3. Fluchtursachen
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die allein auf der Flucht sind, lassen alles Vertraute hinter sich. Die Umstände im Herkunftsland müssen zwingend und schwerwiegend sein, damit Kinder sich von ihren Familien und Freunden trennen und in einem anderen Land Schutz suchen. Im Folgenden werden die Ursachen und Motive geschildert, die Erwachsene und minderjährige Kinder dazu bringen in ein fremdes Land zu gehen und dort um Asyl zu bitten.
3.1. Allgemeine Fluchtursachen
Es gibt zwei große Faktorenprozesse, die die Fluchtbewegungen erklären. Es handelt sich um die sogenannten Schubkräfte (push–Faktoren) und Sogkräfte (pull-Faktoren). Sobald Menschen die eigenen Lebensumstände in der Heimat als drückend, schwierig, gefährlich oder lebensbedrohlich empfinden und dieser Situation entfliehen, spricht man von den Schubfaktoren. Naturkatastrophen, Landknappheit, Arbeitslosigkeit, soziale Diskriminierung, binnen- oder zwischenstaatliche Kriege, politische Verfolgung (direkte Gewalt) oder der Zwang der Verhältnisse (,,strukturelle Gewalt") können solche Schubkräfte sein.
Die Sogkräfte setzen ein, wenn Menschen ihre eigenen Lebensbedingungen für trostlos halten und gleichzeitig die Anziehungskräfte anderer Regionen und Staaten so groß sind, dass das Heimatland verlassen wird. Gründe dafür sind z.B. persönliche Sicherheit, Arbeitsplätze, materieller Wohlstand und politische Freiheit.
Die Push-Faktoren sind meist die ausschlaggebenden Auslöser einer Fluchtbewegung. Allerdings sind die Ursachen nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern ein ineinander verstricktes Geflecht.[21]
Man kann die Fluchtgründe nicht einzeln betrachten, da es für jedes Fluchtgeschehen ein ganzes Verursachungsgeflecht gibt. Es gibt dennoch folgende Hauptgruppen von Fluchtgründen:
Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg
Kriege sind die bedeutendsten Ursachen von Fluchtbewegungen. Hiervon sind die Länder der "Dritten Welt" besonders betroffen (z.B. Afghanistan und Algerien oder auch das ehemalige Jugoslawien und die Kaukasusregion etc.).
Flucht vor Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe
Dies tritt z.B. unter einer Diktatur ein, in der die Menschen wegen ihrer politischen Auffassung oder dem Anderssein verfolgt werden. In solch einer Diktatur hat sich eine Gruppe monopolisiert und Aufstände werden brutal bekämpft.
Wenn eine Gruppe aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit in einem Land unterdrückt und von dem Rest der Gesellschaft ausgegrenzt wird, spricht man auch von ethnischer und religiöser Verfolgung, die auch Kinder betreffen kann. Einer ethnischen Gruppe wird z.B. der Gebrauch der eigenen Sprache verboten oder kulturelle und religiöse Einrichtungen werden zerstört, das Wahlrecht wird ihnen entzogen, Bildungschancen werden verwehrt und Berufsverbote erteilt (z.B. Kosovo).
Flucht vor geschlechtsspezifischer Verfolgung
Ein geschlechtsspezifisches Fluchtmotiv ist die Angst vor sexueller Gewalt sowohl bei Mädchen und jungen Frauen als auch bei männlichen Kindern (z.B. Sri Lanka).
Armut und Perspektivlosigkeit
Hunger und Armut können ebenfalls Gründe für eine Flucht sein. Die Menschen leben am absoluten Existenzminimum (z.B. Äthiopien, Bangladesch, Somalia etc.).
Ökologisch bedingte Migration
Die sogenannten Umweltflüchtlinge verlassen ihre Heimat aufgrund natürlicher (Vulkanausbrüche, Erdbeben, Dürreperioden) oder anthropogener (Rodung des Waldes, Bodenausbeutung, Atomunfall) Umweltzerstörung.
3.2. Kinderspezifische Fluchtursachen
Es leben momentan etwa 220.000 minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, unter denen sich laut UNHCR ungefähr 6.000 – 10.000 unbegleitete Minderjährige befinden. Gründe für die Flucht Minderjähriger ergeben sich aus der Lebenssituation in ihrem Herkunftsland. Bei den begleiteten sowie bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gibt es kinder- und jugendspezifische Fluchtgründe. Die eklatantesten Fluchtgründe sind meist politisch, gesellschaftlich oder familiär.
Zu nennen wären unter anderem:
Zwangsrekrutierung zum Waffendienst als Kindersoldat
Laut UNICEF gibt es ca. 300.000 Kindersoldaten unter 18 Jahren von denen nochmals viele Kinder jünger als 15 Jahre sind. Die meisten dieser missbrauchten Kinder sind in afrikanischen und asiatischen Kriegsgebieten im Einsatz. Viele der Kinder werden in einem Schnellkurs ausgebildet und anschließend als Boten, Spione, Minendetektoren oder sogar an der vordersten Front als „Kananonenfutter“ eingesetzt (z.B. Uganda).[22]
Bei Angriffen auf die Zivilbevölkerung mit denen man Vertreibungen, „ethnische Säuberungen“ oder Eroberung eines Gebietes erreichen möchte, sind Kinder schutzlose Opfer.
In solchen Kriegssituationen haben Kinder große Angst zum Waffendienst gezwungen und gegen ihren Willen zu Soldaten ausgebildet zu werden.
„Sie bildeten mich aus und gaben mir ein Gewehr. Ich nahm Drogen und habe viele Zivilisten getötet. Was ich damals tat, tat ich im Krieg. Ich habe nur Befehle befolgt. Ich wusste, dass es nicht richtig war. Ich habe mich nicht darum gerissen.“
Ein Kindersoldat in Sierra Leone [23]
Heranziehung zur aktiven Beteiligung an oppositionellen Aktivitäten (Kinderdemonstranten)
Die Kinder werden gezwungen oppositionell tätig zu sein und werden oft Opfer und Zeugen von offener Gewalt. Zu ihren politisch oppositionellen Aktivitäten gehören unter anderem das Überbringen von Nachrichten, Verteilen von Flugblättern, Aufhängen von Plakaten und die Teilnahme an politischen Veranstaltungen.
Flucht vor Verfolgung als Familienangehöriger (Sippenhaft, Verhöre, Folterungen, Verrat)
Falls Angehörige der Kinder Opfer politischer Verfolgung sind, stellt dies für die Kinder eine große Gefahr dar. Kinder werden inhaftiert, schikaniert und gefoltert um Auskunft über die Gesuchten zu geben.
Tod der Eltern durch Kriegshandlungen oder Verschleppung
Wenn ein oder beide Elternteile während eines Krieges oder anderer Unruhen ums Leben kommen, hinterlassen sie oft Kinder. Diese müssen dann für sich und vielleicht noch für weitere Geschwister Verantwortung übernehmen und sich um ihre Zukunft sorgen.
„Hallo Papa. Als Du noch am Leben warst, gingen wir immer zusammen in den Feldern spazieren und pflückten Blumen für Mama. Aber dann bist Du eines Tages nach Grosny gefahren, und wir haben nie wieder etwas von dir gehört. Rusik kommt bald in die Schule. Er meint, du würdest Geschenke einkaufen und wiederkommen, wenn er groß ist. Er ist ein kleiner Junge und weiß es nicht besser. Papa, ohne dich kommen wir nicht zurecht. Andere Kinder haben einen Vater. Wenn ich groß bin, werde ich etwas tun, um die Kriege zu beenden. Dann werden alle Väter bei ihren Kindern leben können. Dein Spartak“
Brief an einen, im Tschetschenien -Konflikt vermissten Vater[24]
Androhung von Umerziehungsmaßnahmen (Kinderarbeit und "Drill", Abrichtung zur Delinquenz)
Die Androhung einer Unterbringung in einem Umerziehungslager im eigenen Land oder im befreundeten Ausland bewegt die Minderjährigen ebenfalls zur Flucht.[25]
Vorenthaltung und Beschränkungen des Zugangs zu Bildung
Dies traf z.B. zur Zeit des Taliban-Regimes für Mädchen und junge Frauen in Afghanistan zu, bis zum Sturz im Herbst 2001.
Obdachlosigkeit oder desolate Verwahrungssituation
Aufgrund von wirtschaftlicher Not und Arbeitslosigkeit mussten viele Minderjährige miterleben, wie ihre Familien zerbrochen sind und leben ohne staatliche Versorgung.
Genitalverstümmelung in Form der Beschneidung von Mädchen und jungen Frauen
Es gibt heutzutage noch zahlreiche Regionen in denen solche Bräuche durchgeführt werden.
Zwangsprostitution und Sklaverei
Frauen gelten als leichte Opfer und werden oft durch sexuelle Übergriffe der Gegner verletzt. Diese entehren die Frauen oder schwängern sie...