1. Es ist wunderbar, was durch Befolgung des Grundsatzes der Zuchtwahl vom Menschen erreicht werden kann, d.h. durch das Auslesen gewisser Individuen mit irgend einer gewünschten Eigenschaft, das Züchten von ihnen und wieder Auslesen u.s.f. Züchter sind selbst über ihre eigenen Resultate erstaunt gewesen. Sie können auf Unterschiede Einfluss äussern, welche für ein unerzogenes Auge nicht wahrnehmbar sind. Zuchtwahl ist in Europa nur seit dem letzten halben Jahrhundert methodisch befolgt worden; gelegentlich wurde sie aber, und selbst in einem gewissen Grade methodisch in den allerältesten Zeiten befolgt. Seit sehr langer Zeit muss auch eine Art unbewusster Zuchtwahl bestanden haben, nämlich in der Weise, dass, ohne irgend an ihre Nachkommen zu denken, diejenigen Individuen erhalten wurden, welche jeder Menschenrasse unter ihren besonderen Verhältnissen am nützlichsten waren. Das »Ausjäten«, wie die Gärtner das Zerstören der vom Typus abweichenden Varietäten nennen, ist eine Art von Zuchtwahl. Ich bin überzeugt, absichtliche und gelegentliche Zuchtwahl ist das hauptsächliche Agens in dem Hervorbringen unserer domesticierten Rassen gewesen; wie sich dies aber auch immer verhalten mag, ihr grosser Einfluss auf die Modification hat sich in neuerer Zeit ganz unbestreitbar herausgestellt. Zuchtwahl wirkt nur durch Anhäufung unbedeutender oder grösserer Abänderungen, welche durch äussere Bedingungen verursacht worden sind oder einfach in der Thatsache ausgedrückt sind, dass bei der Zeugung das Kind nicht seinem Erzeuger absolut ähnlich ist. Der Mensch passt durch sein Vermögen, Abänderungen zu häufen, lebende Wesen seinen Bedürfnissen an, – man kann sagen, er macht die Wolle des einen Schafs gut zu Teppichen, die des andern gut zu Tuch u.s.w.
2. Wenn wir nun annehmen, dass es ein Wesen gäbe, welches nicht bloss nach dem äussern Ansehen urtheilte, sondern die ganze innere Organisation studieren könnte, welches niemals von Launen sich bestimmen liesse, und zu einem bestimmten Zwecke Millionen von Generationen lang zur Nachzucht auswählte; wer wird hier angeben wollen, was hier nicht zu erreichen wäre? In der Natur treten irgend welche unbedeutende Abänderungen in allen Theilen auf; und ich glaube, es lässt sich zeigen, dass veränderte Existenzbedingungen die hauptsächliche Ursache davon sind, dass das Kind nicht ganz genau seinen Eltern gleicht; ferner zeigt uns die Geologie, was für Veränderungen in der Natur stattgefunden haben und noch stattfinden. Wir haben Zeit beinahe ohne Schranken; Niemand anders als ein practischer Geolog kann dies vollständig würdigen. Man denke nur an die Eiszeit, während welcher in ihrer ganzen Dauer dieselben Species, wenigstens von Schalthieren, existiert haben; während dieser Zeit müssen Millionen auf Millionen von Generationen gefolgt sein.
3. Ich glaube, es lässt sich nachweisen, dass eine derartige niemals irrende Kraft in der Natürlichen Zuchtwahl (dies ist der Titel meines Buches) thätig ist, welche ausschliesslich zum Besten eines jeden organischen Wesens auswählt. Der ältere DE CANDOLLE, W. HERBERT und LYELL haben ausgezeichnet über den Kampf um's Dasein geschrieben; aber selbst diese haben sich nicht eindringlich genug ausgedrückt. Man überlege sich nur, dass ein jedes Wesen (selbst der Elefant) in einem solchen Verhältnisse sich vermehrt, dass in wenigen Jahren, oder höchstens in einigen wenigen Jahrhunderten die Oberfläche der Erde nicht im Stande wäre, die Nachkommen eines Paares zu fassen. Ich habe gefunden, dass es sehr schwer ist, beständig im Auge zu behalten, dass die Zunahme einer jeden Species während irgend eines Theiles ihres Lebens oder während einiger kurz aufeinanderfolgender Generationen gehemmt wird. Nur einige wenige von den jährlich geborenen Individuen können leben bleiben, um ihre Art fortzupflanzen. Welcher unbedeutende Unterschied muss da oft bestimmen, welche leben bleiben und welche untergehen sollen!
4. Wir wollen nun den Fall nehmen, dass ein Land irgend eine Veränderung erleidet. Dies wird einige seiner Bewohner dazu bestimmen, unbedeutend zu variieren – , womit ich aber nicht sagen will, dass ich etwa nicht glaubte, die meisten Wesen variierten zu aller Zeit genug, um die Zuchtwahl auf sie einwirken lassen zu können. Einige seiner Bewohner werden vertilgt werden; und die Übrigbleibenden werden der gegenseitigen Einwirkung einer verschiedenen Gesellschaft von Bewohnern ausgesetzt sein, welche, wie ich glaube, bei weitem bedeutungsvoller für ein jedes Wesen ist als das blosse Clima. Bedenkt man die unendlich verschiedenen Methoden, welche lebende Wesen befolgen, durch Kampf mit anderen Organismen sich Nahrung zu verschaffen, zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens Gefahren zu entgehen, ihre Eier oder Samen auszubreiten u.s.w., so kann ich nicht daran zweifeln, dass während Millionen von Generationen gelegentlich Individuen einer Species geboren werden, welche irgend eine unbedeutende, irgend einem Theile ihres Lebenshaushalts vortheilhafte Abänderung darbieten. Derartige Individuen werden eine bessere Aussicht haben, leben zu bleiben und ihren neuen und ein wenig abweichenden Bau fortzupflanzen; die Modification wird auch durch die accumulative Thätigkeit der natürlichen Zuchtwahl in jeder vortheilhaften Ausdehnung vergrössert werden. Die in dieser Weise gebildete Varietät wird entweder mit ihrer elterlichen Form zusammen existieren oder, was noch häufiger der Fall sein wird, dieselbe verdrängen. Ein organisches Wesen, wie der Specht oder die Mistel, kann in dieser Weise einer Menge von Beziehungen angepasst werden – , die natürliche Zuchtwahl häuft eben diejenigen unbedeutenden Abänderungen in allen Theilen seines Baues, welche ihm während irgend eines Theils seines Lebens von Nutzen sind.
5. Vielerlei Schwierigkeiten werden sich mit Rücksicht auf diese Theorie einem jedem darbieten. Ich glaube, viele können völlig befriedigend beantwortet werden. Der Satz »Natura non facit saltum« beseitigt einige der augenfälligsten. Die Langsamkeit der Veränderung und der Umstand, dass nur sehr wenige Individuen zu irgend einer gegebenen Zeit sich verändern, widerlegt andere. Die äusserste Unvollständigkeit unserer geologischen Berichte beseitigt noch andere.
6. Ein anderes Princip, welches das Princip der Divergenz genannt werden kann, spielt, wie ich glaube, eine bedeutungsvolle Rolle beim Ursprung der Arten. Eine und dieselbe Örtlichkeit wird mehr Lebensformen erhalten können, wenn sie von sehr verschiedenartigen Formen bewohnt wird. Wir sehen dies in den vielen generischen Formen auf einem Quadrat-Yard Rasen und in den Pflanzen oder Insecten auf irgend einer kleinen, gleichförmige Verhältnisse darbietenden Insel, welche beinahe ausnahmslos zu ebenso vielen Gattungen und Familien wie Species gehören. Wir können die Bedeutung dieser Thatsachen bei höheren Thieren einsehen, deren Lebensweise wir verstehen. Wir wissen, dass experimentell nachgewiesen worden ist, dass ein Stück Land ein grösseres Gewicht an Heu abgibt, wenn es mit mehreren Species und Gattungen von Gräsern besäet war, als wenn es nur zwei oder drei Species getragen hatte. Man kann nun von jedem organischen Wesen sagen, dass es durch seine so rapide Fortpflanzung auf's äusserste danach ringe, an Zahl zuzunehmen. Dasselbe wird auch der Fall mit den Nachkommen einer jeden Species sein, nachdem sie verschieden von einander geworden sind und entweder Varietäten oder Subspecies oder echte Species bilden. Und ich meine, aus den vorstehenden Thatsachen folgt, dass die variierenden Nachkommen einer jeden Species es versuchen (nur wenige mit Erfolg), so viele und so verschiedenartige Stellen in dem Haushalte der Natur einzunehmen wie nur möglich. Jede neue Varietät oder Species wird, sobald sie gebildet ist, meist die Stelle ihrer weniger gut angepassten elterlichen Form einnehmen und sie zum Absterben bringen. Ich glaube, dies ist der Ursprung der Classification und der Verwandtschaften organischer Wesen zu allen Zeiten; denn organische Wesen scheinen immer Zweige und Unterzweige zu bilden, wie das Astwerk eines Baumes aus einem gemeinsamen Stamme heraus, wobei die gut gedeihenden und divergierenden Zweige die weniger lebenskräftigen zerstört haben und die abgestorbenen und verlorenen Zweige in ungefährer Weise die abgestorbenen Gattungen und Familien darstellen.
Diese Skizze ist äusserst unvollkommen; aber auf so kleinem Raume kann ich sie nicht besser machen. Ihre Fantasie muss sehr weite Lücken ausfüllen.
Ch. Darwin.
Als ich an Bord des »Beagle« als Naturforscher Süd-America erreichte, überraschten mich gewisse Thatsachen in hohem Grade, die sich mir in Bezug auf die Verbreitung der Bewohner und die geologischen Beziehungen der jetzigen zu der frühern Bevölkerung dieses Welttheils darboten. Diese Thatsachen schienen mir, wie sich aus dem letzten Capitel dieses Bandes ergeben wird, einiges Licht auf den Ursprung der Arten zu werfen, dies Geheimnis der Geheimnisse, wie es einer unserer grössten Philosophen genannt hat. Nach meiner Heimkehr im Jahre 1837 kam ich auf den Gedanken, dass sich etwas über diese Frage müsse ermitteln lassen durch ein geduldiges Sammeln und Erwägen aller Arten von Thatsachen, welche möglicherweise in irgend einer Beziehung zu ihr stehen...