1.4 Wahrheit und Realität einer Mediengesellschaft
Wo landen alle Kommunikationsversuche von Organisationen? An wen richten sie sich? Im Allgemeinen an eine Öffentlichkeit, um deren Meinung zu beeinflussen. Aber gibt es überhaupt die eine Öffentlichkeit und eine öffentliche Meinung zu einem Thema, einem Trend, einem Produkt oder einem Unternehmen? In der postindustriellen Gesellschaft kann Öffentlichkeit nicht mehr durch die Anwesenheit einander bekannter Personen hergestellt werden 31 . Öffentlichkeit und öffentliche Meinung sind Fiktionen, die operativ angenommen werden (vgl. Merten / Westerbarkey 1994: 191f.). Die Systemtheorie liefert auch hier die ersten Ansätze für eine kommunikationswissenschaftliche Definition von virtueller Öffentlichkeit (vgl. Ebenda: 198f.).
„Mithin ist Öffentlichkeit die jeweils unterstellbare Verbreitung und Akzeptanz von
Kommunikationsangeboten, und genau genommen besteht sie bereits dann, wenn wenigstens
zwei Menschen ähnlich informiert sind und dieses aufgrund von Kommunikation auch
voneinander erwarten können.“ (Ebenda: 198).
Mit den modernen technischen Entwicklungen und der Globalisierung in einer, wie eben beschriebenen Medien- und Informationsgesellschaft geht eine Differenzierung und eine Beschleunigung einher, die es immer schwieriger macht, Begriffe wie Öffentlichkeit und öffentliche Meinung zu definieren und für den Moment zu benennen. Der Kollektivsingular einer öffentlichen Meinung kann unter diesen Bedingungen nicht aufrecht erhalten werden (vgl. Theis-Berglmair 2005a: 338). Unternehmen haben internationale Kunden aus den verschiedensten Kultur- und
II Kapitel: Das interaktive Kommunikationsverständnis der PR im 21. Jhd.
Marketing- und Medienwirkungsforscher stehen immer wieder vor der Dualität, dass sie weder eine eindeutige Wirkung von Massenmedien, Werbung und Public Relations noch Wirkungslosigkeit letztendlich beweisen können: „das ist ja die große generelle Herausforderung: PR Erfolgskontrolle, Nachhaltigkeit von PR ist schwierig, weil wir nicht alleine dastehen.“ (Interview 3 / 148). Die Branche lebt von vagen Vermutungen und Beschwichtigungen, dass genügend Werbung 33 oder Kommunikation schon irgendeinen Rezipienten erreichen wird. Die Zahlen der Werbewirkungsforschung über durchschnittliche Betrachtungszeiten von Anzeigen oder Fernsehwerbespots sind dabei nur wenig aussagekräftig (vgl. Kroeber-Riel 1989: 133). Dennoch ist Werbung ein fest etabliertes Medium, um die Öffentlichkeit anzusprechen und Meinungen zu beeinflussen. Auch bei einer Definition von öffentlicher Meinung in den Kommunikationswissenschaften ist man inzwischen von den politischen Diskursmodellen eines Habermasschen Idealmodells 34 von Öffentlichkeit abgewichen, hin zu einem allgemeineren systemtheoretischen Definitionsversuch, der auf Luhmann zurückgreift (vgl. Theis-Berglmair 2005a: 335ff.). In diesen Spiegel- bzw. Beobachtungsmodellen ist öffentliche Meinung eine thematische Struktur, „Sinnkomplexe, über die man reden und gleiche, aber auch verschiedene Meinung sein kann“ (Luhmann 1975: 9f.). Übereinstimmung gibt es nicht mehr über Meinungen, sondern nur über die Akzeptanz von Themen in der öffentlichen Kommunikation (vgl. Theis-Berglmair 2005a: 341). Die Beschreibung von Theis-Berglmair geht über Luhmann hinaus, der Öffentlichkeit als Umwelt
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von Beobachtungen zweiter Ordnung geschaffen und andererseits wächst der Kommunikationsdruck auf Unternehmen, da jede Reaktion auf Kommunikation oder Kritik von außen ebenfalls beobachtet wird. Auf der anderen Seite ergeben sich verstärkte Einfluss- und Kommunikationsmöglichkeiten von seiten des Unternehmens. Diese Möglichkeiten nutzte kürzlich eine PR-Agentur zur Vermarktung eines Kundenproduktes. Es wurden fünf fiktive Persönlichkeiten erschaffen ohne ersichtliche Verbindung zum Unternehmen, die sich auf ihren Blogs und Videos 36 präsentierten und dabei auch das neue Parfüm des Kunden verstärkt positiv zur Sprache brachten (vgl. Eck 2007). Diese Entwicklungen berücksichtigend kann man also nicht nur von einer Mediengesellschaft, sondern auch von einer Medienöffentlichkeit sprechen, die sich durch immer neuere Techniken ständig erweitert (vgl. Theis-Berglmair 2005a: 343f.). Auf der anderen Seite bleibt die Frage, was genau uns die Massenmedien verkaufen. Objektive Nachrichten, den Spiegel der Realität in der wir leben oder eine eigens konstruierte Realität, gesteuerte und gezielt selektierte Informationen, hinter denen ein Konglomerat aus den verschiedensten Interessengruppen und Machtverhältnissen steht? Die Fragen nach der Wahrheit, nach der Objektivität von Journalisten und Medien sind keine neuen und beschäftigen auch die PR-Branche immer wieder. Alfred Marquart befasst sich in seinem Buch ‚Wahrheit mit beschränkter Haftung - Vom Umgang mit den Massenmedien’ schon 1976 mit dieser journalistisch ethischen Grundproblematik und kommt zu dem Schluss, dass es gerade im Journalismus nur eingeschränkte
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„Alles, was man im Fernsehen sieht, im Hörfunk hört, in Zeitungen liest, ist so nicht passiert,
ist falsch. Die Welt, wie wir sie anhand unserer Massenmedien begreifen, ist eine Erfindung
der Journalisten.“ (Marquart 1976: 13).
Die massenmediale Welt als Erfindung, als reine Fiktion 37 ? Es fällt schwer zu glauben, dass selbst die scheinbar seriösen Nachrichtenmagazine uns keine realen Informationen über unsere Welt liefern können. Auch Wolf Schneider sieht diese Problematik und spricht von einer ‚Desinformation’ oder genauer von Fehlinformationen in den Medien, die akzeptiert werden (vgl. Schneider 1984: 7ff.). Die Sachzwänge des Journalismus und die notwendige Selektivität macht die Presse zum Zerrspiegel der Wirklichkeit:
„Die Meinung ist frei, doch worüber die Bürger überhaupt Meinungen haben können, das
haben zuvor zu einem erheblichen Teil die Journalisten per agenda-setting 38 entschieden.“
(Ebenda: 16).
Schneider sieht in der Selektions- und Entscheidungsleistung auch die Macht der Journalisten. Diese Leistung macht die Gruppe der Journalisten so wichtig für Public Relations. Informationen können perfekt abgestimmt und journalistisch gerecht auf die jeweiligen Medien und deren Leser aufbereitet sein und andere Beeinflussungsmöglichkeiten wie z.B. enge persönliche Beziehungen können benutzt werden. Letztendlich entscheidet der Journalist oder seine Vorgesetzen darüber, ob und wie er die Informationen öffentlich machen möchte. Der Erfolg von Kommunikation in der PR bleibt deshalb noch über die Selektionsleistung hinaus spannend. Eine Veröffentlichung garantiert noch keine Aufmerksamkeit, geschweige denn die Aufnahme der erwünschten vermittelten Botschaft im Idealfall gefolgt von einer Handlungsumsetzung beim Rezipienten. Die Selektionsmacht der Journalisten, gepaart mit der stilistischen und visuellen Aufbereitung und Platzierung, schafft eine neue Realität: die Medienwirklichkeit (vgl. Schneider 1984: 7ff.). Der subjektive Standpunkt beeinflusst die Beobachtung, die Wahl der Platzierung, Größe und
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mediengerechte Auswahl treffen. Dabei sind sie vielen Zwängen, wie z.B. dem Arbeitsverhältnis, Machtstrukturen, den Anforderungen der Rezipienten, Versuchungen wie Bestechung und Erpressung und unlösbaren Problemen, wie der Angewiesenheit auf andere Quellen, Nachrichtenagenturen, Zeugen - kurz auf viele verschiedene Mitschöpfer an der Medienrealität - angewiesen (vgl. Schneider 1984: 21ff.). Dieses komplexe Gefüge aus Interessengruppen, Macht und Finanzen führt zur Veränderung von Nachrichten und Manipulation. Trotz des kritischen Blickes auf die Medien, ist die Welt so komplex geworden, dass unsere Gesellschaft diese Selektionsleistungen, Wertungen, Beurteilungen und Meinungen, die uns die Massenmedien liefern, braucht. Deshalb beziehen wir viele Informationen über die Welt aus den beiden großen Gruppen der modernen Massenmedien: den Print- und den elektronischen Medien (vgl. Neuber 1993: 14). Wir neigen dazu, diese Welt als zumindest bedingt real anzusehen. Ohne eine gewisse Glaubwürdigkeit, die Rezipienten den Medien und ihren vermittelten Botschaften schenken, wären die Medien wirkungslos und zumindest das kann empirisch widerlegt werden. In zahlreichen Studien von der Werbe- und Kommunikationsbranche lassen sich zwar die unterschiedlichsten Wirkungen messen, aber nie eine völlige Wirkungslosigkeit der Werbung oder der Massenmedien im Allgemeinen beweisen (vgl. Kalt 1989). Ein scheinbar einfacher Vorgang: Menschen reagieren auf ihre Umwelt und beeinflussen diese wiederum. In einer vernetzten, globalen, Medien- Wissens- und Informationsgesellschaft nimmt diese einfache Gleichung allerdings kompliziertere Züge an als noch in regional begrenzten Gesellschaften des letzten Jahrhunderts. Massenmedien sind heute ein zentraler Bestandteil unserer Welt...