Erster Tag:
Von Berlin nach Lindau am Bodensee
Samstag, den 15. August
Die Stadt sagt nichts. Sie döst im schmeichelnd fahlen Morgenlicht und atmet eine dieser würzigen Sommernächte aus, die Berlin so attraktiv machen. Sie hat Tauben zum Gurren einbestellt. Die Vögel sind schmutzig, grob und grau, aber sie sind mein Zuhause. Soll ich’s mir anders überlegen?
Seit Monaten rüste ich zum Aufbruch. Ich habe mir vorgestellt, wie es ist, die Alpen zu überschreiten, und versucht, die Vorstellung nicht wieder zu verlieren, während ich mich mit der Route beschäftige. Ich habe mir eine Ausrüstung angeschafft, habe «korrosionsbeständige» und «ermüdungsresistente» Aluminiumwanderstöcke mit «integriertem Dämpfungssystem», mit «Neopren gefütterten Systemschlaufen» und «Vari-Flexspitze» gekauft. Mit einer Liste an Wichtigkeiten in der Tasche bin ich an den mit Farben und Stimmen gefüllten Straßencafés vorbeigegangen. Ich konnte mir problemlos vorstellen, in der Stadt zu bleiben. Gestern Abend habe ich Helm, Seil und Biwaksack in meinem Rucksack verstaut. Draußen ging ein Gewitter los. Die Straßenbäume warfen eine große Ladung Laub ab. Plötzlich war Herbst. Und mein Gepäck viel zu schwer.
Ich bin jetzt die Besitzerin einer schwarzen Daunenweste, die das Talent hat, sich im Rucksack ganz klein zu machen, am Körper jedoch riesigen Komfort zu entfalten. Bald werde ich sie nur noch «mein Wohnzimmer» nennen. Ich besitze einen Hüttenschlafsack, der in meine Hosentasche passt. Ich besitze hauchdünnes Papier, das sich in Seife verwandelt, wenn ich draufspucke. Sollte ich mich verlaufen, kann ich in meinem reißfesten roten Biwaksack übernachten, den ich so weit zuziehe, dass nur noch mein Gesicht rausguckt. Ich werde auf dem Rücken liegen, in den Himmel schauen, und wenn der Scheinwerfer des Hubschraubers mich berührt, werden auf meinem Kokon vier Buchstaben aufleuchten: HELP. Meine Retter brauchen nicht einmal zu landen. Sie müssen bloß den Biwaksack, in dem ich liege, an einem Seil befestigen, um mich zu bergen.
Lieber nicht.
Wenn die Wasserflaschen gefüllt sind, dürfte der Rucksack zwölf Kilo wiegen. Die Haustür kracht hinter mir zu. Der erste Schritt fühlt sich anders an als der zweite, der dritte, der vierte … Es geht los.
***
Aus der Ferne betrachtet, bestehen die Alpen aus unzähligen Höhenlinien in Braun, Schwarz und Blau, die auf den Schweizer Wanderkarten Erdboden, Geröll und Gletscher anzeigen. Die Linien krümmen sich, sind mit Zahlen versehen, halten mal mehr und mal weniger Abstand. Sie teilen einem mit, ob man einen Hang hinauf oder steil bergab muss. Die Alpen bestehen aus Felsblöcken, Moränen und Einschnitten. Es gibt Höhlen, Schlipfe und Dolinen. Es liegt einiges im Weg, und es gilt vieles zu beachten. Einschnitte spalten den Gesteinskörper mitunter sehr tief. Höhlen bieten nicht zwangsläufig Schutz. Wo ein Schlipf ist, bewegt sich die Erde. Möglicherweise. Bei Regen. Wie stark muss es regnen? Manchmal rutscht ein ganzes Dorf ab. Das Gebirge bürgt für nichts. Es bietet Erfahrungen, aber kein sicheres Geleit.
Unter den Alpweiden im Oberen Toggenburg verbergen sich unzählige Dolinen. Große Löcher im Erdboden münden in trichterförmige Röhren von mehreren Metern Durchmesser, die bis zu einem halben Kilometer tief in die Erde reichen. Wenn die Bauern das Weideland von Geröll befreien, werfen sie die Steine in die Dolinen und lauschen, wie sie im Fall gegen die Bergwände schlagen. Sie hören es donnern.
Einmal passieren Heidi und ich bei Nebelwetter den Toggenburger Höhenweg. Wir gehen langsam, weichen den Dolinen aus und bleiben dicht beisammen. Aus der Ferne betrachtet, handelt es sich bei den sogenannten Donnerlöchern eben bloß um Löcher.
Warm ist es an diesem Tag, rasch geht unser Wasservorrat zur Neige, und plötzlich haben wir keinen einzigen Tropfen mehr. Die Alpen bestehen auch aus Quellen, Bächen und Flüssen. Nicht aber dort, wo Regen und Schmelzwasser über Dolinen ins Erdinnere entschwinden. Vor einiger Zeit hat man verschiedene fluoreszierende Farbstoffe in die unterirdischen Höhlengewässer im Oberen Toggenburg gekippt. Dann hat man wochen- und monatelang in den Quellen der näheren und weiteren Umgebung nach dem leuchtend bunten Wasser gesucht. Man fand es, alle Farben vermischt in einer einzigen Quelle, südlich der angrenzenden Gebirgskette. Aus der Ferne betrachtet, sind die Alpen nicht mehr als das, wozu unser Vorstellungsvermögen ausreicht.
***
Der ICE bremst, rollt ein Stück, bremst wieder, hält. Der Zugführer meldet einen Schaden am hinteren Triebkopf. Einer der Reisenden im Großraumwagen erhebt die Stimme. Er spricht die Worte «hinterer Triebkopf» in einem Atemzug mit dem Wort Eschede aus. In Eschede hat sich vor Jahren ein verheerendes Zugunglück ereignet. Ein anderer Mann meint, der Triebkopf sei nicht schuld gewesen. Ein Dritter erzählt von einem ICE, der kürzlich arglos durch die Bundesrepublik gerast ist. Nahe der Stadt Offenbach signalisierten ihm die entgegenkommenden Züge, dass sein hinterer Triebkopf lichterloh brennt. Ein vierter Mann mischt sich ein. Er ist sich sicher, dass wir nichts zu befürchten haben. Unterdessen lese ich in einer Zeitschrift, dass Männer im Dunkeln besser hämmern. Frauen wiederum treffen bei Licht die Nagelköpfe mit größerer Zielsicherheit als Männer. Allerdings sei schlechte Beleuchtung heutzutage die realistische Heimwerkerbedingung.
Nach einer Stunde Bremsen, Rollen, Bremsen stehen alle ICE-Reisenden auf dem Bahnhof von Ulm. Ulm hat alle Anschlusszüge fahren lassen. Ulm hat sich auch entschieden, keine Bänke für Wartende aufzustellen. Nur Heidi und ich sind auf unerwartete Zwischenfälle eingerichtet. Wir fläzen uns auf den schmuddeligen Bahnsteig und trinken lauwarmen Prosecco aus der Dose.
Heidi ist bei mir, weil ich Ehrfurcht habe. Weil ich ins Unbekannte will. Weil vier Augen mehr sehen als zwei. Weil Alleinsein gefährlich werden kann. Sie heißt nicht wirklich so. Ihr echter Vorname hat Grazie. Aber in der spröden Natur oberhalb der Vegetationsgrenze hat er nichts verloren. Wenn ich den Namen rufe, zerrt der Wind dran, reißt ihn in Stücke und schleudert ihn an eine Felswand. Heidi hingegen ist eine robuste Buchstabenkonstruktion. Einmal ruhen wir beim Alpenüberqueren auf einem sonnigen Kamm aus. Das üble Wetter staut sich in den Schluchten unter uns, gerade haben wir uns über eine graue Wolkendecke gekämpft. «Das ist alles sehr beeindruckend», sagt Heidi, «aber es kann nicht mein Herz erweichen.» Tage später sucht sie nach einem stundenlangen, steilen Aufstieg über schlechtmarkierte Hänge zwischen riesigen Kuhfladen auf einer hohen Alp einen Platz zum Frühstücken. Sie findet einen Stein, setzt sich drauf, isst aber nicht, sondern heult plötzlich los. «Es ist … so … schön», schluchzt sie. Heidi ist stabil, aber auch dünnhäutig. Ein Name wie ein Berg.
Lindau hat ebenfalls einen passenden Namen. Er bedeutet «Insel, auf der Lindenbäume wachsen». Die historische Altstadt steht nicht auf dem Festland, sondern auf einer Insel im Bodensee. Kursschiffe brechen von hier ins österreichische Bregenz und nach Rorschach in die Schweiz auf. Eine prächtige Mauer aus Südtiroler Sandstein umschließt das Lindauer Hafenbecken. Die Schiffe werden durch eine enge Ausfahrt zwischen zwei steinernen Sockeln manövriert. Auf einem steht der einzige Leuchtturm von ganz Bayern, ein Seezeichen, das sein Signal in die Berge sendet. Auch der sechs Meter hohe steinerne Löwe, der auf dem anderen Sockel thront, dreht seiner Stadt den Rücken zu und blickt, auf seine riesigen Vorderpranken gestützt, hinüber ans andere Seeufer, den Nordrand der Alpen.
In der kleinen Lindauer Bahnhofshalle hängt das Gebirge in einer Vitrine. Orte, die auf unserer Wanderkarte dicht beisammen liegen, sind auf der Reliefkarte durch riesige Erhebungen voneinander getrennt. Manchmal weiß man über etwas Bescheid, aber wenn man es tatsächlich so vorfindet, erschrickt man doch.
Ein- bis zweihundert Millionen Jahre ist es her, da trieben auf der Erdkugel die Afrikanische und die Europäische Platte auseinander. Ein riesiges Meer entstand. Auf dem Boden lagerten sich Sedimente ab. Zweihundert Millionen Jahre später driftete die Afrikanische Platte wieder nach Norden zurück. Das Meer wurde gestaut und die gewaltigen Sedimentschichten zu einer Gesteinskette zusammengeschoben. Immer weiter driftete die Afrikanische Platte, bis sie sich mit der Europäischen verkeilte. Unter dem gewaltigen Druck und der großen Hitze, die dabei entstanden, wurde das Gestein verfestigt und zusammengefaltet. Es bildet den heutigen Alpenhauptkamm. Und immer noch drückt die Afrikanische Platte, schiebt Sedimentdecken übereinander und formt die Alpen zu einem Hochgebirge, das wie Plissee auf dem Europäischen Kontinent liegt. Um es von Nord nach Süd zu überqueren, muss man in andauerndem Auf und Ab die Falten überwinden.
Im Juni 1858 kam der bayrische König Maximilian II. mit einem Tross aus Kammerdienern und 42 Pferden in Lindau an. Die Stadt begrüßte ihn mit einem Spalier von Fackelträgern, das sich vom Bahnhof über die Hafenmauer bis zum Leuchtturm und zum Löwen hinzog. Der 57-jährige Monarch mit dem gezwirbelten Oberlippenbart, unter dessen hoher Stirn sich häufig nervöser Kopfschmerz breitmachte, war viel in seinem Land unterwegs. Dieses Mal brach er zu einer Tour von Lindau nach Berchtesgaden auf, am nördlichen Alpenrand entlang, vorbei an wackeren Menschen, die ein Leben in den Bergen zu meistern hatten. Er war Politiker. Das Wohlergehen seines Volkes, Brauchtum...