Mit Avventi, der für seine bereits erwähnte Dissertation ein umfassendes theoretisches Modell zum Thema erarbeitet hat, möchte ich behaupten, dass Wahrnehmung, Kommunikation und Identität ein System bilden, das „nur in Beziehung zu den jeweils anderen Komponenten dieses Systems gedacht werden können“.[31] Dennoch soll hier nun Kapitel für Kapitel jedes einzelne Teil dieser Triade untersucht werden.
Wahrnehmung erscheine „zumeist so selbstverständlich, daß sie nicht bewußt registriert wird. Sie funktioniert dem Anschein nach von selbst, ohne besondere Aktivitäten von uns zu verlangen.“, so Avventi zu Beginn seines Versuchs, den Begriff einzugrenzen.[32] Das Phänomen sei jedoch weitaus komplexer, als zunächst vermutet werden könnte. Zum Beispiel enthalte das Wahrgenommene oft mehr oder anderes „als im Reizangebot selbst zu finden ist.“[33] Am deutlichsten werde dies bei Wahrnehmungstäuschungen wie Halluzinationen: „Wahrnehmung ist vom wahrnehmenden Subjekt, von dessen körperlichem und mentalem Zustand, von seinem Wissen, seinen Gefühlsregungen, seinen Einstellungen usw. abhängig.“[34] Avventi schreibt weiter: „Wahrnehmung entsteht also –so könnte vereinfacht gesagt werden– aus der Verbindung eines wahrnehmenden Subjektes mit einem wahrgenommenen Objekt. Wird das Gleichgewicht dieser Beziehung zugunsten des einen oder anderen Elements gestört, so kann es im Extremfall zu einer Umwandlung der Wahrnehmung in Vorstellung oder zu einer unkontrollierten Reizüberflutung kommen.“[35]
Zum Thema Wahrnehmung gibt es eine sehr aussagekräftige Bemerkung von Wenders selber:
„[…] das schönere Wort für Sehen ist Wahrnehmen, weil da das Wort wahr drin ist. Das heißt, im Sehen ist für mich Wahrheit latent möglich. Viel mehr als im Denken, wo man sich viel mehr verirren kann, wo man sich entfernen kann von der Welt.
Für mich ist das Sehen ein In-die-Welt-Eintauchen und das Denken immer ein Abstand-Nehmen. [...] für mich ist das Sehen die Ausdrucks- und Eindrucksform überhaupt.“[36]
WAHR-NEHMUNG ist als Kategorie also wichtig für Wenders: „Geschichten vom Sehen, von der Suche nach wahren Bildern, machen den Kern von Wim Wenders’ Werk aus.“[37], schreibt Hasenberg. Er selbst hat einmal in einem Gedicht geschrieben: „Mein Beruf ist es, zu sehen und etwa Gesehenes zu zeigen.“[38]
Das Problematische an der Wahrnehmung, jedenfalls im TORMANN, ist nur, wenn sie „im Übermaß“ vorhanden ist. Dieses muss der Protagonist Josef Bloch am eigenen Leib erfahren; im Primärtext heißt es: „Alles, was er sah, störte ihn; er versuchte, möglichst wenig wahrzunehmen.“[39] Dieser Umstand ist allerdings unausweichlich, er ist ihm hilflos ausgeliefert: „[...] die Wahrnehmung läßt sich nicht so einfach abschalten wie der Fernseher, dessen Bilder man nicht erträgt. So ist Bloch gezwungen, wahrzunehmen, was ihn umgibt, und gleichzeitig immer deutlicher zu spüren, daß er gerade dies immer weniger aushalten kann.“[40] Das erklärt auch sein – zunächst überraschendes – plötzliches Übergeben ins Waschbecken in Sequenz 55: Vorher schweifen seine Blicke immer wieder durchs Zimmer.
Bloch also ist massiv gestört in seinen Wahrnehmungsfähigkeiten. Wie manifestiert sich das nun auf der filmischen Ebene?
Es lassen sich – im Folgenden eingehend untersucht – einige Motive und Metaphern, die direkt auf das Thema Wahrnehmung anspielen, sowie zahlreiche Indizes auf der filmtechnischen Ebene finden: vom Aufbau des Films, über seine Montage, die Kamera(Perspektive) zur Gestaltung der Geräuschkulissen.
Der filmische Aufbau ist episodisch, einzelne (chronologische) Erlebnisse werden aneinandergereiht. Trotz seiner vermeintlichen Krimianteile[41], folgt der Film keinem klassischen Spannungsbogen; er hat keine übergeordnete, „große Handlung“, die als Filter für alle Nebensächlichkeiten fungiert, Grund für alles Gezeigte ist. So erscheint die Welt „als Summe von Ausschnitten und das darin stattfindende Leben wird sinnbildlich gesprochen zur Kriminalgeschichte, in der jede noch so kleine Erscheinung eines besonderen Blickes würdig ist.“[42] – Wie äußert sich das?
Die Kamera bleibt an Details hängen, zeigt Kleinigkeiten, „unwichtige“ Gegenstände, die völlig losgelöst von der Handlung, ohne kausalen Zusammenhang für sich alleine stehen, und die Narration / Dramaturgie nicht vorantreiben. Vorgefundene Dinge, Oberflächen werden abgefilmt.[43] Die Handlung scheint dabei zweitrangig. Ein „Kino des reinen Blicks: Wo nicht die Handlung die Linie zieht, die das Tun der Helden bildet, sondern, ganz im Gegenteil, das Tun die Handlung immer aufs neue bestimmt.“[44]
Die von Wenders behauptete Spontaneität beim Dreh beweist, dass ihm Geschichten oft nur als Vorwand dienen, von ihm gefundene (und geliebte) Bilder zu zeigen.[45]
Diese Unterbrechungen im Aufbau (im Sequenzprotokoll auch als „autonome Bilder/ Einstellungen“ bezeichnet) geschehen keinesfalls immer im Sinne einer konnotativen Montage.[46] Siehe in Sequenz 51 der einzelne, am Baum hängende Apfel. Er ist allein der Faktizität der feststellbaren Wirklichkeit verschrieben. „Die Einstellung steht völlig außerhalb des Kontextes der Geschichte, sie ist ein Mysterium.“[47], so Wenders. Sie steht als Oberfläche für sich, und ist kein bedeutungsaufgeladenes Element des Films.[48]
Warum verwendet Wenders dieses filmische Mittel des Episodenhaften, der „fragmentarische[n] Atmosphäre“[49]? – Er gibt uns damit einen Rückschluss auf Bloch und die Welt, in der dieser lebt:
Bloch nimmt anders wahr, gibt sich in seinen Gedanken (ebenso wie unmittelbar in Aktionen) Details, „Unwichtigem“ hin, oder was „man“ gemeinhin dafür erachtet. So wie der Film an der Oberfläche bleibt, und teilweise zusammenhangslos aneinanderreiht, funktioniert auch Blochs Wahrnehmung. Sie ist nie kontinuierlich, geht nicht in die Tiefe. Oder geht dort in die Tiefe, wo andere längst umgeschaltet haben[50] Beispielsweise in Sequenz 43 insistiert er Hertha gegenüber auf Themen (u. a. Gesundheitsschuhe), die für sie – wie wahrscheinlich für die meisten – nicht interessant sind. Kurz vor dem Mord an Gloria, in Sequenz 24 (siehe auch die ausführliche Dialogmitschrift im Anhang 2) beschreibt er umständlich lange und außergewöhnlich akribisch eine Torwart-Situation, die Gloria mit interesselosem Gesicht quittiert.
Seine Gedanken verfolgen keine „übliche“ Ordnung, sind sprunghaft (entwickeln sich in keine Richtung – so wie sich ein Film im klassisch narrativen Sinne aufbauen würde) und sind von seiner Umwelt oft nicht nachvollziehbar. Signifikant dafür ist die Sequenz 65, wo er Hertha mit seiner Sprunghaftigkeit wütend macht: „Du machst mich wahnsinnig. Dauernd bringst du irgendwas in Unordnung. Du lässt die Schublade offen, wirfst die Jacke auf den Boden, reißt den Kalender unnötig ab, redest dummes Zeug; warum hast du das Radio angemacht? Und gleich lässt du den Aschenbecher fallen!“
Seine nervöse Ordnungslosigkeit symbolisiert hier sein gesamtes Dasein: er ist aus der „Ordnung der Welt“ gefallen: Am Anfang stört er die Ordnung eines Fußballspiels und wird ausgewiesen. Seine Welt ist aus den Fugen geraten[51], er beginnt sogar schließlich, so wird es in Sequenz 43 offenkundig, mit der Zahl 2 zu zählen, statt mit der 1.
Insofern haben wir es hier mit einer Analogie zwischen der Wahrnehmung des filmischen Aufbaus und filmischer Aussage über WAHRNEHMUNG zu tun.
Wie es den Bildern und Einstellungen untereinander oft an kausalen Zusammenhängen fehlt, so mangelt es auch Bloch an der Fähigkeit, Dinge kausal miteinander in Verbindung zubringen. Als Beispiel dient die Sequenz 23, in der er Gloria fragt, ob Ameisen in der Teekanne seien. Auf die nahe liegende Möglichkeit von optisch ähnlichen Teeblättern mag er gar nicht erst kommen. Die logische Verknüpfung Teekanne àTeeblätter kommt ihm nicht in den Sinn. Vielleicht verzichtet er auch darauf – jedenfalls nimmt er die Dinge einzeln, losgelöst, zusammenhangslos und fragmentiert, nicht als Einheit wahr.
Die oft gezeigten Zimmerdetails werfen Fragen auf: ein wehender Vorhang, eine Stuhllehne, darüber das Jackett. Wer nimmt sie wahr, gehören sie zu Blochs Wahrnehmung? Sie dienen nicht dem Aufbau der Handlung, sind, außer für Aufbau und Aussage des...