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E-Book

Und Gott schuf Paris

AutorUlrich Wickert
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl383 Seiten
ISBN9783455850932
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Der exzellente Paris-Kenner macht den Leser mit der Stadt und ihrem Leben außerhalb der ausgetretenen Touristenpfade bekannt. Gleichzeitig schreibt er über die Franzosen. In der ihm eigenen ironischen Art beleuchtet er ihre Fehler und Vorzüge.

Ulrich Wickert, geboren 1942, ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Er war als Korrespondent in den USA und Frankreich tätig, außerdem langjähriger Anchorman der Tagesthemen. Er lebt in Hamburg und Südfrankreich, wo er neben Kriminalromanen auch politische Sachbücher schreibt. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen unter anderem die Bestseller Vom Glück, Franzose zu sein, Gauner muss man Gauner nennen und Der Ehrliche ist der Dumme. In seiner erfolgreichen Krimiserie um den Richter Jacques Ricou erschien zuletzt Das Schloss in der Normandie (Hoffmann und Campe 2015). Seit ihrer Gründung ist Wickert Secrétaire perpétuel der Académie de Berlin, die den kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland fördert.

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Leseprobe

Paris


Fassade für verinnerlichte Selbstdarstellung

Metropolis


Paris stellt die französische Geschichte dar, vereint in sich europäische Literatur und prägt den Stil des Abendlandes. So ist Paris Maßstab für das Denken und Darstellen, für verinnerlichte Kultur und veräußerlichte Ästhetik geworden. Dies alles lebt in dieser Stadt und zeugt, sich ergänzend, Menschen, die ihr Streben darauf richten, des Maßes höchste Marke zu erreichen. Selten, aber immer wieder, gelingt dies – in Glücksmomenten – außergewöhnlichen Repräsentanten ihres Faches. So zum Beispiel dem im März 1993 neu ernannten Premierminister.

Monsieur Édouard Balladur rief seine Sekretärin, schloß die Tür hinter ihr ab, lehnte sich zurück, dachte nach und fing nach einer kurzen Pause an zu reden, einfach zu reden, Satz für Satz; und erst nach Stunden ließ er die Mitarbeiterin wieder frei – nachdem er ihr seine Regierungserklärung in den Block diktiert hatte: aus dem Kopf, Seite um Seite. Keine Referentenentwürfe, keine Notizen lagen ihm vor, auf keine Hilfsmittel konzentrierte er sich; nein, er verließ sich nur auf seine Gedanken. So erhielt er, als er am 8. April 1993 seine Regierungserklärung vor der Nationalversammlung abgab, breiten Beifall, und das nicht nur im Halbrund des Palais Bourbon, sondern auch draußen in der Öffentlichkeit. Solch grandiose Darstellung – solcher Stil! – beeindruckt jeden bis hin zum einfachen Volk, das seinerzeit auch begeistert war, als Valéry Giscard d’Estaing als Finanzminister vor die Abgeordneten getreten war und ohne Manuskript eine Haushaltsrede mit Hunderten von verschiedenen Zahlen gehalten hatte – und alle Zahlen stimmten! Nur einmal die Symbiose von verinnerlichter Kultur mit veräußerlichter Ästhetik zum höchsten Stil entwickelt zu haben belohnt diese Persönlichkeiten mit einem echten Glücksgefühl, und so lassen sie sich gelegentlich zu Handlungen verleiten, die sie zur Karikatur verformen.

Hatte Édouard Balladur in seiner Antrittsrede den zerrütteten Zustand der Staatsfinanzen beklagt, so wollte er mit gutem Beispiel vorangehen und beschloß, sich zu einer Fraktionssitzung in der Nationalversammlung zu Fuß zu begeben. Sein Amtssitz, das Hôtel de Matignon, liegt in der Rue de Varenne, zehn Fußminuten vom Place du Palais Bourbon entfernt. So machte er sich »auf die Socken«, wie die französische Presse hämisch bemerkte, denn seine Socken läßt er sich für 120 Franc von der Gemahlin des französischen Botschafters beim Heiligen Stuhl in Rom bei Gammarelli kaufen, wo die Kardinäle sich einkleiden. Die Socken des Herrn Balladur sind handgemacht und haben die samtene Farbe, wie sie Prälaten zusteht. Zwölf Minuten marschierte Balladur die Rue de Varenne hinunter, bog in die Rue de Bourbon ein und betrat schließlich den Hof der Nationalversammlung. Doch von wegen sparen! Ihm folgten in ihren Wagen die Sicherheitsbeamten, die Mitarbeiter, und auch sein eigener Dienstwagen rollte im Schrittempo neben dem Premierminister her. »Der Wagen ist sein Büro«, erklärte ein Mitarbeiter, »kaum ist er hundert Meter gelaufen, muß er telephonieren.«

Gespart wurde dennoch weiterhin: Den Mitarbeitern im Amtssitz des Premiers wurde der kostenlose Kaffee-Service gestrichen, der fortan nur noch Kabinettsmitgliedern zusteht. Die Kabinettsmitglieder aber, die Balladur bei der ersten gemeinsamen Sitzung zum Mahl einlud, erhielten nur einen Hauptgang samt Dessert. Zwar entspricht solche Sparsamkeit seinem Wesen sonst nicht, aber im Moment war sie dem Image zuträglich. Im allgemeinen packt den Premierminister keineswegs die Wut über einen vergeudeten Groschen, wenn es darum geht, die Darstellung seiner Würde mit äußerlicher Ästhetik erkennbar zu machen. Die Fassade soll so prunkvoll sein, wie es der Bedeutung des als Denker anerkannten Politikers entspricht.

Als Balladur von 1986 bis 1988 Finanzminister war, bewirtete er am 8. Juli 1987 einige Journalisten so, als säßen sie am Hofe Ludwigs XIV. in Versailles zu Tische: Auf eine Languste folgte Knochenschinken, dann ein Turbot (Butt) soufflé, ein Chaudfroid de volaille, ein Baron d’agneau, Kalbszunge, ein Filet de bœuf, verschiedene Salate und eine Auswahl von Nachtischen. Gereicht wurden dazu ein Sancerre 1985 und ein Château Trimoulet 1979. So gut werden die Vertreter der schreibenden Zunft nie mehr gegessen haben.

Aber seiner Küche hatte Édouard Balladur ja schon bei Amtsantritt eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn er ließ sich dort nicht nur die offiziellen Gastmahle zubereiten, sondern auch das private Sonntagsessen mit der Familie. Im Februar 1987 versetzte er den Koch, den er bei der Amtsübernahme ein Jahr zuvor vorgefunden hatte, in die Küche des ihm unterstellten Ministers für Außenhandel, Michel Noir. Auf Anraten der Wirtschaftskapitäne Jimmy Goldsmith und Ambroise Roux heuerte er sich dann einen vorzüglichen Maître de cuisine aus der Privatwirtschaft an, und damit dieser in Ruhe arbeiten konnte, auch noch einen für den Haushalt zuständigen Intendanten. Porzellan wurde bestellt, kostbares natürlich, und mit den Initialen EB versehen. Da der Koch mit dem Zustand der Küche unzufrieden war, wurde das alte Gerät herausgerissen und durch teuerstes neues ersetzt, obwohl allen bewußt war, daß ein Jahr später der Umzug in ein neues Ministerium stattfinden würde.

Eigentlich hätte Édouard Balladur schon zu seinem Amtsantritt in das neue Gebäude im östlichen Stadtteil von Paris, in Bercy, einziehen sollen, doch die abweisende, moderne Fassade widersprach seinem Stilgefühl. Er wollte in den Mauern residieren, die Napoleon III. hatte errichten lassen, im Nordflügel des Louvre, wo Generationen von Finanzministern ein und aus gegangen sind. Kurz bevor Balladur 1986 ernannt wurde, waren die Räume des Finanzministers im Louvre auf Anordnung von François Mitterrand geräumt und zum Umbau freigegeben worden, denn auf seinen Wunsch hin sollte der Louvre das größte Museum der Welt werden, und dazu benötigte man diese Säle. Zehn Millionen Mark hatte der Abriß dieses Trakts gekostet, aber der Finanzminister wich nicht und ließ die Salons wieder herrichten – für zwanzig Millionen Mark. Kaum zwei Jahre hielt er sich im Amt, und dann begann der Umbau des Museums wirklich. Dreißig Millionen Mark hatte der Wunsch des Ministers also gekostet, hinter der ihm angemessenen Fassade zu residieren![4]

Die Rangfolge wird in Frankreich äußerst wichtig genommen. Bei jeder Regierungsbildung legt daher der Präsident oder der Premierminister den protokollarischen Platz eines jeden Regierungsmitglieds fest. 1986 ernannte Premierminister Jacques Chirac seinen engen Berater Édouard Balladur zum Ministre d’État im Rang eines ersten Ministers nach dem Regierungschef. Diese Position veranlaßte Balladur, eine entsprechende Karosse für sich zu fordern. Im Oktober 1986 beantragte er bei der staatlichen Automobilfirma Renault eine Sonderanfertigung des Modells R 25, eine Langfassung, die damals aber nicht mehr gebaut wurde. Auf Druck des Politikers fand sich schließlich im Ausland ein solcher Wagen, der nach Paris gebracht wurde und ihn von nun an aus der Masse der einfachen Minister hervorhob. Seinen Chauffeur tauschte Balladur allerdings bald aus, weil er, statt Tag und Nacht für Dienst- und Privatfahrten im Einsatz zu sein, an die Arbeitszeitordnung erinnert hatte. Den Rest dürfte ihm aber gegeben haben, daß er einem der halbwüchsigen Söhne von Balladur nicht die Wagentür aufgerissen hatte, als er ihn zu einem Privatvergnügen fahren sollte. Auch der neu eingestellte Koch und der Intendant suchten bald das Weite, weil der Herr ihnen keinen freien Tag zugestehen wollte.

Aber das sind natürlich Petitessen, wenn es darum geht, ein bestimmtes Erscheinungsbild zu vermitteln. Die Fassade ist wichtig! In Frankreich blendet sie das Volk so, daß es vor lauter Bewunderung seiner Elite Privilegien gönnt, die zu einem adäquaten Lebensstil gehören. Von 1968 bis 1980 war Édouard Balladur Präsident der Montblanc-Tunnelgesellschaft, die sich zu vierundfünfzig Prozent im Staatsbesitz befindet. Acht Jahre nachdem er das Unternehmen verlassen hatte und zwei Jahre nachdem er zum Finanzminister und damit Kontrollorgan über die Gesellschaft ernannt worden war, enthüllte die satirische Zeitschrift »Le canard enchainé« im Winter 1988, daß Balladur auf Kosten dieses Unternehmens in Chamonix über eine zweihundert Quadratmeter große Ferienwohnung verfügte, über eine zweite Wohnung für die Kinder und eine dritte für die Domestiken. Alle Spesen bis hin zur Radio- und Fernsehgebühr sowie den von Balladur erbetenen Renovierungen trug die Tunnelgesellschaft. Die Zeitungsveröffentlichung hatte für den Minister keinerlei Folgen, doch einige Monate später gab er die Wohnungen auf.

Sparen war ihm weniger wichtig, wenn es um die Darstellung seiner Position ging. Ihm, dem ersten unter den Ministern, waren nicht weniger als vier Staatsminister zugeordnet. Um die Würde des großen Denkers zu unterstreichen, mußten im Finanzministerium zusätzliche Hausdiener abgestellt werden, die ausschließlich dazu da waren, nicht nur in der Woche, sondern auch an Wochenenden, in vollem Ornat mit goldener Kette um Hals und Brust, vor dem Minister einherzuschreiten, ihm die Tür zu öffnen – und hinter ihm wieder zu schließen.

Auch bei der Arbeit zeigte...

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