Inhaltsverzeichnis2.
An einem Sonntag im Frühling 2009 fuhr ich zum ersten Mal nach Rechnitz, um herauszufinden, was meine Großtante wirklich mit dem Verbrechen zu tun hatte. Ich kam frühmorgens mit dem Nachtzug aus Zürich in Wien an, mietete ein Auto und fuhr an Wäldern und Weinbergen vorbei; noch waren die Trauben an den Rebstöcken klein und hart. Rechnitz ist kein schöner Ort, nicht viel mehr als eine Hauptstraße, an der links und rechts niedrige Häuser stehen mit schmalen Fenstern und blickdichten Vorhängen. Es gibt keinen Kern, keinen Marktplatz, und das Schloss, das der schwerreiche deutsche Unternehmer und Kunstsammler Heinrich Thyssen seiner Tochter Margit, unserer Tante Margit, in seinem Testament überschrieben hat, steht nicht mehr. Die Russen zerbombten es bei ihrem Einmarsch 1945, worauf die Einwohner alle Möbel, die Bilder und Teppiche mitnahmen.
Jedes Jahr organisiert der Verein Refugius eine Gedenkfeier für die ermordeten Juden. Am Ortseingang beim Kreuzstadl, dem vermutlichen Tatort, heute ein Mahnmal, wird dann gesungen und gebetet. Das Verbrechen dürfe nicht vergessen werden, hieß es auch in den diesjährigen Ansprachen. Ich stand etwas abseits, ich kannte ja niemanden und sah mich um: Die Sonne schien, Löwenzahn blühte, das Gras war knöchelhoch und noch ein wenig feucht, irgendwo darunter befanden sich 180 Schädel. Das Massengrab ist trotz jahrelanger Suche bis heute nicht gefunden worden.
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Die Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 ist mondhell. Im Schloss von Margit Batthyány-Thyssen in Rechnitz, Burgenland, nahe der österreichisch-ungarischen Grenze, findet ein Gefolgschaftsfest statt. Mitglieder der Gestapo und lokale Nazi-Größen wie SS-Hauptscharführer Franz Podezin, wie Josef Muralter, wie Hans-Joachim Oldenburg unterhalten sich mit Hitlerjungen und Angestellten des Schlosses und trinken Sekt. Für die Nationalsozialisten ist der Krieg verloren, die Russen sind schon an der Donau, doch das soll die Stimmung nicht trüben. Es ist acht Uhr abends. Zur selben Zeit stehen am Bahnhof in Rechnitz etwa 200 jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn, die beim Bau des Südostwalls eingesetzt wurden, einer gigantischen Verteidigungslinie, die von Polen über die Slowakei und Ungarn bis nach Triest führen und die anrückende Rote Armee aufhalten soll. Um halb zehn Uhr abends lädt der Lkw-Unternehmer Franz Ostermann einen Teil der Juden in seinen Lastwagen und übergibt sie nach kurzer Fahrt vier Männern der Sturmabteilung, SA, die den Gefangenen Schaufeln in die Hand drücken und ihnen befehlen, eine L-förmige Grube auszuheben.
Die ungarischen Juden beginnen zu graben, sie sind müde und schwach, die Erde ist hart, im Schloss von Tante Margit wird getrunken und getanzt. Später an diesem Abend erhält SS-Hauptscharführer Franz Podezin einen Anruf. Weil der Lärm im Festsaal zu groß ist, muss er ins Nebenzimmer. Das Gespräch dauert keine zwei Minuten. Podezin sagt: »Ja, ja!«, und schließt mit den Worten: »Verdammte Schweinerei!« Er beauftragt Hildegard Stadler, sie ist die Leiterin des örtlichen Bundes Deutscher Mädel, etwa zehn bis dreizehn Festteilnehmer in einen Raum zu führen. »Die Juden vom Bahnhof«, teilt er ihnen mit, »sind an Fleckfieber erkrankt und müssen erschossen werden.« Keiner widerspricht. Der Waffenmeister Karl Muhr verteilt Gewehre und Munition an die Festgäste. Es ist kurz nach 23 Uhr. Im Schlosshof stehen drei Autos bereit. Nicht alle aus der Gruppe haben Platz, einige gehen zu Fuß. Es ist ja nicht weit.
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Ich rief meinen Vater an. »Du wusstest«, sagte ich zu ihm, »dass Tante Margit in jener Nacht dort war, und du wusstest auch von dem Massaker.«
»Ja.«
»Aber du hast dir nie überlegt, dass sie möglicherweise darin verwickelt war?«
»Ist das ein Verhör?«
»Ich frage nur.«
»Ich hab nie gedacht, dass es zwischen dem Fest und dem Massaker eine Verbindung geben könnte, wie das seit Neuestem in den Zeitungen behauptet wird. Warte kurz«, er hustete. Ich hörte, wie er sich eine Zigarette aus der Schachtel nahm.
»Du rauchst zu viel.«
»Wie geht’s der Kleinen?«
»Sie bekommt ihren dritten Zahn, und sie krabbelt. Wieso hast du mit Margit nie über den Krieg gesprochen?«
»Was hätte ich fragen sollen? Du, Tante Margit, willst du noch einen Schluck Wein? Und übrigens, Tante Margit, hast du Juden erschossen?«
»Ja.«
»Sei nicht naiv. Es waren Höflichkeitsbesuche. Wir haben übers Wetter gesprochen, und sie hat über Familienmitglieder hergezogen. ›Verfaulter Keim‹, sagte sie, wenn sie über die Thyssens und Batthyánys sprach, die ihrer Meinung nach alle nicht ganz bei Trost waren. ›Verfaulter Keim‹, das war ihr Lieblingsspruch. Kannst du dich noch an ihre Zunge erinnern?«
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Zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens fährt der Lkw-Unternehmer Franz Ostermann insgesamt siebenmal vom Bahnhof zum Kreuzstadl, auf der Ladefläche jeweils 20 bis 30 Juden, die er den vier SA-Männern übergibt. Die Juden müssen sich ausziehen, vor der Grube liegen ihre Kleider, nackt knien sie am Rand ihres L-förmigen Grabes. Podezin steht da, Oldenburg auch, beides fanatische Nationalsozialisten. Sie schießen den Juden in den Nacken. Josef Muralter, NSDAP-Mitglied, schreit, während er abdrückt: »Ihr Schweine gehört ins Feuer! Ihr Vaterlandsverräter!« Die Juden sacken zusammen, fallen in das Erdloch und bleiben aufeinandergestapelt liegen. Im Schloss werden neue Sektflaschen entkorkt, jemand spielt auf der Ziehharmonika. Margit ist jung und mag es gerne lustig, sie trägt die schönsten Kleider von allen. Einem Kellner namens Viktor fällt auf, dass die Gäste, die um drei Uhr morgens wieder im Saal erscheinen, wild gestikulieren, sie haben gerötete Gesichter. SS-Hauptscharführer Podezin, der mutmaßliche Anführer, eben noch hat er Frauen und Männern in den Kopf geschossen, tanzt jetzt ganz ausgelassen.
Nicht alle Juden wurden in dieser Nacht erschossen. Achtzehn ließ man vorerst am Leben. Sie erhielten die Aufgabe, die Grube mit Erde zuzuschütten. Totengräberdienst. Zwölf Stunden später, am Abend des 25. März, wurden sie im Auftrag von Hans-Joachim Oldenburg, Margits Geliebtem, ebenfalls umgebracht und in der Nähe des Schlachthauses beim Hinternpillenacker verscharrt.
Nach dem Krieg wurden sieben Personen des mehrfachen Mordes und der Quälerei beziehungsweise des Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt. Josef Muralter, Ludwig Groll, Stefan Beigelbeck, Eduard Nicka, Franz Podezin, Hildegard Stadler und Hans-Joachim Oldenburg. Doch 1946 geriet der Prozess ins Stocken, weil die beiden Hauptzeugen ermordet wurden. Der Erste war Karl Muhr, der Waffenmeister im Schloss. Er hat in jener Nacht am 24. März die Gewehre ausgehändigt und den späteren Tätern direkt ins Gesicht gesehen. Ein Jahr danach lag Muhr mit einer Kugel im Kopf neben seinem toten Hund im Wald, und sein Haus stand in Flammen. Die Patronenhülse, die die Polizei am Tatort sichergestellt hat, ist verschwunden. Der zweite Tote war Nikolaus Weiss, ein Augenzeuge. Er hatte das Massaker überlebt und sich bei einer Rechnitzer Familie im Schuppen versteckt. Ein Jahr später, er war auf dem Weg nach Lockenhaus, wurde sein Wagen beschossen und geriet ins Schleudern. Weiss war auf der Stelle tot.
Nach diesen beiden Fememorden lebten die Einwohner von Rechnitz in Angst vor Vergeltung. Niemand sprach. Das Schweigen hat bis heute gehalten. In den siebzig Jahren seit dem Verbrechen ist der Ort zu einem Symbol für Österreichs Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit geworden. Wer Rechnitz sagt, der meint Verdrängen.
Am 15. Juli 1948 wurden Stefan Beigelbeck und Hildegard Stadler freigesprochen. Ludwig Groll wurde zu acht Jahren schweren Kerkers, Josef Muralter zu fünf Jahren und Eduard Nicka zu drei Jahren Haft verurteilt. Podezin und Oldenburg, die beiden Haupttäter, waren auf der Flucht. Die burgenländische Polizei vermutete, sie seien bei Gräfin Margit Batthyány-Thyssen in der Schweiz, einquartiert in einer Wohnung oberhalb von Lugano.
Interpol Wien benachrichtigte die Luganeser Behörden per Telegramm am 28. August 1948: »Es besteht die Gefahr, dass sich die beiden nach Südamerika begeben. Bitte um Festnahme.« Die Verhaftungsbefehle gegen die Flüchtigen wurden am 30.08.1948 ausgeschrieben, blieben aber ohne Ergebnis.
In seinem Schlusswort sagte Dr. Mayer-Maly, Staatsanwalt in Österreich, der das Massaker aufklären sollte: »Die wahren Mörder sind noch nicht gefunden.«
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Ende August fuhr ich zum zweiten Mal nach Rechnitz; die Weintrauben waren jetzt rot, die Bäume voller Sommer. Ich besuchte Annemarie Vitzthum, sie war 89 Jahre alt und wahrscheinlich die letzte noch lebende Teilnehmerin an Margits Fest.
»Ich hatte mich extra fein gemacht«, erinnerte sie sich, »wir saßen an runden Tischen im kleinen Saal im Erdgeschoss, das Grafenpaar mittendrin. Die Gräfin Margit sah aus wie eine Prinzessin, so schöne Kleider, wie die anhatte.«
Dauernd seien Männer in Uniformen gekommen und wieder gegangen, sie könne sich an deren Namen aber nicht erinnern. »Es war ein Wirbel«, das habe sie 1947 auch dem Staatsanwalt erklärt, als sie verhört wurde. »Alle tranken Wein, alle tanzten, ich kannte das nicht, ich war doch nur ein einfaches Mädchen, nur die Telefonistin.« Um Mitternacht sei sie von einem Soldaten nach Hause begleitet worden, bis zu diesem Zeitpunkt habe die Gräfin das Schloss nicht verlassen. Das von den Juden, sagte Frau...