|17|Herausforderung Übergewicht: Was können wir tun? Eine Einleitung
K. Dadaczynski, E. Quilling und U. Walter
Überblick:
Warum ein Buch zum Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen?
Was kann ich als Leser/in von dem Buch erwarten? Wie ist das Buch aufgebaut?
Wie kann ich das Buch am besten nutzen?
Kindheit und Jugend gilt im historischen Vergleich heute als eine weitestgehend gesunde Lebensphase. Infolge der Verbesserung der Lebensbedingungen konnten die Säuglings- und Kindersterblichkeit insbesondere im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts drastisch reduziert und zahlreiche Infektionskrankheiten in ihrer Bedeutung zurückgedrängt werden. Ungeachtet dieser Erfolge verweisen nationale und internationale Studienbefunde auf gesundheitliche Herausforderungen, die bereits seit Ende des 20. Jahrhunderts unter der Bezeichnung „neue Morbidität“ Eingang in die Fachdiskussion gefunden haben. Hierunter wird eine Verschiebung des Krankheitsspektrums von somatischen zu psychischen sowie von infektiösen zu nicht übertragbaren und meist chronisch verlaufenden Erkrankungen verstanden. Gerade nicht übertragbare Erkrankungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebs und Diabetes Typ 2 gelten im Erwachsenenalter als führende Todesursache. Während weltweit etwa 70 % aller Todesfälle auf nicht übertragbare Krankheiten zurückzuführen sind, sind es in Deutschland bereits etwa 90 % (WHO, 2017a).
Trotz des breiten Krankheitsspektrums zeichnen sich nicht übertragbare Erkrankungen durch ein Bündel gemeinsamer verhaltensbezogener, umweltbezogener und metabolischer Risikofaktoren aus, die für annähernd 60 % aller globalen Todesfälle verantwortlich gemacht werden können (Forouzanfar et al., 2015). Übergewicht, das im Kindes- und Jugendalter weltweit eine hohe Verbreitung erfahren hat, stellt mit seinen vielfältigen Determinanten hierbei einen wesentlichen Risikofaktor dar. Mittlerweile liegt international eine Vielzahl von Einzelstudien vor, die Auskunft über die Gewichtsentwicklung Heranwachsender geben. Der Zusammenführung und Re-Analyse von über 2400 Studien aus 200 Ländern mit insgesamt 129 Millionen Teilnehmenden widmet sich seit einigen Jahren ein globales Forschungsnetzwerk (NCD Risk Factor Collaboration, http://www.ncdrisc.org). Jüngst veröffentlichte Ergebnisse zeigen, dass der Body-Mass-Index (BMI) bei Heranwachsenden innerhalb der letzten 40 Jahre deutlich zunahm. Betrug dieser 1975 bei 5- bis 19-jährigen Mädchen im Durchschnitt 17,2, stieg der BMI bis zum Jahr 2016 auf 18,6 an. Bei Jungen erhöhte er sich von 16,8 auf 18,5 (NCD Risk Factor Collaboration, 2017). Dies entspricht einem Gewichtsanstieg von 0,32 kg/m2 pro Dekade bei Mädchen |18|bzw. 0,40 kg/m2 bei Jungen. Darüber hinaus berichten die Autoren im selben Zeitraum einen Anstieg des starken Übergewichts, d. h. der Adipositas1, von 0,7 % auf 5,6 % bei Mädchen bzw. von 0,9 % auf 7,8 % bei Jungen. Was hier als globaler Trend beschrieben wird, lässt sich auch in Deutschland beobachten. So gelten derzeit etwa 15 % aller deutschen Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren als übergewichtig oder adipös, wobei sich höhere Ausprägungen u. a. bei Heranwachsenden aus Familien mit niedrigem Sozialstatus und mit Migrationshintergrund nachweisen lassen (Kurth & Schaffrath-Rosario, 2007). Werden die Ergebnisse des vom Robert Koch-Institut (RKI) durchgeführten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS Basisbefragung versus KiGGS Welle 1) im zeitlichen Verlauf betrachtet, so fällt auf, dass sich die Prävalenzwerte des Übergewichts und der Adipositas für die Altersgruppe der 11- bis 17-Jährigen von 2006 bis 2012 kaum verändert haben (KiGGS Basiserhebung: 18,8 % vs. KiGGS Welle 1: 18,9 %; Brettschneider et al., 2015). Solche Plateaueffekte lassen sich nicht nur in Deutschland beobachten, sondern werden insbesondere für industrialisierte Länder mit hohem Einkommen berichtet (Hardy et al., 2017; NCD Risk Factor Collaboration, 2017; Ogden et al., 2016). Prognosen auf Basis der Daten der Global-Burden-of-Disease-Studie gehen allerdings von einem weiteren Anstieg auch in Europa aus. Für Deutschland wird für den Zeitraum 2010 bis 2025 eine leichte Zunahme der Prävalenz von Übergewicht einschließlich der Adipositas bei 2- bis 20-Jährigen von 0,3 % bis 1,3 % angenommen. Diese Prognose wird für Übergewicht ebenso wie für Adipositas gestellt (Boer et al., 2017).
Jüngst vom Robert Koch-Institut im Rahmen der KiGGS Kohorte vorgestellte Daten zu individuellen Verläufen weisen überdies darauf hin, dass der im Kindes- und Vorschulalter entwickelte Gewichtsstatus im Altersverlauf eine große Persistenz aufweist. So wiesen mehr als die Hälfte der bis 6-jährigen Kinder mit Adipositas auch 10 Jahre später noch ein starkes Übergewicht auf (Schienkiewitz et al., 2018). Zudem entwickelten 29% der übergewichtigen Kinder im selben Bezugszeitraum eine Adipositas.
Keine Änderung trotz Prävention?
Was zunächst als Indiz für positive Wirkungen der Präventionsbemühungen der vergangenen Jahrzehnte erscheinen mag, wird von anderen als allenfalls begrenzter Präventionserfolg gewertet. So resümieren auch Pigeot und Walter (2016; S. 1369) in ihrem Editorial eines Schwerpunktheftes zur Prävention von Übergewicht, dass bisherige Interventionen scheinbar versagen bzw. die durch sie erzielten Effekte zu gering sind, um eine nennenswerte Prävalenzreduktion auf Populationsebene zu bewirken. Die Gründe hierfür sind vielfältig, lassen sich jedoch aus quantitativer Perspektive zunächst nicht auf einen Mangel an Aktivitäten der Übergewichtsprävention im Kindes- und Jugendalter zurückführen. So zeugen auf politischer Ebene zahlreiche Strategiepapiere und Aktionspläne von der zunehmenden Bedeutung konzertierter Maßnahmen der Übergewichtsprävention im Kindes- und Jugendalter. Hierzu zählen die im Auftrag der WHO von einer Expertengruppe erarbeiteten Empfehlungen zur Prävention von Adipositas im Kindesalter (WHO, 2017b) ebenso wie der von der EU verabschiedete Aktionsplan zur Bekämpfung von Übergewicht bei Kindern. Entlang von acht Handlungsbereichen werden die Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, nationale Aktionspläne zum Thema zu entwickeln und lokal umzusetzen (EU, 2014). Umsetzungsschritte auf nationaler Ebene erfolgten u. a. bereits im Jahr 2008 mit der Gründung des nationalen Aktionsplans „IN FORM“, um das Ernährungs- und Bewegungsverhalten in Deutschland bis zum Jahr 2020 nachhaltig zu verbessern. Gemeinsam mit weiteren politischen Aktivitäten wie dem im Jahr 2010 aktualisierten nationalen Gesundheitsziel |19|„gesund aufwachsen“ (BMG, 2010) und verschiedenen Förderprogrammen wurden Anreize geschaffen, die zur Entwicklung und Erprobung zahlreicher konkreter Interventionen geführt haben. Alleine in der vom Kooperationsverbund gesundheitliche Chancengleichheit angelegten Praxisdatenbank werden für die Altersgruppe der bis 17-Jährigen für die Themen Bewegungs- und Mobilitätsförderung sowie Ernährung 355 Treffer angezeigt (Stand: November 2017)2. Die hier nur in Grundzügen dargestellten Aktivitäten sind Belege einer sehr dynamischen Landschaft der Übergewichtsprävention. Diese zu überschauen, geschweige denn systematisch zu beschreiben und zu bewerten, ist aufgrund eines Mangels an systematischen und kontinuierlichen Dokumentationsaktivitäten kaum möglich. So ist trotz eines in den letzten Jahren verstärkt geführten Qualitätsdiskurses (u. a. Bär, Noweski & Voss, 2016; Dadaczynski & de Vries, 2013) bislang unklar, welche konzeptionelle Ausrichtung entsprechende Interventionen aufweisen und wie es um deren Qualität bestellt ist. In der Konsequenz erschwert die mangelnde Orientierung auch die strategische Navigation und Steuerung von Aktivitäten der Übergewichtsprävention, was sich u. a. an Doppelaktivitäten ablesen lässt (z. B. Neuentwicklung von Interventionen, die bereits in ähnlicher Form existieren).
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Die Ausführungen zu der oftmals schwer zu überblickenden Präventionslandschaft stellen einen Ausgangspunkt dieses Sammelwerkes dar. Ziele sind zum einen, neben den Grundlagen über die Entstehung und Verbreitung von Übergewicht einen Überblick über aktuelle deutschsprachige Aktivitäten der Prävention und Gesundheitsförderung in diesem...