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Umgang mit geistig Behinderten in der Gesellschaft

AutorFriederike Frach
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2004
Seitenanzahl92 Seiten
ISBN9783638290081
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2003 im Fachbereich Kulturwissenschaften - Allgemeines und Begriffe, Note: 1,0, Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Kulturwissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Die ersten beiden Kapitel setzen sich unter anthropologischen Gesichtspunkten mit dem Phänomen geistige Behinderung auseinander. Dabei geht es zunächst um denWandel der Bezeichnungen, mit denen geistige Behinderung umschrieben wurde und wird. An dieser Stelle werde ich auf die Diskussion um die moralisch richtige Verwendung der Termini eingehen. Im Anschluss daran sollen Textbeispiele aus derphilosophischen Literatur und Beschreibungen von Zeitzeugen eine Annäherung an das Bild von der geistigen Behinderung durch die Jahrhunderte ermöglichen. [...] Dabei werde ich jene Kulturen und sozialen Systeme berücksichtigen, auf die sich unsere Gesellschaft beruft. Um den Umgang mit geistig Behinderten in verschiedenen Ethnien zu erläutern, habe ich im dritten Kapitel Beispiele für Modelle und gesellschaftliche Konstruktionen in archaischen Kulturen und in nichtchristlichen Religionen zusammengetragen. Im Vergleich dazu lassen sich Reaktionen und Verhaltensweisen gegenüber geistig Behinderten in unserer heutigen Kultur einordnen. So benenne ich im vierten Teil gesellschaftstheoretische Definitionen. Außerdem werde ich Erklärungsmuster für den Umgang mit geistig Behinderten und Prinzipien derKategorisierung vorstellen. Daran schließt sich fünftens eine Darstellung der tatsächlichen Situation in der Bundesrepublik Deutschland an. [...]Hier berufe ich mich auf die neuesten Quellen zum Thema.3 Die Darstellung der Sachlage aus der Sicht der Pädagogen, Betreuer und Wissenschaftler bildet ein Gegengewicht zuden eigenen Ansichten der betroffenen Menschen. So besteht der sechste Teil der Arbeit hauptsächlich aus Beispielen.[...] In Form von Interviews und literarischen Quellenkommen hier geistig Behinderte mit ihrer ganz persönlichen Sicht zu Wort. Im siebten (...) Teil werde ich die aufgestellten Thesen mit den gewonnenen Eindrücken vergleichen. Aus der Zusammenstellung der Arbeit ergeben sich die wichtigsten Leitfragen. [...]Hier stellt sich die Frage nach dem Wandel der Bezeichnungen und nach dem Umgang mit geistig Behinderten durch die Jahrhunderte. Den zusammengetragenen Beispielen und der daraus gewonnenen Quintessenz stehen Umgangsformen aus jenen Kulturen gegenüber, die nur wenig von den monotheistischen Weltreligionen geprägt worden sind. Gibt es heute Rückkopplungen zwischen den Gesellschaftssystemen? Zu guter Letzt möchte ich die Außensicht der Betreuer und Forscher mit den Reflektionen der Betroffenen inBeziehung setzen.

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Leseprobe

„Tollwütige Hunde schlagen wir nieder; einen widerspenstigen und unbezähmbaren Stier töten wir, und krankes Vieh, dass es nicht die Herde anstecke, schlachten wir, Missgeburten löschen wir aus, Kinder auch, wenn sie schwächlich und missgestaltet geboren worden sind, ertränken wir; und nicht Zorn, sondern Vernunft ist es, vom Gesunden Untaugliches zu sondern.“

 

(aus: Lucius Annaeus Seneca:

 

„Über den Zorn“)[21]

 

2. Zur Geschichte des Umgangs mit geistig Behinderten im europäischen Kulturkreis


 

 Die Geschichte des Umgangs mit geistig Behinderten in Europa ist von einer ständigen Ambivalenz geprägt. Einerseits gab es Bemühungen um Eingliederung und positive Wertschätzung, andererseits aber Tendenzen zu Ausgrenzung, Stigmatisierung und sogar Eliminierung. MARKUS DEDERICH schrieb auf der Suche nach Gründen für diesen Zwiespältigkeit:

 

 (Diese) hat, so ist zu vermuten, sehr tiefe und weitreichende Ursachen, deren Wurzel nach Auffassung mancher Philosophen ein auf Verbesserung, ja Erlösung der Menschen und der Welt abzielendes Heilsdenken ist. In diesem Sinne wäre die Eugenik als uraltes Projekt zu verstehen: Der Traum von der Wohlgeratenheit des Menschen und von einem immer besseren, glücklicheren, leidensfreieren Leben. Im Lichte dieser Vermutung ist der gegenwärtige Aufschwung der Gentechnologie als ein neuer Abschnitt der bereits zweieinhalb Jahrtausende währenden Heilsgeschichte zu verstehen.[22]

 

Wo liegen also die Ursprünge heutiger Verhaltensweisen? Berufen wir uns auf die Alten Griechen und gleichzeitig auf christlich-karitative Handlungsanweisungen? Im folgenden Kapitel möchte ich anhand verschiedener Quellen einige Richtlinien für den Umgang mit geistig Behinderten aufzeigen. Dass diese nur begrenzt Einfluss auf die Verhaltensweisen nicht Behinderter hatten, lässt sich durch entsprechende Aussagen von Zeitzeugen belegen.

 

2.1 DIE URZEIT


 

Aus der Zeit der Urgeschichte gibt es nur relativ wenige Zeugnisse über den Umgang mit geistig Behinderten. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass es sich ausschließlich um nonliterare Kulturen handelte. Die wenigen Knochenfunde lassen gelegentlich auf Behinderungen schließen. Aus der Art der Beisetzung und Grabbeigaben konnten Forscher den Stellenwert der Betroffenen in der sozialen Gemeinschaft ableiten. Aufgrund der zeitlichen Distanz und der nomadisierenden Lebensweise urzeitlicher Völker sind jedoch selbst die Grabstättenfunde selten. Die wenigen Skelettfunde, die vollständig und somit auswertbar waren, lassen allenfalls Vermutungen über den Umgang mit körperlich Behinderten zu.[23]

 

Bis in die 1970er Jahre existierte die Annahme, dass behinderte Mitglieder der Urgemeinschaft aus der Horde ausgeschlossen wurden, weil sie sonst der umherziehenden Gruppe zur Last gefallen wären. Gegen diese These sprechen beispielsweise Ausgrabungsfunde aus der Tschechischen Republik. Schon 1936 wurde die künstlerische Abbildung eines Frauenkopfes gefunden, der eine auffällige Anomalie des Gesichtes zeigte. Zwölf Jahre später entdeckte man, nicht weit von der ersten Fundstelle entfernt, eine maskenartige Schnitzerei aus Mammutelfenbein, die ähnliche Merkmale aufwies. Im Jahr 1949 schließlich fand man die Grabstätte einer grazilen, etwa 40 jährigen Frau, deren Schädel sich durch eine asymmetrische Verformung auszeichnete. Besonders außergewöhnlich fanden die Forscher die pathologische Deformation der linken Gesichtshälfte, die sich an den gestalteten Abbildungen ebenfalls feststellen ließ. Aufgrund der besonders ehrenvollen Bestattung des weiblichen Leichnams und der wiederkehrenden künstlerischen Darstellung des entstellten Gesichtes gingen Forscher von einer exponierten Stellung dieser Frau in der Stammesgesellschaft aus. Man vermutete eine Beraterinnen- oder sogar Heilerinnen-Funktion.[24]

 

Aus der Frühgeschichte gibt es noch weitere Beispiele für die Integration körperlich Behinderter. Vor allen Dingen Verletzungen aus Kampfhandlungen, die letztlich zu Behinderungen führten, wurden nachweislich behandelt. LUDWIG REISCH bemerkte dazu in seinem Artikel „Zum Umgang mit Behinderten in urgeschichtlicher Zeit“:

 

Die Fürsorge für kranke und behinderte Gruppenangehörige [...] scheint keine Ausnahme gewesen zu sein, denn gut verheilte schwere Verletzungen mit fehlenden oder doch nur geringen Anzeichen einer Wundinfektion, die auf günstige Bedingungen schließen lassen, finden sich noch an einer ganzen Reihe weiterer Neandertalerreste aus West- und Mitteleuropa sowie vom Balkan.[25]    

 

Über den Umgang mit geistigen Behinderungen ist noch weit weniger bekannt. Eines der seltenen Zeugnisse ist der Fund des Skeletts eines offensichtlich geistig behinderten Neandertalerkindes, das an Hydrocephalie („Wasserkopf“) litt. Der Leichnam dieses Kindes wurde inmitten der Gemeinschaft beigesetzt. Aus dieser Tatsache könnte man den Schluss ziehen, dass das Kind durchaus seinen Platz im sozialen Gefüge hatte.[26]

 

2.2 MESOPOTAMIEN


 

In Mesopotamien liegen die Wurzeln abendländischer Kultur. Aus diesem Grund darf es in dieser Kulturgeschichte nicht fehlen, obwohl dieses Gebiet geografisch nicht zu Europa gezählt werden kann. Aus dem antiken Zweistromland sind bereits schriftliche Aufzeichnungen aus assyrischer Zeit überliefert. In einer Sammlung von Sprichwörtern aus dem 2. vorchristlichen Jahrtausend heißt es:

 

Wenn in einer Stadt hinkende Frauen zahlreich sind, wird es jener Stadt gut gehen. Wenn in einer Stadt Idioten zahlreich sind, wird es jener Stadt gut gehen.Wenn in einer Stadt Idiotinnen zahlreich sind, wird es jener Stadt gut gehen. Wenn in einer Stadt Blinde zahlreich sind: Leid über die Stadt. Wenn in einer Stadt Krüppel zahlreich sind: Zerstörung der Stadt. Wenn in einer Stadt Anormale zahlreich sind: Zerstörung der Stadt.[27]

 

Erkennbar ist, dass man in dieser Epoche ein zwiespältiges Verhältnis zu Behinderungen hatte. Aus heute kaum nachvollziehbaren Gründen galten einige Behinderungen als heilig und andere als eine Strafe der Götter. Im Alltag trugen äußerliche Abnormitäten in vielen Fällen zur Namensgebung bei. Man nannte die so Gezeichneten nicht bei ihrem richtigen Namen sondern einfach „der Hinkende“, „der Lahme“, „die Blinzlerin“ oder „der Hässliche“.[28] Die Quellen aus den verschiedenen Hochkulturen des Zweistromlandes bieten nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung leider sehr wenig konkretes Material über den Umgang mit geistig Behinderten.

 

2.3 DAS ALTE ÄGYPTEN


 

Aus der Epoche des  Alten Ägypten, wie Mesopotamien eine Kultur, die prägend für europäisches Denken war, sind bereits Vorschläge und Richtlinien für die Behandlung geistig Behinderter überliefert. Der Philosoph AMENEMOPE äußerte sich in seiner „Weisheitslehre“ so:

 

Erschwere nicht das Befinden eines Gelähmten. Verspotte nicht einen Mann, der in der Hand Gottes ist,  und sei nicht aufgebracht gegen ihn <als ob du > ihn angreifen wolltest.[...][29]

 

„In der Hand Gottes“ zu sein wird als euphemistische Umschreibung für Besessenheit und eine Einschränkung geistiger Autonomie gedeutet und hieß nichts anderes als unter einer geistigen Behinderung zu leiden. AMENEMOPE fuhr fort:

 

[...] Der Mensch ist Lehm und Stroh,

der Gott ist sein Baumeister.

Er zerstört und erbaut täglich,

er macht tausend Geringe nach seinem Belieben,

er macht tausend Leute zu Aufsichtspersonal,

wenn er in der Stunde des Lebens ist.

Wie freut sich, wer den Westen erreicht,

wenn er (dann) bewahrt ist vor der Hand des Gottes.[30]

 

Im altägyptischen Glauben wurde die Auffassung vertreten, dass Menschen, die im irdischen Leben litten, ein besseres Leben nach dem Tod hätten. Man meinte, wenn Behinderungen einen Menschen zu Lebzeiten beschwerten, würden sie nach dem Tod wieder von ihm genommen. Der Verstorbene erreiche das Jenseits , den „Westen“, in unversehrtem Zustand. Er wäre körperlich und geistig wieder intakt. HANS-WERNER FISCHER-ELFERT schrieb dazu in seinem Artikel „Über den Umgang mit Behinderten im Alten Ägypten:

 

Der Mangelzustand wird dereinst aufgehoben, ist also nur ephemer Natur. Diese Vorstellung wird erst vor dem Hintergrund der doch ewig währenden jenseitigen Existenz voll verständlich, im Vergleich zu der das irdische Leben nurmehr eine „Stunde“ dauert, wie es eine ältere Lehre formuliert. Eine ewige Existenz als Versehrter ist aber nach ägyptischer Anthropologie schlicht undenkbar.[31]

 

Obwohl AMENEMOPE in seiner oben zitierten „Weisheitslehre“ Verhaltensregeln aufstellte, sah der Alltag geistig Behinderter wohl weniger freundlich aus. So ging man im...

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