bereits im letzten Jahrhundert ein Begriff. Bereits der Urvater der Osteopathie Andrew Taylor Still (1828–1917) hatte der Faszie außergewöhnliche Eigenschaften und eine umfassende Bedeutung für Heilung zugesprochen. Allerdings rein intuitiv, seine Erkenntnisse entzogen sich einer klaren wissenschaftlichen Grundlage. Dr. Ida Rolf, eine amerikanische Biochemikerin, entwickelte daraus das Rolfing, eine Bindegewebsmassage, und es entstanden weitere sogenannte myofasziale Therapien, die beachtliche Heilerfolge aufweisen konnten. Dennoch waren die dafür herangezogenen Erklärungsmodelle aus heutiger Sicht veraltet und nur wenig überzeugend.
Mittlerweile herrscht weltweit Aufbruchstimmung. Seit dem ersten internationalen Fascia Research Congress 2007, der an der renommierten Harvard Medical School in Boston stattfand, ist das Thema Faszien en vogue. Angeführt wird dieses Feld von Pionieren und Andersdenkern wie der jungen, aufstrebenden Anatomieprofessorin Carla Stecco (Universität Padua), die erst kürzlich in einem historischen Akt den ersten Faszien-Anatomieatlas der Medizingeschichte veröffentlicht hat. Oder von der führenden Faszienforscherin Dr. Helen Langevin (Harvard Medical School), die unter anderem herausfand, dass die Wirkung der Akupunktur auch auf eine Stimulation der bindegewebigen Kollagenfasern und der Kollagen produzierenden Zellen, der Fibroblasten, zurückzuführen ist. Und von dem spätberufenen Forscher Dr. Robert Schleip (Fascia Research Group, Universität Ulm), der seine Karriere als Psychologe und Körpertherapeut (Rolfer und Feldenkraislehrer) begann und inzwischen zum internationalen Netzwerker in Sachen Faszination Faszien avanciert ist.
Manches aus dem Bereich der aktuellen Forschung belegt altes intuitives Wissen und damit die dem unseriösen Bauchgefühl zugeschriebenen Erkenntnisse von Andrew Taylor Still und Kollegen. Manches muss aus heutiger Sicht relativiert und neu bewertet werden. Doch darüber hinaus führt das bislang von der medizinischen Forschung als relativ wertloses Füllmaterial vernachlässigte Gewebe in echtes Neuland. Und immer mehr entpuppen sich dieses bindegewebige Netz und sein flüssiger Gegenspieler, die Grundsubstanz, zu einem wahren Tausendsassa-Gespann, das an allen Ecken und Enden des Körpers zu finden ist. Im menschlichen Organismus sind Faszien nicht nur an jeder Bewegung beteiligt, sie sind offensichtlich mitverantwortlich für zahlreiche Krankheitsbilder wie chronische Rückenschmerzen und viele andere Formen von Weichteilbeschwerden. Sie interagieren unmittelbar mit dem autonomen Nervensystem und reagieren sensibel auf Stress, zudem scheinen sie unser größtes Sinnesorgan für die Körperwahrnehmung zu sein. Eine aktuelle, hoffnungsvolle Spur deutet sogar darauf hin, dass auch die Entwicklung von Krebs mit dieser Matrix des Lebens zu tun haben könnte – woraus sich möglicherweise neue Behandlungsansätze ergeben.
Noch stehen wir am Anfang und vieles bedarf weiterer geduldiger und fundierter Forschung. Eines zeichnet sich aber bereits ab: dass das bislang zum reinen Lückenbüßer verunglimpfte Gewebe derzeit einen nicht aufzuhaltenden Siegeszug antritt – mit weitreichender Bedeutung für Bewegung, Gesundheit und Therapie. Die modernen Untersuchungstechniken machen es möglich, das Zeitalter des Bindegewebes hat begonnen.
Vom Aschenputtel-Organ ins Rampenlicht
Erst seit Kurzem wissen wir also, dass das Bindegewebe eines der am meisten unterschätzten Gewebe unseres Körpers ist. Aktuelle Forschungen belegen, dass die Faszien eine wichtige Basis für die körperliche Gesundheit und sportliche Leistungsfähigkeit bilden. Die wissenschaftlichen Entdeckungen der internationalen Faszienforschung sorgen für aufsehenerregende Erkenntnisse, die eine Neuorientierung für den leistungsorientierten Sport und die medizinische Rehabilitation zur Folge haben.
Das gilt auch für alle Bewegungsprogramme, bei denen Gesundheit und körperliche Fitness im Fokus stehen. Faszien sind bei jeder Bewegung beteiligt – beim Laufen, Tanzen und Hüpfen, aber auch beim Werfen und Dehnen.
Gesunde Faszienstrukturen bilden schützende Gelenkkapseln, halten die Rückenmuskeln unter stabiler Spannung und sorgen für eine straffe Körperkontur. Als Sinnesorgan sorgen sie für ein geschmeidig-elegantes Bewegungsbild – und sie sind maßgeblich daran beteiligt, ob wir uns im eigenen Körper wohl- und zu Hause fühlen. Es gibt also genug Gründe, diesem faszinierenden Netzwerk nach Jahren der Vernachlässigung nun mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Gesunde Faszien – harmonische Bewegung
Unser Körper besteht zu einem überraschend großen Anteil aus Faszien. Bei einem erwachsenen Menschen sind es alles in allem 18 bis 23 Kilogramm Bindegewebe, die je nach Zusammensetzung und Bauweise unterschiedliche Aufgaben übernehmen.
Um zu verstehen, wie straffes und kräftiges Bindegewebe aufgebaut ist, schauen wir uns speziell die Faszien der Skelettmuskeln genauer an. Sie sind an jeder Bewegung beteiligt, erlauben es uns, aufrecht zu stehen oder zu sitzen, zu gehen und zu laufen. Sie sind aber auch beteiligt, wenn wir uns drehen, krümmen und hinhocken, wenn wir den Kopf bewegen oder einen Ball werfen. Der Grund: Die Skelettmuskeln werden umgeben und durchdrungen von einem Netzwerk aus Faszien, die nach einem klugen biologischen Bauplan angeordnet sind.
Faszien: das Ganzkörpernetz
Das muskuläre Bindegewebe ist ein dreidimensionales Geflecht, das den Körper in jede denkbare Richtung durchzieht: von oben nach unten, von vorn nach hinten, von außen nach innen. Wie der Name Bindegewebe also treffend beschreibt, verwebt es als körperweites Netzwerk Strukturen miteinander. Es bildet je nach Funktion und Belastung zugfeste Gurte und derbe Häute, formt aber auch sehr flexible Hüllen und zarte Beutel.
Das muskuläre Bindegewebe besteht im Wesentlichen aus Kollagenfasern und Bindegewebszellen sowie aus jeder Menge Wasser. Die kollagenen Fäden verdichten sich je nach Körperkontext und Anforderung zu flächigen Membranen, sie verweben sich aber auch in einer schier endlosen Kontinuität bis ins Innerste des Muskels hinein. Intramuskulär erscheint Kollagen als zartes Gespinst, um sich schließlich noch feiner aufzudröseln und jede einzelne Muskelfaser zu umgarnen. Daher sprechen wir in diesem Buch auch immer wieder vom kollagenen Netzwerk.
Das Orangenmodell
Um zu verstehen, wie die Faszien im Körper organisiert sind, eignet sich das Orangenmodell: Entfernen Sie die Schale einer Orange und schauen Sie an deren Innenseite, dann entspricht das sich darin befindende weißliche Fasergewebe der Oberflächenfaszie (Fascia superficialis), dem Unterhautfettgewebe. Diese obere Schicht ist deutlich abgegrenzt von der nächsten darunterliegenden, denn Sie halten zum einen die Schale und – getrennt davon – das in eine Hülle verpackte Fruchtfleisch als kompaktes Ganzes in der Hand.
Verblüffende Ähnlichkeit: Ob Orange oder Mensch – beide bestehen aus jeder Menge Wasser, das nach dem Beutel-in-Beutel-Prinzip geschickt verpackt ist.
Schnitt durch den Oberschenkel: Bindegewebe strukturiert den Körper in sogenannte Septen – vergleichbar mit den Schnitzen der Orange.
Analog dazu befindet sich beim menschlichen Körper unter dem Unterhautfettgewebe das Muskelgewebe, das komplett von der unmittelbar darunterliegenden sogenannten tiefen Faszie (Fascia profunda) umhüllt ist. Ich nenne diese Schicht im Training salopp den Cat-Bodysuit, da sie uns im Idealfall wie ein stramm sitzender Gymnastikanzug zusammenhält. Diese Schicht ist von zahlreichen Nerven und Blutgefäßen durchzogen und weist in jungen Jahren eine beträchtliche Zugspannung auf – zumindest solange die kollagenen Fasern straff gespannt sind. Erst mit dem Älterwerden, unter Bewegungsmangel oder bei schlechter Lebensführung gehen die Kollagenfasern regelrecht aus dem Leim. Dann verliert der Körper seine Spannkraft, er wird schlaff und wir fallen aus der bislang klar definierten Körperform.
Von Schnitzen und Septen
Bleiben wir beim Orangenmodell: Als Nächstes zerteilen Sie die Frucht in einzelne Orangenschnitze. Im Muskel bilden die Faszien stützende Trennwände, sogenannte Septen. Sie unterteilen den Muskel in kleinere funktionelle Einheiten. Vergleichbar mit den Orangenschnitzen sind auch einzelne Muskeln jeweils in eine kollagene Hülle verpackt, in das sogenannte Epimysium. Öffnen Sie einen Orangenschnitz, dann läuft Saft, aber Sie erkennen beim genauen Hinsehen auch, dass die süße Flüssigkeit in noch zartere Beutelchen verpackt ist. Übertragen auf die Organisation im Muskel entsprechen diese dem intramuskulären Bindegewebe, dem Perimysium. Doch die Kontinuität unseres Kollagennetzwerks reicht sogar noch weiter, es umgarnt als Mikrostruktur jede einzelne Muskelfaser. Diese hauchdünne Bindegewebsschicht heißt Endomysium.
Dr. Robert Schleip: „Unsere Skelettmuskeln bestehen meist nicht aus einem einzelnen Strang, der am Knochen angewachsen ist. Dann...