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... und immer ist noch Luft nach oben!

Entdeckungen beim Älterwerden

AutorJürgen Werth
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641226299
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
»Bleiben Sie offen für Überraschungen!« (Jürgen Werth)
Leinen los und leben - auch das kann ein Motto für das Älterwerden sein. Nicht mehr so angebunden sein, loslassen und freier werden für das Neue, das vor einem liegt. Jürgen Werth versucht sein Älterwerden in genau dieser Weise wahrzunehmen, zu verstehen und zu leben.
Hier erzählt er, was er dabei entdeckt.
Ein heiter-nachdenkliches Buch voller Inspiration und Lebensklugheit.
  • Loslassen und Freiheit gewinnen
  • Ein kluges Buch vom bekannten Liedermacher und Autor Jürgen Werth
  • Heiter, lebensklug, inspirierend und ermutigend


Jürgen Werth war bis 2014 Vorstandsvorsitzender bei »ERF Medien« und ist als Liedermacher, Moderator und Autor unterwegs. Er ist ein Meister im Geschichtenerzählen und viele seiner Lieder haben sich zu Klassikern entwickelt. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

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Leseprobe

2 DIE JAHRESZEITEN DES LEBENS

Achtung, das ist ein Gedankenspiel! Teil 1: Stellen wir uns einfach mal vor, unser Leben wäre ein Jahr, ein ganz gewöhnliches Jahr mit zwölf Monaten, und jeder von uns hätte dieselbe Lebenslänge zugeteilt bekommen. Dann hätten wir 365 Tage zur Verfügung. An einem Viertel davon, also an ungefähr 91 Tagen, wäre Frühling, an 91 Tagen Sommer, und an je 91 Tagen Herbst und Winter. Teil 2 unseres Gedankenspiels: Wir stellen uns vor, das Jahr würde mit dem Frühling beginnen. Was ja eigentlich auch ganz schön wäre. (Vielleicht kann die EU-Kommission diesen Vorschlag gelegentlich einmal prüfen.) Unser Lebensjahr würde also mit dem Frühling beginnen und dann in Sommer und Herbst übergehen und schließlich mit dem Winter enden.

Nun haben wir in der Regel mehr als ein Jahr. Aber der Ablauf der Jahreszeiten ist so etwas wie die Blaupause, nach der unsere Lebensjahre ablaufen. Heißt, wer hundert wird, erlebt in den ersten 25 Jahren den Frühling, zwischen 25 und 50 den Sommer, zwischen 50 – ja leider schon da – und 75 den Herbst, und anschließend den Winter.

Das ist eine ausgesprochen grobe Einteilung, ich gebe es zu. Aber mir hat sie schon manchmal geholfen, mich in meiner jeweils aktuellen Lebensphase zu verorten und zurechtzufinden.

Im Frühling erwacht das Leben. Alles knospt und sprießt. Die Welt blüht auf und strotzt geradezu vor Lebenslust und Optimismus. Sie weiß, dass der Winter noch lange nicht kommt, dass also noch viele gute, bunte Monate vor ihr liegen. Vor uns liegen, wenn wir unsere ersten 25 Jahre denn mit dem Frühling vergleichen wollen. Alles signalisiert Anfang. Wir Menschen tun unseren ersten Schrei, gehen tapsend unsere ersten Schritte, stammeln unsere ersten Wörter. Gehen in den Kindergarten, in die Schule, auf die Universität, lernen einen Beruf. Lernen leben. Manchmal gründen wir auch schon eine Familie.

Im Frühling werden die Grundlagen gelegt. Darum ist diese Jahreszeit so besonders wichtig. Und gefährdet. Plötzliche Frosteinbrüche können lebensgefährlich sein für junge Knospen und Triebe, können im schlimmsten Fall zu totalen Ernteausfällen führen. Auch bei uns Menschen. Die Kleinen müssen gehegt und gepflegt werden, geschützt und gefördert. Sie müssen in einem möglichst gut klimatisierten Lebensraum heranwachsen. Wer hier Schaden nimmt, hat oft ein ganzes Leben damit zu tun, die Folgen zu bekämpfen. Wer hier Gutes erlebt, kann ein ganzes Leben davon zehren. In der Regel erleben wir beides.

Ich erinnere mich: Mein Frühling war eine aufregende Zeit. Entdeckungszeit. Eroberungszeit. Es war die Zeit des Staunens, aber auch die Zeit des Fürchtens. So viel Unbekanntes! Blütenträume und Alpträume in stetem Wechsel. Manchmal himmlisch, manchmal höllisch. Jedenfalls nicht immer schön. Es gab Wachstumsschmerzen, Identitätskonflikte. Wer bin ich eigentlich, wer will ich sein? Was kann ich eigentlich? Was sollte ich darum fördern, was besser sein lassen? Was will ich werden? Welche Menschen passen zu mir? Wer tut mir gut? Lauter spannende Fragen, die beantwortet werden wollten.

Am Anfang waren es die Eltern, natürlich. Die Großeltern auch und alle Tanten und Onkel, die die Familie aufzubieten hatte. Aber zunehmend wurden es auch Lehrer, Jungscharleiter, Schulkameraden, Freunde. Und dann endlich die Freundin! Die Vertraute! Die Angetraute! Der Frühling ist die Zeit des Aufbruchs und des Ausprobierens. Der ungehemmten Träume und Fantasien, heller und dunkler. Aber auch die Zeit der ersten Enttäuschungen. Die wiegen in der Regel schwerer als spätere, weil wir noch nicht so geübt sind, sie zu ertragen und aus ihnen zu lernen.

Dann kommt der Sommer. Alles ist aufgeblüht. Alles ist üppig belaubt. Alles zeigt sich in den schönsten Farben und Formen. Es ist angenehm warm. Meistens. Aber manchmal wird es auch unangenehm heiß und schwül, und die Hitze trocknet Böden und Bäche und Talsperren aus. Dann müssen Menschen haushalten mit den Ressourcen, die sie zum Leben brauchen.

Der Sommer ist auch die Zeit der Gewitter, der monsunartigen Regengüsse. Menschen im Sommer haben ihre schützenden Elternhäuser und Schulgebäude verlassen. Sie werden vom Verzehrer zum Ernährer. Müssen ihren Mann und ihre Frau stehen. Der Sommer ist die Zeit, in der sie eigene Häuser bauen, Lebenshäuser auch. Im Sommer macht man Karriere. Was man im Sommer nicht erreicht, erreicht man vermutlich anschließend auch nicht mehr. Der Lebenssommer ist anstrengend. Wie man Beruf und Familie, so man denn eine hat, miteinander vereinbaren kann, ist eine klassische Sommerfrage.

Im Sommer muss man aber auch mit den ersten Dürreperioden zurechtkommen und mit Blitzeinschlägen und Überschwemmungen. Es gibt die berüchtigte Krise in der Lebensmitte, die Midlife-Crisis. Mancher kommt ans Ende seiner Kraft im Sommer, erlebt vielleicht sogar sein erstes Burnout, brennt aus. Die Anforderungen, die das Leben stellt, sind übermächtig geworden. Was soll man nicht auch alles leisten im Sommer des Lebens! Was soll man nicht auch alles sein!

Ich erinnere mich: Ich war verheiratet und wollte ein guter Ehemann sein, wir hatten drei Kinder, die wir zum selbstständigen Leben und zum selbstständigen Denken erziehen wollten, die wir fördern und fordern wollten, hüten und freilassen. Ich sollte und wollte erfolgreich sein im Beruf, wollte und sollte Lieder schreiben und möglichst professionell mit meiner Band aufführen, ich schrieb mein erstes Buch, ich sollte und wollte aber auch meinen Körper nicht vernachlässigen, sollte und wollte Freundschaften pflegen, mich ehrenamtlich im Verein und in der Kirchengemeinde engagieren und was weiß ich noch alles. Der Sommer ist vielleicht die schönste, auf jedem Fall aber auch die kräftezehrendste Phase des Lebens.

Und dann der Herbst. Man fröstelt in der Nacht und manchmal auch am Tag. Man ahnt schon, dass es bald Winter wird. Die Tage werden kürzer. Die ersten Blätter verfärben sich und lassen schon bald die ganze Welt so aussehen, als wäre sie komplett in einen Farbkasten gefallen. Ein letztes Aufbäumen der Natur gegen den nahenden Tod. Dann fallen sie zu Boden.

Es ist aber auch Erntezeit. Fröhliche und dankbare Erntedankfestzeit. Man sieht, was geworden ist. Dass man sich nicht vergeblich gemüht hat. Manche Gartengeräte werden schon mal in den Keller oder in den Schuppen geschafft. Manche Spielgeräte auch. Das Leben verlagert sich mehr und mehr von draußen nach drinnen. Wir pflegen das, was so nur wir Deutschen kennen: Gemütlichkeit. Der erfrischend kühle Weißwein weicht dem wärmeren und weicheren Rotwein.

Im Lebensherbst blicken wir öfter zurück als in den vergangenen Jahreszeiten. Manchmal träumen wir vom Frühling, vom Sommer. Manchmal sind wir auch wieder ganz froh, dass wir das alles geschafft und hinter uns gelassen haben. Keine Klassenarbeiten mehr. Keine Pubertätskonflikte mit den Eltern. Kein Kampf mehr um den richtigen Platz im Leben. Keine Karriereplanungen mehr. Kein Postengeschacher. Keine Streitereien mit den flügge werdenden Kindern wegen unterschiedlicher Lebensentwürfe.

Ich erinnere mich nicht, denn ich stecke da mitten drin. Und ich mutmaße mal, liebe Leserinnen und Leser, dass das für die meisten von Ihnen auch gilt. Man beginnt sich zu arrangieren mit dem, was man erreicht hat. Und mit dem, was sich nun wohl auch nicht mehr erreichen lässt. Man genießt die ruhigen Abende am Kamin. Immer weniger muss man den anderen etwas beweisen, den Gleichaltrigen nicht und schon gar nicht den Jüngeren. Obwohl man sich doch auch heimlich immer mal wieder an ihnen misst. Möchte noch einmal genauso schlank sein wie sie, noch einmal auch so einen wilden Haarschopf zu bändigen haben wie sie, noch genauso neugierig und hungrig sein. Man spürt, dass man langsam den Anschluss verliert. An den aktuellen Musikgeschmack, an das, was »man« so trägt, an die Art und Weise, wie man sich ausdrückt. Was »zu unserer Zeit« schick und modern war, ist heute, »zu ihrer Zeit«, ein bisschen verstaubt. Die Beatles waren der letzte Schrei damals in den wilden 60ern. Für die Jungen heute ist das die Musik der Großeltern. Also das, was für uns »Das alte Försterhaus« war. Und wenn man selber Lieder schreibt, so wie ich, muss man neidlos akzeptieren, dass es inzwischen Herbstlieder sind und die Frühlingskinder ganz und gar andere Lieder hören und singen und lieben.

Andererseits: Der Herbst hat keine gemeinsame Grenze mit dem Frühling, dazwischen liegt das Land des Sommers. Das bedeutet, dass es auch keine Grenzstreitigkeiten zwischen den Frühlingsbewohnern und den Herbstlingen gibt. Das kann man zu entspannten Begegnungen und Gesprächen nutzen. Wohl auch deshalb kommen Großeltern oft besonders gut mit ihren Enkeln klar. Zuweilen besser jedenfalls als die Eltern mit ihren Kindern. Herbstmenschen sind gelassener als Sommermenschen.

Und endlich wird es Winter. »Endlich«. Denn der Winter macht es uns unmissverständlich klar, dass unser Leben endlich ist. Wie das Jahr. Der Winter ist die Jahreszeit des Todes. Vieles wird schwächer und blasser und stirbt. Lebensenergie und Körperkraft und Abenteuerlust. Manchmal sterben auch die elementaren Fähigkeiten unseres Körpers. Die Sehkraft, das Hörvermögen. Der Winter zieht die Grenzen enger. Er verweist uns ins Haus. Endgültig. Die meisten von uns fürchten den Winter. Wenigstens solange er uns bevorsteht. Wir haben Bilder gespeichert von schwachen und siechen Menschen, die in einem sterilen Heim vor sich hindämmern und auf den Tod warten.

Ich erinnere mich jetzt doch. Nicht an meinen Winter, der steht mir noch bevor, aber an einen Satz, den unser Ältester gesagt hat, als er sieben oder acht war....

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