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Soziologie der Über- und Unterordnung

Vollständige Ausgabe

AutorGeorg Simmel
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl98 Seiten
ISBN9783849617424
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Dieser Essay erschien 1907 im 'Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.'

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Soziologie der Über- und Unterordnung


 

I.


 

Als die Aufgabe der Soziologie verstehe ich die Beschreibung und historisch-psychologische Herleitung derjenigen Formen, in denen sich die Wechselwirkungen zwischen Menschen vollziehen.

 

Diese Wechselwirkungen, die aus den verschiedensten Impulsen, an den verschiedensten Objekten, um der verschiedensten Zwecke willen entspringen, machen in ihrer Gesamtheit "die Gesellschaft" sensu strictissimo und als eine Gestaltung menschlichen Daseins aus - im Unterschied gegen die andre Bedeutung des Begriffs, demgemäss die Gesellschaft in der Summe der in Wechselwirkung befindlichen Individuen, samt allen Inhalten und Interessen, die die Beziehungen zwischen diesen knüpfen, besteht.

 

Jene einzelnen Inhalte, an denen sich die Formen der Wechselwirkung darstellen, sind die Gegenstände besonderer Wissenschaften: zu sozialen Tatsachen werden sie eben dadurch, dass sie sich in dieser bestimmten Form: in der Wechselwirkung von Menschen, verwirklichen.

 

Den Gegenstand der Soziologie bilden also die Arten der verknüpfenden Wechselwirkung, in Abstraktion von ihren materiellen Inhalten.

 

So bezeichnen wir als "Kugel" einerseits einen materiellen Gegenstand, der in Kugelform gestaltet ist; andrerseits diese bloße Form selbst, die die materielle Substanz eben zur "Kugel" im ersteren Sinne macht und, in selbständiger, abstrakter Betrachtung, einen Gegenstand der geometrischen Untersuchung bildet.

 

Entsprechend ist es der Sinn der Soziologie, die Formen und Arten der Beziehungen zwischen Menschen festzustellen, welche aus ganz verschiednem Inhalt, Material und Interessen - ökonomischen und kirchlichen, geselligen und pädagogischen, familiären und politischen - doch formal analoge Sozialgebilde gestalten.

 

Die Geometrie hat nun den Vorteil, auf ihrem Gebiet äußerst einfache Gebilde vorzufinden, in welche die komplizierteren Figuren aufgelöst werden können; deshalb ist aus verhältnismäßig wenigen Grundbestimmungen der ganze Umkreis möglicher Gestaltungen zu konstruieren.

 

Gegenüber den Formen der Vergesellschaftung ist eine auch nur annähernde Auflösung in einfache Elemente für absehbare Zeit nicht zu erhoffen.

 

Die Folge davon ist, dass die soziologischen Formen, wenn sie einigermaßen bestimmte sein sollen, nur für einen relativ geringen Umkreis von Erscheinungen gelten.

 

Wenn man also auch z.B. sagt, dass Über- und Unterordnung eine Formung ist, die sich fast in jeder menschlichen Vergesellschaftung findet, so ist mit dieser allgemeinen Erkenntnis wenig gewonnen.

 

Es bedarf vielmehr des Eingehens auf die einzelnen Arten der Über- und Unterordnung, auf die speziellen Formen ihrer Verwirklichung, die nun in dem Maße ihrer Bestimmtheit natürlich an Umfang ihrer Gültigkeit verlieren.

 

Ich will im folgenden einige der typischen Arten von Über- und Unterordnung - an historischen Erscheinungen und in psychologischer Analyse - darstellen, und zwar in Hinsicht auf ihre formale Bedeutung für die Vergesellschaftung.

 

Denn Über- und Unterordnung stellt sich keineswegs erst da ein, wo schon "Gesellschaft" ist, sondern es ist eine der Arten, auf die "Gesellschaft" zustande kommt.

 

Aber auch nicht etwa so, dass sie deren Ursache wäre; sondern ganz unmittelbar ist sie, zusammen mit allen andern Vergemeinsamungsformen dasjenige, was wir mit dem kollektiven oder abstrakten Begriff der Gesellschaft bezeichnen.

 

Im allgemeinen liegt niemandem daran, dass sein Einfluss den andern bestimme, sondern daran, dass dieser Einfluss, diese Bestimmtheit des andern auf ihn, den Bestimmenden, zurückwirke.

 

So liegt eine Wechselwirkung schon bei jener abstrakten Herrschsucht vor, die daran befriedigt ist, dass das Handeln oder Leiden, der positive oder negative Zustand des andern sich dem Subjekt als das Erzeugnis seines Willens darbietet.

 

Diese sozusagen solipsistische Ausübung einer beherrschenden Gewalt, deren Bedeutung für den Übergeordneten ausschließlich in dem Bewusstsein seiner Wirksamkeit besteht, ist freilich erst eine soziologische Rudimentärform, und vermöge ihrer besteht so wenig Vergesellschaftung, wie zwischen einem Künstler und seiner Statue, die doch auch auf ihn mit dem Bewusstsein seiner Schöpfermacht zurückwirkt.

 

Im übrigen bedeutet Herrschsucht, selbst in dieser sublimierten Form, deren praktischer Sinn nicht eigentlich die Ausnutzung des andern, sondern das bloße Bewusstsein ihrer Möglichkeit ist, keineswegs die äußerste egoistische Rücksichtslosigkeit.

 

Denn Herrschsucht, so sehr sie das innere Widerstreben des Unterworfenen brechen will, während dem Egoismus nur an dem Sieg über sein äußeres zu liegen pflegt, hat an dem andern noch immer eine Art Interesse, er ist für sie ein Wert.

 

Erst wo der Egoismus nicht einmal Herrschsucht ist, sondern der andre ihm absolut gleichgültig und ein bloßes Werkzeug zu über ihn hinausliegenden Zwecken ist, fällt der letzte Schatten des vergesellschaftenden Füreinander fort.

 

Dass das Ausschalten absolut jeder Eigenbedeutung der einen Partei den Begriff der Gesellschaft aufhebt, zeigt in relativer Art die Bestimmung der späteren römischen Juristen: dass die societas leonina überhaupt nicht mehr als Gesellschaftsvertrag aufzufassen sei.

 

Und in demselben Sinne hat man von den niederen Arbeitern in den modernen Riesenbetrieben, die jede wirksame Konkurrenz durch rivalisierende Unternehmer um die Dienste jener ausschließen, gesagt: Der Unterschied in der strategischen Stellung zwischen ihnen und ihren Brotherren sei so überwältigend, dass der Arbeitsvertrag überhaupt aufhöre, ein "Vertrag" im gewöhnlichen Wortsinne zu sein, weil die einen bedingungslos den andern ausgeliefert sind.

 

Insofern zeigt sich die moralische Maxime: einen Menschen niemals als bloßes Mittel zu gebrauchen - allerdings als die Formel für jede Vergesellschaftung.

 

Wo die Bedeutung der einen Partei auf einen Punkt sinkt, wo eine von dem Ich als solchem ausgehende Wirkung nicht mehr in die Beziehung eintritt, kann man von Gesellschaft so wenig reden, wie zwischen dem Tischler und der Hobelbank.

 

Nun ist die Ausschaltung jeglicher Spontaneität innerhalb eines Unterordnungsverhältnisses in Wirklichkeit seltner, als die populäre Ausdrucksweise schließen lässt, die mit den Begriffen des "Zwanges", des "Keine-Wahl-habens", der "unbedingten Notwendigkeit" sehr freigebig ist.

 

Selbst in den drückendsten und grausamsten Unterworfenheitsverhältnissen besteht noch immer ein erhebliches Maß persönlicher Freiheit.

 

Wir werden uns ihrer nur nicht bewusst, weil ihre Bewährung in solchen Fällen Opfer kostet, die auf uns zu nehmen ganz außer Frage zu stehen pflegt.

 

Der "unbedingte" Zwang, den der grausamste Tyrann auf uns ausübt, ist tatsächlich immer ein durchaus bedingter, nämlich dadurch bedingt, dass wir den angedrohten Strafen oder sonstigen Konsequenzen der Unbotmäßigkeit entgehen wollen.

 

Genau angesehen vernichtet das Über- und Unterordnungs-Verhältnis die Freiheit des Untergeordneten nur im Falle von unmittelbaren physischen Vergewaltigungen; sonst pflegt es nur einen Preis, den wir nicht zu bezahlen geneigt sind, für die Realisierung der Freiheit zu fordern und kann den Umkreis der äußeren Bedingungen, in dem sie sich sichtbar realisiert, mehr und mehr verengern, aber, außer in jenem Fall physischer Übergewalt, niemals bis zu völligem Verschwinden.

 

Die moralische Seite dieser Betrachtung geht uns hier nichts an, wohl aber die soziologische: dass die Wechselwirkung, d.h. die zwar gegenseitig bestimmte, aber nur von den Persönlichkeitspunkten her erfolgende Aktion innerhalb der Beziehung auch in denjenigen Fällen von Über- und Unterordnung besteht und diese also auch da noch zu einer gesellschaftlichen Form macht, wo für die gewöhnliche Auffassung der "Zwang" durch die eine Partei die andre jeder Spontaneität und damit jeder eigentlichen "Wirkung" beraubt.

 

Für die Analyse des gesellschaftlichen Daseins ist es angesichts der ungeheuren Rolle der Über- und Unterordnungs-Verhältnisse von der größten Wichtigkeit, sich über solche Spontaneität und Mitwirksamkeit des untergeordneten Subjektes gegenüber ihrer vielfachen Verschleierung in der oberflächlicheren Vorstellungsweise klar zu werden.

 

Was man...

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