Das Gewitter und die Gams
Am Anfang steht immer der Schweiß … Mühsam kämpften wir uns wieder an der Ostflanke des Ritterkopfes hinauf. Schritt für Schritt, Meter für Meter – immer gleichmäßig atmend, nur die Schrittlänge passten wir der jeweiligen Steigung an. Gerade konnten wir noch mit dem Geländewagen zur hoch gelegenen Grieswiesalm fahren, ein letztes Mal den unbeschwerten Transport genießen, und dann mussten wir die Mühsal auf uns nehmen, die die Gamspirsch erst zu einem Erlebnis werden lässt. Nur die hart erkämpfte Gams, die unter Einsatz sämtlicher körperlicher Kräfte erbeutet wird, prägt sich unauslöschlich in die Erinnerung ein.
Die Kraxe drückte auf den Schultern, und wieder überlegte ich, welches unnötige Gepäck ich besser im Tal hätte zurücklassen sollen. Während ich mir noch einmal vor Augen führte, was für Sachen ich auf die Höhe schleppte, fiel mir plötzlich ein, dass ich meinen dicken Pullover, der mich vor der morgendlichen Kälte schützen sollte, im Jagdhaus vergessen hatte. Und in diesem Moment wurde mir auch klar, warum das Gepäck viel leichter war als letztes Jahr. Man muss nur weniger Kleidungsstücke in den Rucksack packen, und schon wird die Last verringert – eine recht simple Erklärung, allerdings eine, die mir noch schwer zu schaffen machen sollte. An die morgendliche Kälte wollte ich gar nicht denken. Noch hatte ich die Hoffnung, dass wir vielleicht schon am Abend im Bocksteinkar auf Gams treffen würden, und dann wären sämtliche Befürchtungen hinfällig.
Die erste halbe Stunde des Aufstiegs stellte wie immer den gemütlichen Teil unseres Abenteuers dar. Noch ging es nicht steil bergauf, noch konnten wir auf den Almen nur mäßig an Höhe gewinnen. Einige Kühe vertrieben wir von dem Steig, den sie sich ausgesucht hatten, um in aller Ruhe wiederzukäuen. Die schweren Pferde der Bergrasse schauten uns misstrauisch an, so dass wir uns vorsichtig an ihnen vorbeischleichen mussten. Mühsam querten wir einen Hang, auf dem wild durcheinandergewirbelte Baumstämme und abgebrochene Äste lagen, überdeutlich die Gewalt aufzeigend, die Lawinen erzeugen können. Einen Weidezaun nach dem anderen überstiegen wir, immer darauf achtend, dass der Stacheldraht nicht unsere Hosen zerriss. Doch auch auf diesem Weg gewannen wir allmählich Höhe. Steil zogen sich die Graslehnen zu den Felsabstürzen hinauf. Als wir wieder einmal in ein enges Kar einbogen, blieb der Jäger Günter stehen, zeigte zu den sich über uns auftürmenden Felsen und erzählte, dass sie kürzlich knapp unterhalb der Felsstufen einen starken Bock hätten erlegen können. Es sei schwierig gewesen, ihn auf der fast deckungslosen Lehne anzupirschen. Sie hätten es aber geschafft, bis auf 250 Meter an das Stück heranzukommen. Allerdings hätten sie bei der Bergung Kopf und Kragen riskiert. Die Lehne sei sehr rutschig gewesen. Der kapitale Bock hätte ordentlich auf dem Rücken gedrückt, aber der Jäger hätte nicht das Haupt abschärfen wollen, um das Stück hinunterziehen zu können. Er hätte auch dem Freund des Jagdherrn den Anblick des unversehrten Stückes gewähren wollen. Während ich noch hinauf auf die himmelhohen Felsen schaute, zog Günter sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und zeigte mir das Bild des Bockes. „Sehen Sie, wie verpecht die hohen Krucken sind?“ Ja, das waren Krucken, ganz dick und stark – für mich unerreichbar. Aber man kann sich auch am Weidmannsheil anderer erfreuen. Und zu wissen, dass derart kapitale Gamsböcke in dem weitläufigen Revier ihre im Sommer verborgenen Fährten ziehen, war faszinierend und ließ mir das Jagdgebiet noch mehr ans Herz wachsen.
Als wir die Schutzhütte auf der Niederalm querten – jetzt schon auf dem Steilanstieg – und uns allmählich der Baumgrenze näherten, spürte ich, dass die Vorbereitungen in der Tiefebene nicht umsonst gewesen waren. Noch war genügend Kraft vorhanden, und ich war mir sicher, auch dieses Mal die Tour durchstehen zu können. Fast 900 Höhenmeter hatten wir zu bewältigen, um die Ritterkarhütte zu erreichen, und wir wollten versuchen, es in der Zeit zu schaffen, die wir in den letzten Jahren gebraucht hatten. Irgendwie kam mir dieser zügige Gang wie ein Beweis vor, dass ich trotz meines vorgerückten Alters doch noch einmal – wie vor 15 Jahren – den Berg bezwingen konnte. Wollte jemand von mir einen Rat bezüglich der Gamsjagd hören, würde ich ihm antworten, dass er so früh wie möglich damit beginnen sollte. Je älter man wird, desto schwieriger wird die Gamspirsch, selbst dann, wenn man mehr oder weniger in den Alpen aufgewachsen ist.
Mit Erreichen der Baumgrenze legten wir die erste von zwei Pausen ein, tranken ein wenig von dem köstlichen Quellwasser, um dann den schwierigsten Teil des Aufstieges in Angriff zu nehmen. Konnten wir bis hierher noch Vieh- und Jägersteige nutzen, mussten wir jetzt auf den Almen fast in der Direttissima Höhe gewinnen. Noch war das Gras vom Vieh kurz gehalten, doch das änderte sich schlagartig, als wir die Grenze zu den hoch gelegenen Almen überschritten. Dort oben weidet kein Vieh mehr, dort oben herrscht nur noch das Wild – ihm soll auf diesen Almen die Grundlage geschaffen werden, auf der es in Ruhe existieren kann.
Was aber für das Wild so vorteilhaft ist, stellt sich leider für den Jäger als eine überaus große Schwierigkeit heraus. Auf den beweideten Almen ist das Gehen trotz aller Beschwernisse noch angenehm, im fast einen halben Meter hohen Gras ist es nur noch kraftraubend. Da das Gras sich talwärts neigt, muss es vor jedem Tritt zur Seite geschoben werden, da man nie weiß, ob sich nicht doch ein Loch darunter verbirgt, das, sollte man hineintreten, unweigerlich zum Sturz führen würde. Als wir dann auch noch eine extrem steile Graslehne erklimmen mussten, musste ich mich voll und ganz auf die Tritte konzentrieren. Ein Fehltritt, und mit der Jagd wäre es vorbei – allerdings nicht nur mit ihr. Meter um Meter wuchtete ich die schwere Last hinauf. Zuweilen benötigte ich die Hilfe des Stockes, um wieder etwas an Höhe zu gewinnen. Günter, der wenige Meter über mir kletterte, wies mich auf ein Büschel Edelweiß hin, das er im Gras entdeckt hatte. Als ich daran vorbeistieg, reizte es mich, mir einen Stängel abzubrechen, um der Gams, die wir hoffentlich erlegen würden, den Namen „Edelweißgams“ geben zu können, doch ich unterließ es. Es sollen sich auch noch andere Kletterer an dieser seltenen Blume erfreuen – falls ein Tourist diesen abgelegenen Steig gehen sollte. Doch wenige Meter höher wurde ich wieder in Versuchung geführt. Dort blühte wiederum die Blume, die schon so viel Freude, aber auch so viel Leid bereitet hat. Auch dieses Edelweiß ließ ich schweren Herzens stehen. Dabei dachte ich an das Lied „Das scheanste Bleamerl auf da Alm“, das wir vor einigen Jahr im fernen Tirol in froher Jägerrunde gesungen hatten; darin schlägt der Wunsch nach dem Edelweiß als Liebesbeweis in tiefe Trauer um den verunglückten Freund um.
„Er liegt verlåssn gånz alloan,
auf ana Felsnwand.
Und ’s Edelweiß, gånz blutigrot,
hålt fest er in der Hand.“
Als wir endlich das Steinkar erreichten und über die abgestürzten Felsen kletterten, war schon die Quelle zu sehen, an der wir ein zweites Mal rasten und Wasser aufnehmen wollten, da in der Nähe der Ritterkarhütte keine Quelle mehr sprudelt. „Wieder eine Last mehr“, meinte Günter. Ja, zu den 25 Kilo am Rücken sollten weitere Kilos kommen. Doch auch diese Schwierigkeit brachten wir hinter uns, und dann standen wir vor dem letzten Steilhang, hinter dem schon das Dach der Hütte zu sehen war. Ein letzter Quergang über eine fast senkrechte Graslehne, und dann hatten wir es geschafft.
Bald kochte das Teewasser, der Ofen spendete eine angenehme Wärme, die die Klammheit aus der Hütte vertrieb, und schon meinte Günter, dass er einmal im Bocksteinkar vorbeischauen wolle, um zu prüfen, ob Wild darin stünde. Weit ist es nicht bis zum Auslug in das Kar. Als er zurückkam, winkte er gleich ab, das Kar sei wildleer. Es seien offensichtlich Bergsteiger im Laufe des Tages durch das Kar gestiegen, ärgerte er sich. Und dass dies der Fall war, davon zeugte auch eine geleerte Bierdose, die wir unter der Hüttenbank fanden. Auch das ist eine Form der Naturfreundschaft: Man wandert und klettert, der hinterlassene Dreck und Abfall interessiert hingegen nicht. Man geht schließlich wieder fort, die Nachfolger können sich dann ja um die Beseitigung kümmern … Als Naturfreund kann man sich nur ärgern, aber der Massentourismus zieht eben nicht nur echte Naturfreunde an, sondern auch solche, die die Naturfreundschaft eher als ein theoretisches Phänomen ansehen.
Das Bocksteinkar war leer, also mussten wir versuchen, das Wild im Ritterkar zu finden. Obwohl wir schon 900 Höhenmeter geschafft hatten, mussten wir weitere 300 Höhenmeter bewältigen, um zum Übergang zum Ritterkar zu...