Musik – Hoffnung fürs Leben
Wo liegt die Kraft der Musik? Warum wollte ich unbedingt spielen?
Plötzlich war mir der Tag sehr nahe, an dem ich beschloss, Musikerin zu werden. Ich stand auf dem Marienplatz in München und spielte leise Summertime auf meinem kleinen Akkordeon. Es blieben nicht viele Leute stehen, doch einen Fan hatte ich. Ich glaube, er arbeitete hier irgendwo in der Gegend, jedenfalls kam er fortan bei Summertime.
Ich stand da ganz allein, die Töne sprachen aus mir heraus, eine Sehnsucht nach »Summertime«, Leichtigkeit, Sinnlichkeit. Jedenfalls eine Sehnsucht heraus aus der Schwere, eine Sehnsucht nach Poesie.
»And the cotton is high …« Der Geruch eines Feldes, kurz bevor geerntet wird.
»Fish are jumpin’ …« Es bedarf der Ruhe, der Muße, zu warten, bis Fische springen. Da muss man schon eine ganze Weile aufs Wasser blicken, bis sie das tun, und sie tun es nur, wenn es ruhig ist.
Ein Künstler auf dem Bauernhof
»Your daddy’s rich …« Mein Vater, ein einfacher Bauernsohn, arbeitete hart, bot all seine Kräfte auf, um seine Familie zu ernähren, vier Kinder, dazu zwei uneheliche. Er war bei Linde in Höllriegelskreuth beschäftigt, darauf war er sehr stolz. Was er dort eigentlich tat, bekamen wir nie wirklich heraus. Wir litten keine Not, er wollte unbedingt, dass wir, meine beiden Schwestern, mein Bruder und ich, studierten. Das war für ihn das Wichtigste: Eine Frau sollte Bildung haben. Diesen Drang nach Bildung, Unabhängigkeit, nach Selbstständigkeit gab er mir mit auf den Weg.
Meine Mutter konnte die Schule nur selten besuchen, mein Vater brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Seine eigene Mutter, meine Großmutter, kam mit einem großen Hut aus der Stadt nach Tegernbach auf den Hof meines Großvaters und musste ihn bewirtschaften. Mein Großvater hatte dazu keine Lust, er wollte lieber Theaterstücke inszenieren. Das tat er zweimal im Jahr mit Laiendarstellern. Das halbe Dorf spielte mit, er war der »Opa Kaiser«, bewundert und geachtet für sein Theater. Meine Oma war davon nicht so begeistert, sie musste für das Materielle sorgen, die Schweine im Stall füttern, das Feld bestellen, den Hopfen ernten.
»So a Künstler hod zwoa linke Händ!« Es war ihre Erfahrung mit meinem Großvater, dass er zu nichts zu gebrauchen war.
Mein Großvater sah das nicht so, seine Regiearbeit erfüllte ihn, wenn sie ihn nicht sogar rettete. Es heißt, er sei phasenweise schwer depressiv gewesen und hätte ohne das Theater vielleicht schon viel eher versucht, sich umzubringen. Seinen Selbstmordversuch mit 96 Jahren überlebte er.
All seine inszenierten Stücke hatten eine gewisse Tragikomik. Bei den Aufführungen wurde in Tegernbach laut gelacht. Ich schaute manchmal zu und fiel fast vom Stuhl vor Lachen. »Mogst mitschbuin?«, fragte er mich. Ich hatte keine Zeit, denn ich ging ja in München noch zur Schule.
So sehr dem Großvater sein Theater gefiel, so sehr litt meine Großmutter darunter, denn die ganze Arbeit auf dem Hof blieb an ihr hängen. Und dann gab es noch all die Frauen, die er liebte und die er mit nach Hause brachte. Gott sei Dank bekam sie das nicht mit, weil sie draußen auf dem Feld war. Die Beziehung zu meinem Großvater erkaltete dadurch dennoch. Es wurde nicht mehr miteinander gesprochen.
Mein Vater hat sicher mitgelitten mit seiner Mutter, dieser stummen, großen und starken Frau, die in der Früh aufstand und tat, was sie für notwendig hielt. Eiserne Disziplin und auch Demut vor den Tieren im Stall, die sie brauchten, zeichneten sie aus. Demut vor dem Feld draußen, das bewirtschaftet werden sollte, vor den Kindern, die essen wollten. All das übernahm sie. Zur »Oma Kaiser« wurde sie durch meinen Opa.
Einmal durfte ich dabei sein, als Ferkel auf die Welt kamen. Ich vergesse nie das warme rote Licht, und als mir die Oma dann so ein kleines nasses Ferkel auf den Arm legte, war ich überglücklich. Genau wie sie. Manche meiner Auftritte später kamen mir wie dieses Erlebnis vor: Alle grunzen und quietschen und allen wird es warm.
Als ich meinen Opa nach seinem Selbstmordversuch im Krankenhaus besuchte, machte er mit seinen Armen die Zugbewegung wie beim Akkordeonspielen. Er wollte mir Mut machen, nicht aufzugeben. Der Rest der Familie war sehr skeptisch bezüglich meiner Entscheidung, Musikerin zu werden. »Des is nix für a Frau«, waren sie sich einig.
Mein Großvater konnte meinen Wunsch verstehen. Er spürte, dass es mir Hoffnung gab fürs Leben.
Nahrung für die Seele
»And your ma is good-lookin’ …« Ja, meine Mutter war und ist wunderschön. Die reinste Poesie. Meinem Vater blieb die Luft weg, als er sie zum ersten Mal sah. Vor allem er, der mit einer Hasenscharte zur Welt gekommen war! Sie wertete ihn als Mann auf. Und sie war keine Feldarbeiterin, das übernahm er. Sie trug eine Hochfrisur wie aus einem Hollywoodfilm – Grace Kelly, eine Fürstin. Er wollte nicht, dass sich seine Frau so schinden muss, wie er es bei seiner Mutter erlebt hatte. Er wollte sie gut versorgen.
Meine Mutter liebte Harry Belafonte, diesen zarten gefühlvollen Mann, mein Vater liebte Mahalia Jackson, diese kräftige Seele einer Frau. Beide liebten sie Musik. Und so spürte ich, dass Musik etwas Besonderes sein musste. Anscheinend verband sie Menschen mehr als Sprache oder zumindest auf einer anderen Ebene. Musik war das Licht – aus dem Dunkel. Dem Dunkel des Krieges, der Nachkriegszeit, der Härte des Alltags? So ging es mir im Kopf herum. Musik berührte die Seele – was immer das auch sein sollte. Sie brachte etwas zum Schwingen, das man nicht sah, aber spürte.
Und das war es, was ich auf dem Marienplatz spürte, als ich Summertime spielte. Es war Nahrung für die Seele. Es gab etwas in mir drin, das Musik brauchte. Wo das war, wusste ich nicht. Ein geheimer Ort, ein innerer Tresor, der durch Musik geöffnet werden konnte. Der Heilige Gral? Etwas sehr Intimes wurde da berührt, ein Ort der Zärtlichkeit, etwas, das mir sonst meist fehlte, ein Hauch von Glückseligkeit.
»And the livin’ is easy …« Das kannte ich am allerwenigsten. Das Leben kam mir nicht leicht vor. Mein Vater arbeitete viel, unsere Wohnung war so groß wie die, in der ich heute allein lebe. Dort wohnten wir zu sechst, und mein Vater war schwer krank. Er trank viel, hatte einen gelähmten linken Arm, er litt – besonders, wenn er viel getrunken hatte –, noch immer unter seiner Internatszeit, sprach vom »Kuttenbruder«, weinte und verletzte sich selbst: Er zerschnitt sich mit einem zerbrochenen Weißbierglas die Arme. Wir spürten die innere Not des Vaters. Das prägte unseren Alltag.
»So hush, little baby, don’t you cry …« Traurigkeit war das Schlimmste. Bloß nicht traurig sein – das war die Devise meiner Mutter. Und sie war es doch.
Das spürten wir. Sie hielt aus und durch. Bewundernswert. Später verstand ich es kaum mehr, wie sie das geschafft hatte. Ich konnte einfach nicht so funktionieren. Wenn ich wenig geschlafen habe, bin ich unleidlich. Meine Mutter jammerte nicht. Das war der Preis für die Versorgung durch den Ehemann.
»One of these mornings you’re gonna rise up singin’ …« Ich stand auf dem Marienplatz und spielte, mit meiner Freundin Helga sang ich auch.
Zweistimmig. Das war besonders schön. Ich habe die Stimme meiner Mutter im Ohr, wenn sie sang. Da wollte ich bei ihr sein! Da war sie so schön für mich, so weich, so anders.
»Then you’ll spread your wings …« Ja, ich bekam Flügel, wenn ich spielte. Einmal sagte ein Bekannter: »Gebt’s ia die Quetschen in den Arm, da wead de ganz anders.«
»And you’ll take to the sky …« Die Musik war der Weg in den Himmel, weg vom Alltag, weg von der Schwere. Ein Weg in die Luft, ins Freie, weg vom Boden. Sehnsucht nach einer anderen Welt? Flucht? Sicher auch. Ausweg aus einem Trauma? Aber vor allem: Sehnsucht nach etwas, das Gefühl verspricht, Hoffnung, Liebe.
»But ’til this morning’, there’s nothing’ can harm you / Yes, with daddy and mammy, standing by …« Darin bestand wohl meine größte Sehnsucht: Beide sollten um mich herum sein, Vater und Mutter. Oft konnte ich diesen Text gar nicht ohne Tränen singen. Daher spielte ich das Lied lieber, als dass ich es sang.
Tatsächlich hatte ich als kleines Kind viele Monate lang allein im Krankenhaus gelegen. Nur einmal in der Woche war Besuchszeit. Die Musik gab mir jetzt so etwas wie ein mich umhüllendes Gefühl. Ich war nicht mehr einsam. Im Äther der Musik waren meine Eltern bei mir. So stand ich damals dann allein auf dem Marienplatz und fühlte mich geborgen.
Von außen sah das ganz anders aus: Da steht eine junge Frau, später auch noch schwanger, allein mit ihrem Akkordeon mitten auf dem Marienplatz mit einem Schrei in die Welt. Doch ich selbst fühlte mich endlich nicht mehr so allein. Ich war in der Welt. Das Akkordeon wurde zu meinem Begleiter, öffnete mir die Tore. Mit dem Akkordeon vor dem Bauch fühlte ich mich sicher. Dass es mich tatsächlich auch abschirmte, verstand ich erst viel später. Es wurde mein Schutz. Meine Eischale, die bloß nicht zu stark gedrückt werden durfte.
Aus der Erstarrung
Wie lange genau ich im Krankenhaus war, weiß ich nicht. Mit zwei Jahren wurde ich das erste Mal operiert. Die Krankenhausaufenthalte für die Operationen an beiden Beinen zogen sich über zwei Jahre hin. Die Besuchszeiten waren auf eine halbe Stunde wöchentlich beschränkt,...