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Über Goethe

Vollständige Ausgabe

AutorGeorg Simmel
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl125 Seiten
ISBN9783849617493
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Inhalt: Goethes Rechenschaft Die Stetigkeit in Goethes Weltbild Goethe und die Frauen Goethes Liebe Goethes Individualismus Polarität und Gleichgewicht bei Goethe Das Verhältnis von Leben und Schaffen bei Goethe Goethes Gerechtigkeit Goethe und die Jugend Das Goethebuch

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Leseprobe

Goethes Individualismus


 

Mit den frühesten Schritten des vorstellenden Bewusstseins muss sich in ihm die Individualität - nicht als allgemeiner Begriff, aber als wirksame, weltbildende Kategorie - zu entwickeln beginnen.

 

Denn indem überhaupt eine Mehrheit verschiedener Dinge zusammengeschaut oder zusammengedacht werden, steht das einzelne dem andern einzelnen oder der Gesamtheit, die es einbegreift, gegenüber, es ist eines, indem es ein anderes ist als andere.

 

Mit der ersten Empfindung von Unterschieden, deren Träger als Dinge vorgestellt werden, beginnt die Entwicklung der Individualität; und zwar setzt sie mit zwei Motiven ein.

 

Jede Existenz: ein Stein oder ein Baum, ein Gestirn oder ein Mensch, ist zunächst individuell, indem sie ein gesondertes Dasein besitzt, d. h. irgend eine Art von geschlossenem Umfang, innerhalb dessen sie ein in irgend einem Sinne Selbständiges und Einheitliches ist.

 

Hier kommt die von andern etwa unterschiedene Beschaffenheit des Wesens nicht in Betracht, sondern nur, dass dieses Stück des Daseins ein in sich zentriertes und - in welchem Maß auch immer- für sich bestehendes ist; gleichviel, ob es mit diesem Eigenbestande dann in Abhängigkeiten und weiteren Gesamtheiten verflochten ist.

 

Bestünde etwa die Welt aus lauter absolut gleichartigen Atomen, so würde ein jedes von ihnen, von jedem andern qualitativ ununterscheidbar, dennoch in diesem Sinne ein Individuum sein.

 

Dieser Begriff aber erfährt sozusagen eine Steigerung, sobald das Anders-Sein sich auf die Eigenschaften des daseienden Subjektes erstreckt.

 

Nun kommt es - in Anwendung auf den Menschen - nicht mehr nur darauf an, ein Andrer zu sein, sondern ein Anderes zu sein, als Andere; nicht nur im Sein, sondern auch im So-Sein sich von ihnen zu unterscheiden.

 

Das ganze denkende und praktische Leben der Menschheit läuft unter der Wirksamkeit dieser so differenzierten Kategorie ab.

 

In unendlichen Abstufungen der Entschiedenheit erfassen wir die Geteiltheit des Daseins als Individualisierung - von dem "einen" Stück toter, mechanisch trennbarer Materie bis zu der "unteilbaren" Seele des Menschen.

 

Alle Atomistik ist nur der reinste Ausdruck dieses fortwährend geübten Verfahrens: dass wir aus dem Dasein überhaupt Stücke aussondern, deren jedem wir ein Maß von Selbständigkeit zuschreiben; seine Eigenschaften haben hiermit nichts zu tun, es mag sehr viele oder sehr wenige besitzen, vergleichbare oder unvergleichbare - hier aber handelt es sich darum, dass Wesen als irgendwie selbstgenugsame Einheiten gelten, weil wir jedem von ihnen sozusagen ein volles Dasein zuschreiben.

 

So entscheidend für unsere Weltbildung diese Kategorie ist, so spitzt sich doch das Bewusstsein mehr nach ihrer Weiterbildung ins Qualitative zu.

 

Gegenüber Menschen wie Gegenständen ist unser Interesse und unsere Tätigkeit darauf gegründet, dass wir die Unterschiedenheit eines jeden gegen jeden kennen, und selbst festgestellte Gleichheit ist nur dadurch wichtig, dass sie etwas andres ist als die sonst oder daneben festgestellte Ungleichheit.

 

Diese Kategorien, die so gewissermaßen als reale Kräfte von jeher die Inhalte von Welt und Leben gestaltet haben, gewinnen nun in der Entwicklung des modernen Geistes ein über ihre reale Wirksamkeit hinausgehendes Bewusstsein.

 

Und zwar in der doppelten Form: einmal als rein abstrakte Begriffe, mit denen die Erkenntnis die Struktur der Wirklichkeit deutet, und dann als Ideale, zu deren immer vollkommenerer Ausprägung der Mensch die eigene und fremde Wirklichkeit zu entwickeln hätte.

 

In der Ideenwelt des 18. Jahrhunderts dominiert die differentielle Existenz des Menschen, das Gesammeltsein in dem selbständigen Punkt des Ich, die Gelöstheit eines für sich selbst verantwortlichen Daseins aus den Verschmelzungen, Bindungen, Vergewaltigungen von Geschichte und Gesellschaft.

 

Entzogen den Durchbrechungen seiner persönlichen Grenze, mit denen diese ihn bedrohen, ist er schlechthin ein individuelles Dasein, und deshalb ist er metaphysisch ebenso absolut frei, wie er es moralisch, politisch, intellektuell, religiös sein soll.

 

Indem er so seine eigene eigentliche Natur dokumentiert, taucht er damit in den Grund der Natur überhaupt zurück, von der die geschichtlich-gesellschaftlichen Mächte ihn losgerissen haben, weil sie ihm die Freiheit seines individuellen, nur in seinem eigenen Umfange wohnenden Fürsichseins genommen haben.

 

Die Natur aber ist der Ort der absoluten Gleichheit vor dem Gesetz: so sind denn alle Individuen in ihrem letzten Seinsgrunde gleich, wie die Atome der konsequentesten Atomistik.

 

Die Beschaffenheitsunterschiede reichen in den entscheidenden Punkt der Individualität nicht hinüber.

 

Vielleicht war es das Gefühl, dass das schlechthin auf sich gestellte, nur aus den Kräften des eigenen Seins gespeiste Individuum seine Vereinsamung und seine Verantwortung nicht tragen könnte, was diesen Individualismus einen Halt in der Zugehörigkeit zu der Natur überhaupt und in der Gleichheit aller solchen Individuen untereinander suchen ließ.

 

Die andere Form des Individualismus, gegen Ende des 18. Jahrhunderts und namentlich bei den Romantikern rein ausgebildet, sieht die Bedeutung der Individualität nicht darin, dass sich der Kreis ihrer Existenz um ein selbständiges Ich legt, eine in sich geschlossene Welt - sondern dass der Inhalt dieser Welt, die Qualitäten der Wesenskräfte und -äußerungen, von Individuum zu Individuum unterschieden sind.

 

Man könnte ihn, im Gegensatz zu jenem formalen, den qualitativen Individualismus nennen; nicht die Selbständigkeit des Seins prinzipiell gleicher Wesen, sondern die Unverwechselbarkeit des So-Seins von prinzipiell ungleichen ist ihm ebenso die tiefste Wirklichkeit wie die ideale Forderung des Kosmos und zuhöchst der Menschenwelt.

 

Dort ist es der Lebensprozess, dessen Formung - nämlich sein Ablauf um gegeneinander isolierte und freie, aber homogene Zentren herum - in Frage steht, hier der Inhalt dieses Prozesses, den keiner seiner Träger mit dem andern teilt und teilen soll.

 

Zu dieser großen Entwicklung des Individualismus, deren reinste Aussprachen zu Goethes Lebzeiten stattfanden, hat er nun keineswegs ein einseitig entschiedenes Verhältnis.

 

Soweit überhaupt nach einem der parteimäßigen und also rohen Schlagworte gefragt wird, muss seine Lebensanschauung eine individualistische heißen; es verleugnet sich nicht, dass den Geist seiner Zeit die angedeuteten Tendenzen leiteten.

 

"Wenn ich aussprechen soll, sagt er kurz vor seinem Tode, was ich den Deutschen überhaupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich mich wohl ihren Befreier nennen: denn sie sind an mir gewahr geworden, dass, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich, wie er will, immer nur sein Individuum zu Tage fördern wird."

 

Was als individuelles Leben erscheint, hat seine letzte Wurzel im Individuum selbst; dieses Verhältnis zum Leben setzt sich einer Dreiheit anderer Möglichkeiten entgegen.

 

Für gewisse theologische Denkarten strömen dem Individuum seine Energien, nach Maß und Richtung, von einer transzendenten Macht zu, die Inhalte seiner Existenz sind ihm ebenso wie diese Existenz selbst als bloße Teile eines ihm selbst verborgenen und eigentlich außerhalb seiner gelegenen Weltplanes verliehen.

 

Der extreme Soziologismus ferner macht das Individuum zum bloßen Schnittpunkt von Fäden, die die Gesellschaft vor ihm und neben ihm gesponnen hat, zum Gefäß sozialer Einflüsse, aus deren wechselnden Mischungen die Inhalte und die Färbung seiner Existenz restlos herzuleiten sind.

 

Die naturalistische Weltanschauung endlich setzt an die Stelle des sozialen Ursprungs des Individuums den kosmisch-kausalen.

 

Auch hier ist das Individuum sozusagen eine Illusion, seine vielleicht unvergleichbare Form entsteht nur in einem Zusammenströmen eben derselben Stoffe und Energien, die auch das Gestirn und das Sandkorn bauen, ohne dass diese Form ein eigener Ursprung von Inhalten und Betätigungen seines Lebens wäre.

 

In all diesen Fällen kann der Mensch nicht "von innen heraus leben", weil sein "Inneres" als solches eben keine Produktivkräfte entfaltet; was er "zu Tage...

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