Shendi. Als ich aus dem Bus steige, verspüre ich zum ersten Mal leichte Panik. Ich bin nicht vorbereitet auf das Herumstehen, aber ich muss erst mal nur so herumstehen, weil ich keine Ahnung habe, wie ich weitermache. Ich bin nicht vorbereitet auf die Rolle des Exponierten, der jetzt gemustert wird von den Menschen auf diesem Platz, weil er hier so auffällt. Es ist offensichtlich, dass ich nicht weiß, was der nächste Schritt sein könnte, und das erzeugt in mir eine unangenehme Nervosität. Ich bin so fehl am Platz wie eine Vogelspinne auf einer Kaffeetafel. Gut ausgeleuchtet stehe ich auf einer Bühne vor erwartungsvollen Zuschauern, das zwingt irgendeine Handlung herbei, fast automatisch.
»Hello, hotel?«
Ich erwarte auf keinen Fall, dass irgendein Mensch Englisch spricht. Was für eine verfehlte Frage. Ein Hotel, seriously? Shendi heißt dieser Ort hier, bislang war er nur ein Name auf der Landkarte, jetzt bekommt er Konturen. Eine Eisenbahnlinie führt durch den Staub, überall ist Sand, stehen sandfarbene Häuser, einstöckig und gedrungen, als wären sie aus dem Wüstensand herausgewachsen. Ein Hotel kann ich mir hier beim besten Willen nicht vorstellen.
Trotzdem oder gerade deswegen noch einmal: »Hotel? Guesthouse?« Ich bin auf die Sitzbank eines motorisierten Dreirads gestiegen, einfach weil ich etwas tun musste. Ein zweifelhafter Versuch, wieder Herr der Lage zu werden.
Der Mann am Steuer fährt los, dabei weiß er gar nicht, wo ich hinmöchte – was für eine unüberlegte Übersprunghandlung war das bitte? Ich wiederhole immer nur »hotel, hotel, hotel«. Die Betonung malt ein Fragezeichen in die Saharaluft, und der Mann lächelt und fährt mich durch die Straßen. Aber er versteht nichts. Mir kommt das Wort bald selbst unsinnig vor: ho-tel, o-tel, o-tääääl. Der Widerhall in meinem Kopf ist hohl, als hätte der Laut nie eine Bedeutung gehabt.
Sogar die Sprache wird an diesem Ort ungewiss.
Ich befinde mich ungefähr 180 Kilometer nördlich von Khartum, der Hauptstadt des Sudans, in einer kleinen Stadt am Nil. Der Fluss bildet auf der Landkarte einen schmalen grünen Streifen, ohne den man dieses Land nicht Land nennen könnte. Nur Wüste wäre sonst hier, ohne Leben, ohne alles. Die Sonne brennt heiß, dabei ist es März und eigentlich noch recht angenehm, verglichen mit dem Hochsommer.
Wie ich da im Rücken dieses Sudanesen sitze, der mich nicht versteht und irgendwohin fährt, wie die Menschen unserem Dreirad hinterherschauen, wie ich der Situation ausgeliefert bin, habe ich das Gefühl, dass die Dinge endgültig entgleiten. Dass ich davongetragen werde, ohne Kontrolle. Und gewissermaßen ist das ja auch der Fall. Als die Panik kurz davor ist, mich zu überwältigen, versteht der Fahrer plötzlich doch, was mein Anliegen ist: Schlafen will ich heute Abend irgendwo, ich suche eine Unterkunft.
In Shendi gibt es keine touristische Infrastruktur. Es ist eine einsame Wüstenstadt, auf halber Strecke ins Nirgendwo, ein Nest. Wie viele Ausländer waren in diesem Jahr schon hier? Wahrscheinlich kein einziger. Wir machen halt bei einem lokanda, so heißen die kleinen Gästehäuser in diesem sonderbaren Land. Es handelt sich um einen schmucklosen Steinbau in der Nähe des Bahnhofs. Die Rezeption ist ein Raum ohne Türen, darin nur ein alter Schreibtisch, dahinter ein Mann mit funkelnden Augen, die mich lesen wollen wie ein merkwürdiges Buch, dessen Sprache man nicht versteht.
Essan heißt der Besitzer des Gasthauses, und er spricht – das ist wirklich ein großes Glück – ein bisschen Englisch. Er führt mich durch den Hof zu einer Holztür, die nur von einem umgebogenen Nagel in ihrem steinernen Rahmen gehalten wird. Ich sehe einen Raum mit einem Holzbett und einem Schrank. Es gibt keinen Strom, kein Fensterglas, kein fließendes Wasser und keine Toilette: mein Zimmer für diese Nacht.
Ungefähr fünf Euro sind ein alberner Preis für etwas, das mir hier eine minimale Sicherheit bietet, das die Welt wieder in ein Draußen und ein Drinnen aufteilt. Ich hier drinnen: wieder unsichtbar, zur Ruhe kommend. Die Gegenwart da draußen: fremde Menschen, karge Wüste, keine Alternativen.
Doch die Einkehr währt nur kurz. Essan sagt, ich müsse jetzt zur Polizei.
Ganz schnell kommt mir der Gedanke, dass man aus meiner Hilflosigkeit Kapital schlagen will. Der Sudan hat, sagen wir mal, nicht die tadellosesten Behörden, und warum sollte ich jetzt zur Polizei müssen? Es ergibt keinen Sinn. Aber mir bleibt nichts anderes übrig.
Der Dreiradfahrer hat noch gewartet. Essan redet auf Arabisch mit ihm und weist mich an, noch einmal aufzusitzen, nur Mut, so eine Andeutung liegt in seinem Blick. Wir fahren drei Minuten. Die Polizei sieht nicht aus wie eine Polizei – ich betrete einen schmucklosen Raum an einer austauschbaren Sandstraße, darin ein schmutziger Schreibtisch, darauf einige Fetzen Papier. Der Mann auf dem Stuhl hat keine Uniform, er könnte auch ein Gangster sein. Aber er nimmt einen Kugelschreiber und schreibt irgendwas auf einen ausgerissenen Zettel, als ich ihm erzähle, dass ich in Shendi übernachten will. Das soll wohl eine Art Beleg sein, eine Erlaubnis, denke ich mir, der Ausländer hat sich registriert oder so ein bürokratischer Schwachfug. Der Mann will bloß keinen Ärger mit seinem Vorgesetzten. Mit dem Zettel geht es zurück zum lokanda. Der Polizist, der nicht wie einer aussah, hat meinen Pass sehen wollen. Das ist immer ein unangenehmes Gefühl, in so einer Situation im Ausland seinen Pass herauszugeben. Man fühlt sich plötzlich nicht mehr offiziell anwesend, und vor diesem Hintergrund kann schließlich alles mit einem passieren.
Ich bin nicht aus reinem Vergnügen im Sudan, ich will eine Geschichte über die antiken Tempel des Niltals schreiben, irgendwas zwischen Reportage, Reisefeature und Erlebnisbericht. Ich kann es noch nicht sagen, weil ich nichts weiß über diesen Ort, über diesen Teil der Welt. Das ist der Reiz.
Es ist nicht so, dass ich ein besonderes Interesse an der nubischen Geschichte hätte, am historischen Königreich von Kusch mit seinen schwarzen Regenten, die einmal, bevor Jesus Christus auf die Welt kam, Ägypten eroberten. Der historische Hintergrund, die Sehenswürdigkeiten – durchaus UNESCO-Welterbe, so ist es nicht – waren nur der Anlass, um etwas viel Existenzielleres zu tun: ein Abenteuer erleben.
In Shendi, dieser der Welt entrückten Wüstenstadt, wird klar, was damit gemeint sein könnte: Es geht darum, sich einer Situation auszuliefern, ohne Netz und doppelten Boden. Menschen ansprechen, sich durchfragen, Fremden komplett vertrauen. Ohne dies gibt es kein Fortkommen.
Ich habe kein Hostel, keine Adresse, kenne keinen einzigen Europäer im Umkreis von hundert Kilometern, habe weder Internet noch Handyempfang, mein Besitz steckt in einem kleinen Rucksack, Zeug für fünf Tage. Was ich sagen will: Es gibt keinen Rückzugsort.
Ich lege mein Schicksal in die Hände dieser Leute, von denen ich nichts weiß.
Dieser Zustand ist das, was ich mit einem Mal als Abenteuer erkenne, und er führt mir die vielen anderen, vermeintlichen Abenteuer als falsche vor Augen. Großartige, tolle Erlebnisse zwar, aber eben oft Abenteuer-Simulationen, die ja, wenn man nur einmal die Reisekataloge anschaut, seriell hergestellt und kommerziell vermarktet werden.
Falsche Abenteuer? Da erheben sich gleich die Einwände der Moralisten, die jedem sein Abenteuer zugestehen wollen, wie auch immer das aussehen mag. Schließlich sind wir ja alle unterschiedlich und so. Schon richtig. Grundsätzlich ist es ja aber so: Man kann beim Blick auf die Welt zwei gegensätzliche Rollen einnehmen: die des Kritikers und die des Buddha. Der Kritiker hinterfragt, dechiffriert, legt offen, prangert an – ob der Ton nun humorvoll oder scharf ist. Der Buddha beobachtet, belässt die Dinge, wie sie sind, wertet nicht, vermeidet die Kategorien »richtig« oder »falsch«. In welcher Situation welche Rolle angemessen ist, darüber könnte man nächtelang diskutieren.
Nehmen wir beim Blick auf das sogenannte Reiseabenteuer die Rolle des Kritikers ein: Kann es da wirklich ein Abenteuer sein, ein afrikanisches Land auf der zweiwöchigen komplett durchorganisierten Rundreise eines Reiseveranstalters zu entdecken? Es heißt nicht, dass eine solche Reise schlecht, falsch oder öde ist – sie kann die beste Reise des Lebens werden. Aber ein Abenteuer? Eine Geschichte, die man Jahre später als Abenteuer seinen Kindern oder Freunden präsentiert? Eher nicht.
Die Pauschalreise, bei der sich ein Veranstalter um die gesamte Durchführung der Reise kümmert, ist selten ein echtes Abenteuer. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass jeder Individualreisende ein ausgekochter Abenteurer ist. Denn in fast jedem vermeintlich aufregenden Land der Welt kann man sich letztlich hinter eine internationalisierte Infrastruktur zurückziehen: in das Hostel, in dem ein Lonely Planet im Bücherregal liegt und es Wifi gibt, wo man Menschen westlicher Staatsangehörigkeit trifft, wo man fragen kann: Hey, how are you? How long are you travelling? Can you recommend a place for dinner? Man kennt die Bedürfnisse.
Essan braucht einige Zeit, bis er versteht, was mein Vorhaben ist, und es scheint ihm einigermaßen absonderlich vorzukommen: dass der weiße Typ in die Wüste will, ja wirklich mitten in die Wüste, zum Tempel von Naga (es handelt sich dabei um eine Sehenswürdigkeit für meine Recherche). Wie ließe sich das anstellen?
Essan ruft einen Freund an, der mit einem Auto herbeikommt. Er heißt Ahmed, und diesem Ahmed,...