Nun geht es um konkrete Krisenvorsorge und – bewältigung. Unser roter Faden ist die kritische Auseinandersetzung mit der Neuauflage des entsprechenden Ratgebers „Vorsorge für den Katastrophenfall“ herausgegeben vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Später besprechen wir einige Handlungsoptionen für echte Krisenszenarien, die sowohl Leib und Leben (Bedürfnissphäre 1. Klasse), die psychische Integrität (Bedürfnissphäre 2. Klasse) als auch den sozialen Raum (Bedürfnissphäre 3. Klasse) betreffen.
1 Hierarchie der Vorsorge
1. Bedürfnissphäre: Überleben
- Wasser (Vorrat, Aufbereitung)
- Nahrung (Vorrat, nahrhaft, leicht zuzubereiten, haltbar)
- Bekleidung (Angemessene, schützende, haltbare Kleidung und Schuhe)
- Schutz vor Witterung/ Wohnung (Zelt, Wohnraum)
- Gesundheit (Reiseapotheke)
2. Bedürfnissphäre: Wohlbefinden
- Sicherheit (Berechenbarkeit der Umwelt, gefühlte Sicherheit, echte Sicherheit)
- Stressfreiheit
- Hoffnung
3. Bedürfnissphäre: Sozialer Raum
- Wiederaufbau/ Neuaufbau sozialer Strukturen, Hierarchien, institutionalisierte Arbeitsteilung, Zivilisation, gesellschaftliche Einrichtungen usf.
- Wiederaufbau/ Neuaufbau der agrarischen, industriellen und finanziellen Infrastruktur
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns fast ausschließlich mit der 1. und in einigen grundlegenden Fragen mit der 2. Bedürfnissphäre in der Krise. Der Umgang mit dem sozialen Raum ist recht komplex. Dazu empfehle ich das Studium des angehängten theoretischen Teils. In diesem wird das Verhältnis von Krisen, Individuum und sozialem Raum thematisiert.
2 Die Broschüre:
„Vorsorge für den Katastrophenfall“
Dieses Machwerk ist so nützlich wie es gefährlich ist. Es enthält eine passable Checkliste absoluter Basics, die offensichtlich für Helga Schmidt und Max Müller geschrieben wurde, Personen, die eine Krise anderweitig hilflos und unvorbereitet vorgefunden haben würde. Daneben finden wir eine paar Handlungsanweisungen, die eher Allgemeinplätze als konkrete Verhaltensweisen beinhalten.
Die Informationen in dieser Broschüre sind besser als überhaupt nichts, aber leider weit davon entfernt optimal zu sein, was verständlich ist, wenn man den Adressentenkreis betrachtet. Man richtet sich, wie gesagt, an den unbedarft vor sich hin schlummernden Michel, der nicht einmal im Traum daran denkt, dass die ihn wie eine Wolldecke umschmeichelnde Wirklichkeit des sozialen Raums jemals dauerhaft gestört werden könnte. Entsprechendes suggeriert die Broschüre: Als Katastrophenszenarien werden in den Bereich des Möglichen gerückt: Unwetter, Feuer, Hochwasser und CBRN-Gefahrenstoffe. CBRN, falls Sie es nicht wussten, steht für (c)hemisch, (b)iologisch, (r)adiologisch und (n)uklear. Interessanterweise beschreibt keines dieser Katastrophenszenarien eine echte Krise des sozialen Raums, sondern jeweils nur zeitweilige Störungen – ein Grund, warum die Broschüre mit äußerster Vorsicht zu genießen ist. Ein weiterer Grund ist, dass nur die unmittelbare Rettung des Lebens, sozusagen das Überdauern des katastrophischen Höhepunktes sowie eine kurze Zeitspanne danach in die Vorsorgebemühungen miteinbezogen werden. Die Perspektive ist auf den Erhalt der 1. Bedürfnissphäre reduziert. Es gilt, das nackte Leben zu erhalten, bis der soziale Raum sich wieder stabilisiert hat. Ob er überhaupt in der Lage sein wird, dies zu tun, wird dagegen nicht thematisiert: Die krisenverleugnende Wirklichkeitskonzeption des sozialen Raums kann selbstverständlich ihr eigenes Nicht- bzw. Nicht-mehrsein nicht denken, geschweige denn zugeben. Aber schauen wir uns einmal an, was die Broschüre rät.
3 Bedarfsgerechter Energievorrat
Anzulegen sind Vorräte für vierzehn Tage, rät das Heft „Meine persönliche Checkliste“ des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Ausgegangen wird von einem Tagesverbrauch von 2200 Kalorien. Diese Zahl ist relativ problematisch, weil sie weder Geschlecht, noch individuelle Konstitution, Alter, Gewicht, Anteil Muskelmasse usf., noch den Grad an körperlicher Aktivität, der u. U. während einer Krise nötig wird, berücksichtigt. Es handelt sich hier um einen glattgebürsteten Mittelwert, der auf alle und niemanden passt.
Besser ist, Sie berechnen ihren eigenen Tagesgrundumsatz. Eine einfache, doch einigermaßen passable Formel dafür lautet:
Männer: Körpergewicht in kg x 25
Beispiel: 80 kg x 25 = 2000kcal
Frauen: Körpergewicht in kg x 25 x 0,9 (Bei Frauen geht man aufgrund ihrer tendenziell zierlicheren Statur und leichteren Muskelaufbaus von 90% des Verbrauchs eines gleichgewichtigen Mannes aus)
Beispiel: 60 kg x 25 x 0,9 = 1350kcal
Diese Angaben reflektieren den reinen Energieverbrauch des Körpers in Ruhe. Der Motor läuft, das Fahrzeug steht jedoch. Je nach körperlicher Aktivität steigt der Energiebedarf drastisch an. Vereinfacht kann man den Grundumsatz mit bestimmten Faktoren, die eine bestimmte Aktivitätsintensität repräsentieren, multiplizieren.
- Sehr leichte Aktivität 1,2
- Leichte Aktivität 1,5
- Mittelmäßige Aktivität 1,8
- Intensive Aktivität 2,1
- Sehr intensive Aktivität 2,4
Diese Faktoren sind Annäherungswerte, die ich bewusst eher hoch gewählt habe. Sie eignen sich nicht, den exakten Kalorienverbrauch oder -bedarf eines Individuums zu berechnen. Nichtsdestotrotz helfen sie, vernünftige Richtwerte für die benötigte Versorgung im Krisenfall zu setzen. Wir gehen davon aus, dass wir 1. im Zuge unserer Vorbereitung auf den Krisenfall körperlich fit und mit einiger Muskelmasse ausgestattet sind und 2. dass wir während der Krise unseren Körper sehr intensiv benutzen müssen. Entsprechend schlage ich folgende Formel zur Berechnung des anzulegenden Vorrats auf Basis des höchstmöglichen Energieverbrauchs vor, wobei ich die Reduzierung des Grundumsatzes bei Frauen bewusst weglasse, um einen zusätzlichen Sicherheitspuffer in die Formel einzubauen. Besser zu viel als zu wenig.
Körpergewicht in kg x 25 x 2,4
Beispiel: Für einen Mann mit 75 kg sollte eine Energieversorgung von 4500kcal/Tag bereitstehen. Aber wie lange? Die Broschüre rät 14 Tage an. Warum 14? Warum nicht 13 oder 16? Gehen wir dieser Frage nach…
4 Ein Quantum mehr: Die 45-Tage-Regel
Sprechen wir über die vorgeschlagenen 14 Tage, die man vorratstechnisch überbrücken können soll. Dieser Zeitraum basiert wiederum auf der Annahme, dass der soziale Raum nicht irreversibel durch die Krise beschädigt wird, also eigentlich gar nicht in eine echte Krise gerät, die die Alltäglichkeit des sozialen Raums nachhaltig antastet, sondern nur eine temporäre Störung seiner Funktionalität erleidet. In Fragen der Bevorratung sollten wir sicherheitshalber weniger optimistisch sein. Wie lange muss der Vorrat aber dann reichen? Einen Monat? Zwei Monate? Ein Jahr? Die Antwort auf diese Frage hängt von verschiedenen, teils unberechenbaren Faktoren ab. Welche Krise liegt genau vor? Welche Folgen hat sie? Welche Teile des sozialen Raums sind betroffen usf.? Bricht die landwirtschaftliche Produktion einer Region durch, sagen wir, eine chemische Verseuchung des Erdreichs ein, aber Lebensmittel können aus anderen Regionen importiert werden, muss man nur eine kurze Durststrecke überwinden. Sind auch die Transportwege bzw. die Transportmöglichkeiten betroffen, muss man für einen längeren Zeitraum vorsorgen. Ist der Schaden irreversibel und betrifft auch benachbarte Regionen, muss man ggfs. abwandern, was wiederum eine Reihe weiterer Probleme aufwirft.
Wer die Kapazitäten besitzt, sollte an einer Versorgung für 18 Monate arbeiten. Warum gerade 18 Monate? Weil innerhalb dieses Zeitraums auf jeden Fall ein Erntezyklus fällt.
Minimal sollte man für 45 Tage Vorräte besitzen. Warum 45 Tage? Nun, die öffentlichen Vorsorgekonzepte sind darauf ausgelegt, die Bevölkerung für maximal 30 Tage zu versorgen. Neben den 14 Tagen, die uns die Broschüre anrät, verfügt der Staat über Reserven, die 10 weitere Tage reichen, falls(!) Infrastruktur und Transportwege intakt bleiben. Wir runden die 24 zu 30 Tagen auf, da mit Rationalisierungsmaßnahmen zu rechnen ist. Die Distribution und Rationalisierung dieser Reserven ist ein weiterer Faktor, der mit vielen Unbekannten verbunden ist. Nehmen wir aber an, dass in einem katastrophalen und nachhaltigen Krisenfall wunderbarerweise die Versorgung der Bevölkerung perfekt funktioniert, so haben wir maximal 30 Tage relative Ruhe gewonnen. Nach dieser Gnadenfrist bricht das zu erwartende Chaos aus. Wir werden innerhalb weniger Tage massive Bewegungen der Bevölkerung erleben. Innerhalb dieses Zeitraums ist der Verweilen am Ort eine kluge Strategie, so ein Verweilen möglich ist. Wir möchten während einer echten Krise stets Abstand zur unvorbereiteten Masse der Bevölkerung haben. Daher handeln wir nach Möglichkeit antizyklisch. Bewegt sich die Masse, bleiben...