Angst
Ehrlich, als mir Elke dieses unheimliche Erlebnis berichtete, lief es mir eiskalt über den Rücken!
Elke wohnt nicht weit von mir. Trotzdem kannte ich sie bis dahin nur flüchtig. Sie ist groß, eine schlanke Brünette, attraktiv, betucht. Den schicken Lamborghini ihres verstorbenen Mannes, der in ihrer Garage steht, fuhr sie nicht mehr, seit sie einen Unfall damit hatte, nutzte seither die Dienste eines Taxiunternehmens. Das häufige Hin und Her dieser Wagen in unserer Straße, wenn sie zu ihren Besorgungen fuhr, war für uns Anwohner bald ein gewohntes Bild Eines Tages aber blieben die Taxis aus und ich machte mir so meine Gedanken, was wohl der Grund dafür sei. War die Frau vielleicht weggezogen, auf Weltreise gegangen? Doch dann traf ich sie zufällig an einer Bushaltestelle, und wir kamen ins Gespräch.
Neugierig, wie ich nun mal bin, sprach ich sie da auch gleich auf die Sache mit den Taxis an. Sie zuckte regelrecht zusammen, meinte, sie wolle nicht unhöflich sein, aber darüber spreche sie nicht. Natürlich stachelte das meine Neugierde noch mehr an – ich wollte hinter ihr 'Geheimnis' kommen! Da sie mir sympathisch war, lud ich sie kurzerhand zu einem Kaffee auf meine bescheidene Terrasse ein, und tatsächlich, sie kam! Mit der Zeit wurden unsere kleinen Kaffeeklatsche, mal bei mir, mal bei ihr, zum wöchentlichen Ritual. Und natürlich war die Vertrautheit auch bald so weit gediehen, dass Elke ihre Hemmungen überwand, mir, was sie quälte, verriet. Und folgendermaßen hat sie es mir, nahezu wörtlich, berichtet.
„Es war schon immer mein Albtraum gewesen: Ich hätte im Dunklen, irgendwo draußen, telefoniert, und der Taximann hätte mich sitzen lassen!
Nun war es passiert!
Ich war mit dem IC in die mir fremde Stadt gekommen, weil es dort diesen Spezialisten für Senkfüße gibt, hatte meinen Arzttermin absolviert und bis Geschäftsschluss eingekauft. Und dann, es war einer dieser herrlichen Herbsttage, hatte ich nicht widerstehen können, vor meiner Heimfahrt noch zu dieser Burg hinauf zu steigen, die da am Rand der Stadt so verlockend auf einem Hügel steht.
Du weißt, ich bin keine üble Fußgängerin. Im passenden Schuhwerk und mit den richtigen Einlagen ist mir kein Weg zu weit. Diesmal aber trug ich, pure Eitelkeit, ein Paar nagelneuer Pumps, auf deren halsbrecherischen Absätzen ich es nur im Zehenstand über das mittelalterliche Pflaster geschafft hatte. Jetzt waren meine Füße so geschwollen, dass sie mir fast die Schuhe sprengten–jedes Knöchelchen bohrte sich mir ins Fleisch!
In meiner Not hatte ich für den Rückweg ein Taxi rufen wollen, dann aber festgestellt, dass der Akku meines Smartphons leer war. Wie hab ich aufgeatmet, als ich da im Burghof einen dieser alten Münzfernsprecher entdeckte, mein Kleingeld gerade noch für den Anruf reichte! Doch dann ließ man mich warten.
Anfangs blieb ich noch gelassen, obwohl es schon dämmerte. Manchmal verfranst sich ja so ein Kerl, da heißt es, geduldig sein. Bald aber, nach Einbruch der Dunkelheit, ließ ich meinem Ärger freien Lauf. Wenn er nur endlich käme, der Idiot! Wieder kramte ich in meiner Handtasche, in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein paar Münzen darin zu finden, um wegen des Taxis nachzufragen. Aber nicht ein einziger Cent war mir geblieben! Nicht auszudenken, wenn ich jetzt ins Tal hinuntersteigen, mich den ganzen Weg zur Stadt hinüberquälen, müsste – auf diesen Stöckeln, in solcher Finsternis, mit dem schweren Gepäck!
Ich stellte meine Einkaufstüten ab. Schon der Gedanke, sie wieder aufzunehmen, bereitete mir Pein. Und durch welchen der Eingänge war ich wohl auf den verdammten Burghof gekommen? Ob ich den richtigen Weg nach unten überhaupt wiederfinden würde, bei all den Treppchen, den Abzweigungen, die ich heraufgestiegen war?!
Ich trat zur Burgmauer, sah über die Brüstung auf die dunkle Ebene hinab, in der, weit fort, jetzt die Lichter funkelten. Wie konnte ich nur eine solche Torheit begehen! Einige Münzen zum Telefonieren müsse man immer bei sich tragen, hatte mich meine Mutter schon ermahnt, damals, als man Kindern noch keine Smartphons gab... Schließlich gab ich die Hoffnung auf. Eine Stunde über die Zeit – da kam kein Taxi mehr! Doch dann... hob sich dort nicht ein Schatten gegen den dunklen Himmel ab, bewegte sich auf mich zu...?! Tatsächlich, da kam jemand! Ich musste diese Person ansprechen! Vielleicht hatte die Mitleid, gab mir die paar Münzen fürs Telefon, oder nahm mich ein Stück im Auto mit?
Der Schatten kam näher, lautlos, auf weichen Sohlen. Jetzt hatte er mich fast erreicht. Es war ein Mann, nicht groß. War er behindert, ein Krüppel, hatte gar einen Buckel? Oder waren es doch nur seine Schultern, die er unnatürlich nach oben zog? Sein Kopf steckte tief dazwischen, als sei er ohne Hals... Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber es kam mir vor, als sei es nicht das sympathischste.
„Entschuldigen Sie", sagte ich in die Dunkelheit hinein, „ich habe mit meinen letzten Münzen telefoniert, aber der Idiot von Taximann hat mich sitzen lassen! Ob Sie mir ausnahmsweise einmal mit etwas Kleingeld helfen könnten?" Die Bitte fiel mir nicht leicht.
Der Schatten schwieg. Ein Stummer? Nein, jetzt sprach er. Sonderbare Stimme, dünn und brüchig. „Kann ich nicht!", tönte es zu mir herüber. „Hab kein Kleingeld dabei!" Täuschte ich mich, oder war der Mann ungehalten, so unwirsch, wie er klang?
„Sind Sie mit Ihrem Wagen hier oben?", fragte ich hoffnungsvoll.
„Nein, nicht mit meinem Wagen! Besitze keinen!", antwortete der Schatten.
„Ist diese Burg bewohnt?", versuchte ich es erneut. „Ich meine, vielleicht könnte mir hier sonst jemand weiterhelfen?"
„Ich wohne hier!" Er stand jetzt dicht neben mir, so dicht, dass ich ihn roch.
Ach, sagte ich mir, er also bewohnt das alte Gemäuer! Eine Art Burgwart? Aber gefällig ist er nicht! „Tja, dann muss ich wohl!", murmelte ich, griff nach meinen Tüten. Jetzt mit dieser Last, auf meinen Stöckeln, den wunden Füßen, die steilen Treppen hinab zu müssen, im Finstern, über das bucklige Pflaster...
„Ich könnte Ihnen die Tüten abnehmen, Sie hinunter führen!", sagte der Schatten. Wieder klang es nicht sonderlich freundlich.
Ich zögerte. Der Mann war doch unheimlich! Irgendwie nicht normal! Sollte ich wirklich...? In meinen Füßen stach es mich jetzt wie mit Messern. „Oh", hab ich da geflötet, „das ist aber ausgesprochen nett!" Eine Hand berührte meine, kalt und knochig, schob sich in die Tragegriffe der Tüten.
„Hier lang! Über den Hof!" Nun griff er sogar meinen Arm! Ich sah überhaupt nichts mehr, tastete mich auf Zehenspitzen voran, bemüht, mit meinen Absätzen nicht in den Spalten zwischen den Steinen stecken zu bleiben. Er ging schneller als ich, nachtwandlerisch fast, bog mal nach hier, mal nach dort ab, schwenkte dabei, wie ich schemenhaft sah oder auch nur ahnte, meine Tüten.
„Wie viele Höfe dies alte Gemäuer hat, wie verwinkelt es ist!", bemerkte ich beklommen.
„Ich könnte Ihnen einen Kaffee machen, bevor wir runtersteigen!", erklärte, ohne darauf einzugehen, der Schatten.
Einen Kaffee? Von diesem Menschen? In welche Räuberhöhle würde der mich schleppen...? „Nein danke!", rief ich in beginnender Panik. „Ich darf meinen Zug nicht verpassen!"
„Aber der Zug Richtung Süden geht erst in zwei Stunden, da bleibt genügend Zeit!", ertönte es höhnisch neben mir.
Woher weiß der, dass ich nach Süden will?, schoss es mir durch den Kopf. Kann der hellsehen? „Nein, wirklich nicht!", rief ich hektisch. „Mir ist jetzt nicht nach Kaffee!"
„Aber Sie kommen doch kaum noch voran, gute Frau!" Jetzt klang die Stimme nicht nur höhnisch, sie klang böse!
Schiere Angst hatte mich gepackt. „Wo ...wohnen Sie denn?", stammelte ich zitternd. Ich musste Zeit gewinnen, einen Ausweg finden, ihn irgendwie besänftigen...
„Gleich hier!" Wieder packte er meinen Arm, grob diesmal, zog mich unerbittlich, fast gewaltsam jetzt, hinter sich her. Ich hörte ihn einen Schlüssel im Schloss drehen, ein Knarren und Knirschen... Anscheinend wurde eine sehr alte Bohlentür aufgestoßen... Meine wunden Füße trugen mich fast nicht mehr... Es würde keine Rettung geben, keinen Zeugen...
„So machen Sie doch endlich Licht!", schrie ich, steif vor Angst.
„Hier gibt's kein Licht!", höhnte mein Peiniger mitleidlos.
Dann hörte ich es. „Alpha vier! Alpha vier! Wo stecken Sie denn?!", tönte es nicht weit von mir durch die Dunkelheit.
„Mein Taxi!", rief ich, wie aus einem bösen Traum erwacht und so laut ich nur konnte, dass es der Mann in der Funkzentrale hören musste. Und dann, als mir der Groschen gefallen war, voller Zorn: „Und jetzt schalten Sie gefälligst Ihre Scheinwerfer ein und fahren mich, verdammt noch mal, nach unten!"
„Gewiss!", konterte der Unheimliche hämisch. Sein Gesicht, als ich es dann...