Einleitung
Service ist wie darstellende Kunst: Er ist nicht materiell, er ist immer wieder einmalig, er entsteht im Zusammenspiel mit dem Kunden, er wird individuell völlig unterschiedlich wahrgenommen, und er lebt via Kommunikation. Deshalb ist Service nur schwer standardisierbar, schwer planbar, schwer kalkulierbar, schwer messbar. Das allein hat exzellenten Service schon immer zu einer besonderen Herausforderung für Unternehmen gemacht. Jetzt kommen weitere Herausforderungen dazu:
- > Der Kunde lebt im Dauerstress.
- > Der Kunde leidet unter der Informationsüberflutung.
- > Der Kunde kauft und kommuniziert über viele Kanäle.
- > Der Kunde will Klasse und Masse, Reales und Digitales.
- > Der Kunde »fühlt« öffentlich im Web 2.0.
24/7: Leben ohne Atempause
Wir haben keinen »normalen« 9-to-5-Job mehr, sondern sind sieben Tage in der Woche durchgehend auf Abruf: 24/7 heißt die neue Formel. Wir haben keine durchgeplanten Biografien mehr, die von einer Karrierestufe zur nächsten und bis zur wohlverdienten Rente führen. Stattdessen wird biografischer Wirrwarr zur Normalität: Wir arbeiten immer in mehreren Projekten gleichzeitig, beantworten Kundenanfragen per Smartphone schon um 6 Uhr am Frühstückstisch oder um 23 Uhr aus dem Hotelbett, holen hektisch die Kinder aus der Tagesbetreuung und die Hemden aus der Reinigung, bestellen zwischendurch alles Lebensnotwendige im Internet und sind heilfroh darüber, dass der Friseur nebenan die Pappkartons mit unseren Online-Bestellungen im Hinterzimmer zwischenstapelt. Wir legen Wert auf schöneres Wohnen, sind aber kaum zu Hause.
»Die Herausforderung besteht nicht länger darin, noch mehr oder noch bessere Produkte anzupreisen, sondern auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnittene Dienste anzubieten«, schreibt Dr. Martina Kühne, Senior Researcher am GDI Gottlieb Duttweiler Institut. Sie analysiert wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen in Konsum, Shopping, Einzelhandel und Dienstleistungen. »Wir wollen als Kunden nicht noch einen Kühlschrank, sondern einen Service, der dafür sorgt, dass er stets angemessen gefüllt ist. Und wir wollen kein besseres Auto, sondern einen Dienst für Mobilität auf Abruf. Innovation verbessert nicht länger Produkte, sie ermöglicht den Kunden, ihr Leben besser zu bewältigen – so lautet die neue Servicelogik.«1
»Zuvielfalt«: Leben ohne Orientierung
Das Leben bewältigen: Das heißt heute etwas völlig anderes als für die Generationen vor uns. Lehnten sich zum Beispiel die Menschen in den 1950er- und bis hinein in die 1970er-Jahre noch gegen zu wenig Freiheit, zu enge Moralvorstellungen, zu wenig Wahlfreiheit auf, so haben wir heute das umgekehrte Problem: Nicht ein zu enges soziales Korsett nimmt uns die Luft zum Atmen, sondern eine geradezu absurde Zahl von Möglichkeiten – ganz gleich, ob es um die Wahl einer medizinischen Behandlung oder eines Toastbrots, eines tragbaren Kleincomputers oder einer Haftpflichtversicherung, einer Religion oder einer Einlegesohle geht. Innerhalb dieser »Zuvielfalt« müssen wir uns zurechtfinden, entscheiden und zugleich selbst verwirklichen – am besten erfolgreich. Denn in einer Zeit, in der unser Geschick unserer Vorstellung nach nicht mehr von oben gelenkt wird (vom gnädigen Fürsten, vom lieben Gott etc.), sondern nur mehr von uns selbst, gibt es niemanden mehr, den wir für unser Scheitern verantwortlich machen können.
So kommt es, dass jede Entscheidung als existenzielle Prüfung empfunden wird, dass Menschen sich orientierungslos, überfordert und erschöpft fühlen. Und so kommt es, dass Kunden sich von jedem Anbieter und am liebsten von jedem Produkt wünschen: »Sprich mit mir!«
Genau hier setzt die »neue Servicelogik« an: Sie bietet »Lösungen statt Produkte, individuelle Hilfestellung statt Massenkonsum« – so jedenfalls sieht es Andreas Steinle, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts, Kelkheim.2 Neue Dienstleister werden uns dabei helfen, den Alltag outzusourcen: »Dienstleistungen, Service und Hilfestellungen zwischen Kind und Karriere, Beziehung und Beförderung werden sich in den nächsten Jahren noch stärker zu einer Unterstützungsökonomie formieren.« Vier Märkte zeichnen sich Steinle zufolge in diesem Feld ab:
- > Familien-Services wie Baby-Hotels oder Reiseangebote mit Kinderbetreuung,
- > Health-Services von Tourismus-Anbietern, Versicherungen oder Kosmetikherstellern,
- > Everyday-Services von persönlichen Assistenten, Trainern oder Ärzten,
- > Genuss-Services von Wellness-Hotels, Buchläden oder Banken.
Doch auch klassische Service-Experten wie Hotels oder Friseure müssen umdenken. Denn exzellenter Service bedeutet nicht unbedingt »mehr« Service und »mehr« Kommunikation, sondern einen »genau richtigen« Service samt Kommunikation. So genießt es der eine Hotelgast, keine unnötige Zeit beim Frühstücken verschwenden zu müssen und dafür eine wunderbare Kaffeemaschine nebst kleinem Snack im Zimmer vorzufinden. Kommunikation mit dem Servicepersonal: Nein, danke! Wohingegen der andere exzellenten Service in einem opulenten Frühstücksbüffett und einem freundlichen Small-Talk sieht. Ähnlich empfindet die eine Friseurbesucherin einen Halbtagesbesuch im Salon inklusive ausführlichem Gespräch über geplante Urlaubsreisen als puren Luxus-Service, wohingegen die andere einen schwatzfreien Blitz-Hausbesuch vor Arbeitsbeginn bevorzugt.
Die universelle Formel für Service und Kommunikation gibt es nicht. Beides muss heute so individuell sein, wie Menschen unterschiedlich leben, arbeiten und konsumieren.
Markt, Mall, Mobile: Der Kunde kauft immer und überall
Im Handel hat sich so viel geändert, dass Service und Kommunikation völlig neu gedacht werden müssen. Werfen wir kurz einen Blick zurück:
- > Traditionell kauften die Menschen auf Märkten ein. Langsam entwickelten sich Produktehandel, Manufakturwarenhandel und mit der Kolonialzeit auch der Handel mit Kolonialwaren – zumeist in Form kleiner Ladengeschäfte. Service bestand zu dieser Zeit vor allem in einer freundlichen Kommunikation mit dem Kunden und in der Erfüllung der Kundenwünsche.
- > 1852 öffnete in Paris das erste Warenhaus, das alles unter einem Dach anbot: Das Maison du Bon Marché galt als Palast des Kommerzes, der die Konsumwünsche des Adels und des Großbürgertums zu erfüllen versuchte. »Der Kunde wurde zum König gekrönt, und das Warenhaus blieb mehr als ein Jahrhundert lang sein Königreich«, resümiert die Studie »Einkaufen 4.0« von Deutsche Post DHL und tns Infratest.3 Service wurde zum exklusiven Luxus, die Kommunikation mit dem Kunden zu einem Akt der Demut.
- > Nur wenige Jahre später entstanden in europäischen Großstädten wie Paris, Brüssel oder Leipzig die ersten Passagen aus Glas und Stahl, besonders prachtvoll zeigt sich zum Beispiel die Galleria Vittorio Emanuele II, die 1867 in Mailand eröffnet wurde und heute Luxusmarken-Läden wie Prada, Gucci oder Louis Vuitton und gehobene Gastronomie beherbergt.
- > Schon wenige Jahre später verwirklichte der Unternehmer Ernst Mey die Idee, statt Vertretern bebilderte Kataloge in die hintersten Winkel der Provinz zu schicken. So entstand 1886 das Versandhandel-Konzept, das andere Unternehmer sehr schnell kopierten. Service und Kommunikation umfassten nun nicht mehr die persönliche Bedienung des Kunden, sondern vielmehr eine professionelle Abwicklung von Bestellung, Bezahlung und Logistik.
- > 1930 öffnete der erste Supermarkt in New York – endlich durften Kunden selbst in die Regale greifen. Einfache Einkaufszentren folgten überall in den USA, ab den 1960er-Jahren auch in Deutschland. Mit der zunehmenden Zahl der Privatautos schossen auch die Zahl und die Größe der Einkaufszentren auf der grünen Wiese in die Höhe. Während das Konzept in den USA heute offenbar an seine Grenzen stößt, werden in Asien immer größere Megamalls eröffnet: zum Teil mit mehr als 1000 Geschäften wie die Dubai Mall (350 000 Quadratmeter). Damit wurde die Bandbreite von Service und Kommunikation noch größer: vom angenehmen Parken über perfektes Gebäudemanagement (Beispiel Klimaanlage), Orientierungshilfen, Unterhaltungsangeboten bis hin zu exzellentem Service innerhalb der einzelnen Läden.
- > 1995 läutete Pionier Jeff Bezos mit seinem ersten Online-Shop (sein damals kleiner Buchladen www.amazon.de) eine neue Ära das Handels ein. Seitdem haben immer mehr Einzelhändler und Filialisten zusätzliche Online-Stores eröffnet, während große, traditionelle Versandhändler wie Neckermann die Revolution nicht überlebt haben. Zugleich ist der Handel mit Gebrauchtwaren über Portale wie eBay, aber auch über Online-Giganten (heute: www.amazon.de) sprunghaft gewachsen. Dieser Wandel zog neue Herausforderungen in Kommunikation und Service nach sich: von zuverlässigen Paketdiensten (hin und retour) in der realen bis hin zu zuverlässigen Bezahlwegen in der digitalen Welt.
- > 2007 führte die Einführung des Apple-Smartphones iPhone zu einem...