2. Ausbildung
Am nächsten Tag tauchte ein Soldat im Schlafsaal auf und rief meinen Namen. Als ich mich meldete, winkte er mir zu und sagte: „Dawei! – Komm!“ Ich wurde ins Verwaltungsgebäude geführt. Dort wartete schon der Vernehmungsoffizier auf mich, nach einer kurzen Darstellung der Kriegslage fragte er mich nach meiner Meinung. Ich sagte wie schon bei meiner Vernehmung, dass es Irrsinn sei, gegen eine solche Übermacht weiter Krieg zu führen. Danach teilte er mir mit, sie hätten nach meinen Aussagen beschlossen, dass ich ab jetzt einer Sondereinheit der Roten Armee unterstellt wäre und zu meiner Sicherheit einen Decknamen bekäme. Man brachte mich in den Raum, wo die Befragungen durchgeführt worden waren. Hier hielten sich schon drei weitere Mitgefangene auf, die wahrscheinlich genau wie ich Funker der Wehrmacht gewesen waren und das Auswahlverfahren bei den Vernehmungen bestanden hatten. Ich war sprachlos, denn ich wusste nicht, was mit mir geschehen würde. Was sollte ich machen? Da mir nichts anderes übrig blieb, ließ ich alles auf mich zukommen.
Die Vernehmungsoffiziere führten uns anschließend zu bereitstehenden Armeefahrzeugen, in die wir einsteigen mussten. Das Tor des Kriegsgefangenenlagers wurde von den Wachen sofort ohne Kontrolle geöffnet, und ab ging die Reise ins Ungewisse.
Nach stundenlanger Fahrt, die wir schweigend verbrachten, erreichten wir Vilnius. Vor einer großen Villa hielten russische Soldaten Wache, nach einer kurzen Verständigung mit unserem Offizier wurde das Tor für unsere Fahrzeuge geöffnet. Die erste Überraschung: Ich bekam ein eigenes Zimmer, auf dem Bett lagen ein nagelneuer Anzug, Unterwäsche, Schuhe und sogar ein Schlips. Die Kleidungsstücke stammten den Etiketten nach aus deutscher Produktion. Die nächste Überraschung: nach Wochen erstmals wieder ein Bad, so wohl hatte ich mich nach dem Waschen schon lange nicht mehr gefühlt. Meine verdreckte Uniform und alles, was ich sonst noch hatte, wurde im Hof verbrannt. Es hätten doch noch Läuse oder anderes Ungeziefer in den Kleiderstücken sein können. Im neuen Anzug sah ich aus wie ein Zivilist, ich konnte es selbst kaum glauben, was für ein Gefühl!
Es gab in der Unterkunft auch eine Funkstation. Dort wurden unsere Funk- und Morsekenntnisse an Wehrmachtsgeräten erneut eingehend getestet. Nach einer kurzen Ruhepause wurden uns die Verhaltensregeln nochmals eingetrichtert: Über alles hier hätten wir zu schweigen und auch untereinander keinerlei Gespräche zu führen. Sonst drohten harte Strafen und es ginge sofort zurück in ein Lager für Staatsfeinde. Ich begriff nicht richtig, was mit mir geschah, ich glaube, ich nahm alles nur unbewusst wahr, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sollte das wieder einmal eine Überlebenschance für mich sein? Dann sollte ich das Beste aus der jetzigen Situation machen, der Krieg wäre ja doch bald vorbei. Ich konnte mich mit niemandem austauschen, dabei hatte ich so viele Fragen. Allen voran: Was genau wollten die Russen von mir?
Einen Tag später war in unserer schönen Unterkunft in Vilnius großer Aufbruch angesagt. Ich hatte das Gefühl, dass es nun weiter in eine andere Stadt ginge. Die sowjetischen Offiziere waren sehr aufgeregt und packten schnell ihre Gegenstände und Habseligkeiten zusammen. Ganz plötzlich erging an uns die Aufforderung, uns sofort vor das Haus zu begeben und in die schon beladenen Fahrzeuge einzusteigen. Wir mussten uns in die Fahrzeuge zwängen, denn sie waren mit Unmengen Gepäck hoffnungslos überladen. Beim Einsteigen sah ich aus den Augenwinkeln, was da transportiert wurde: Es waren größtenteils Wohnungseinrichtungsgegenstände wie Teppiche, Vasen, Kleinmöbel, Geschirr, Textilien und andere Sachen.
Wohin die Fahrt gehen sollte, hatte uns noch keiner gesagt. Ich hoffte nur, die unbequeme Fahrt zu unserer neuen Unterkunft würde nicht stundenlang dauern. Die gute Stimmung der Offiziere zeigte mir aber, dass sie sich auf unseren Bestimmungsort freuten. Für mich aber ging es einem unbekannten Ziel und einer unbekannten Zukunft entgegen.
Erst nachdem wir unterwegs haltgemacht hatten, erklärte uns der Führungsoffizier, dass es zum Flugplatz und von dort nach Hause gehe. Ich war geschockt, aber zum Überlegen, wo dieses Zuhause und mein neues Gefangenenlager sein würden, blieb keine Zeit.
Als wir auf dem Flugplatz am Rande der Stadt ankamen, fuhren wir ohne Kontrolle direkt aufs Rollfeld, wo schon ein Flugzeug für uns bereitstand. Wir wurden mitsamt den Fahrzeugen in die Maschine verladen. Auch im Flugzeug war es sehr eng, denn jeder Quadratmillimeter des Laderaums wurde ausgenutzt. Mit Zwischenlandungen erreichten wir am Abend einen Militärflugplatz in der Nähe von Moskau. Die sowjetischen Offiziere waren in Hochstimmung, denn für sie war der Kriegseinsatz erst einmal zu Ende.
Von meinem ersten Flug weiß ich heute nur noch, dass es viel fettes Essen und reichlich Wodka gab. Die ungewohnte Kost bekam mir gar nicht, ich musste mich erbrechen – also nicht eben die besten Erinnerungen an diese erste Flugreise. Das Entladen der Fahrzeuge und der Möbelstücke ging mithilfe von Soldaten und ohne jede Kontrolle auf dem Flugplatzgelände sehr schnell vonstatten.
Wir wurden von einem Offizier in deutscher Sprache in Empfang genommen: Er erwarte von uns, dass wir in unserer täglichen Ausbildung mit viel Fleiß bei der Sache wären. Denn nur so könnten wir unseren Beitrag für den schnellen Sieg über Hitlerdeutschland leisten. Dann gingen wir auf Fahrt durch verschneite Landschaften und Dörfer zu der neuen Unterkunft. Wie schon in Vilnius nahm ich alles wie in Trance wahr. Was würde mit mir geschehen? Wo würden sie uns hinschaffen?
Nach längerer Fahrt hielt unsere Kolonne vor einem Grundstück, das von einem grün gestrichenen hohen Holzzaun umgeben war. Die Wachen am Eingang öffneten nach einer kurzen, aber herzlichen Begrüßungszeremonie die Tore des Komplexes, und ich war nicht weit von Moskau in meinem neuen Zuhause angekommen. Die Höhe des Holzzaunes und des sich darüber befindlichen Stacheldrahtes zeigte mir, dass es ein sehr gut bewachter Gebäudekomplex war. Wie ich etwas später herausfand, befand ich mich außerhalb des Ortes Timilino, in unmittelbarer Nähe von Moskau. Nachdem ich aus dem Jeep geklettert war, versuchte ich, mich im russischen Winter und in meiner neuen, ungewohnten Umgebung zurechtzufinden.
Viel Zeit blieb mir im Augenblick dazu nicht. Ich bemerkte auf dem verschneiten Gelände zahlreiche hochgewachsene Birken, dazu einige Wohngebäude sowie kleinere Unterkünfte. Mehr konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, denn es ging sofort in das größere Holzhaus, wo uns unser neuer Vorgesetzter begrüßte.
Er stellte sich als Sohn eines deutschen Emigranten vor und hatte den Dienstrang eines Hauptmannes der Roten Armee. Wenn nötig, sollten wir ihn mit Dienstgrad oder Herr Walter anreden. Nach dieser kurzen Einführung erfolgte ein Vortrag über die siegreiche Sowjetarmee und den heldenhaften Kampf des Sowjetvolkes gegen den Faschismus unter Führung des genialen Genossen Stalin. Nun musste ich noch mehrere Verpflichtungserklärungen über die Geheimhaltung meiner Tätigkeit unterschreiben, die aber nur auf Russisch vorgelegt wurden. Auf meinen Einwand hin, den Text auch auf Deutsch zu lesen zu bekommen, wurden mir lächelnd die Hauptpunkte aufgezählt:
- Treue zur Sowjetunion und den Generalissimus Stalin.
- Alle Befehle und Anweisungen sind zu erfüllen.
- Alle gewonnenen Erkenntnisse und Informationen unterliegen der Geheimhaltung.
- Jede Verbindung zu Dritten ist verboten.
- Persönliche Aufzeichnungen sind verboten.
- Zuwiderhandlungen werden nach dem Militärrecht bestraft.
„Du unterschreibst jetzt, dass du uns helfen willst, den deutschen Faschismus mit zu besiegen.“ Jeder von uns musste sich dieser Prozedur einzeln unterziehen, um nicht vom Tun der anderen beeinflusst zu werden. Ich konnte mir bei dieser Gelegenheit einen Decknamen aussuchen. Nach kurzem Überlegen wählte ich den Namen Heinz Kohl. Der Vorschlag wurde angenommen.
Heinz erinnerte mich daran, wie vergänglich alles war, wie schnell die Zukunft einer jungen Familie durch den Krieg zerstört werden konnte.
Während unserer gemeinsamen Lehrzeit im Benzinwerk Böhlen hatte er eine Liebschaft, mit siebzehn Jahren wurde er vor unserer gemeinsamen Einberufung zur Wehrmacht Vater eines kleinen Mädchens. Natürlich wurde vorher noch schnell geheiratet. Ich war Trauzeuge. Was für ein schönes Paar, was für ein gelungenes Fest, alle waren glücklich. Unsere Ausbildung als Funker verbrachten wir noch in der gleichen Einheit, doch am Ende der Ausbildung wurden wir getrennt. Ich wurde Offiziersanwärter und er sofort an die Front geschickt. Einige Wochen später schickten mir meine Eltern seine Todesanzeige: „Als Held für Führer und Vaterland gefallen“. Mein Deckname sollte ein kleines Andenken an Heinz sein und mir bewusst machen, wie der Krieg ein so junges Glück so schnell vernichten kann. Ich nahm mir vor, wenn ich die Kriegsgefangenschaft...