Meine erste Begegnung mit einer Hautfarbe, die anders aussah als meine eigene, war die weiße Haut der Kolonialherren des Kongo. Das waren Menschen aus Belgien, die als Verwalter, Ärzte und Missionare zu uns kamen. Ich kann mich entsinnen, es war wohl bei meinen ersten Impfungen, bei denen es zu dieser Begegnung mit weißen Ärzten und Schwestern kam – und später dann auch mit den Priestern bei den Gottesdiensten. Das waren zu jener Zeit ausschließlich Menschen mit weißer Hautfarbe.
Ich war natürlich als Kind erstaunt, dass es auch solche Menschen gibt – aber es war kein Schock, nur eine Art kindlicher Verwunderung, die mich ergriff.
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Die Unterschiede werden klar. Doch bald schon stellte ich einige Besonderheiten fest, die offensichtlich mit den Unterschieden der Hautfarbe zu tun hatten: Bei den Gottesdiensten saßen nämlich die weißen Herren und Damen in speziellen Flügeln nah beim Altar, während das schwarze Glaubensvolk im Kirchenschiff Platz fand. Hier waren die Hautfarben strikt getrennt. Noch mehr darüber nachzudenken begann ich in meiner Schulzeit. Da wurde nämlich eines Tages eine Schule nur für die europäischen Kinder gebaut. Schwarze Schüler wurden nicht aufgenommen.
Auf Gerechtigkeitsfragen war ich zu dieser Zeit als Schuljunge noch nicht wirklich gestoßen. Ich folgte da dem Beispiel der meisten anderen schwarzen Menschen in unserem Dorf. Diese nahmen die unterschiedliche Behandlung von Schwarz und Weiß wahr – aber regten sich nicht darüber auf.
Und doch: Es fiel mir irgendwie auf, dass diese neue Schule nur für die weißen Kinder in keiner Weise mit unserer Schule für uns Schwarze zu vergleichen war. Die Schule für Europäer-Kinder war mit besten Ziegeln gemauert, mit einem festen, regendichten Dach, hohen Fenstern und modernem Sonnenschutz ausgestattet, mit schicken Schulmöbeln möbliert, mit einem Linoleumboden versehen – alles Dinge, von denen wir als Dorfkinder nur träumen konnten. Denn wir hockten in unserer Dorfschule für die zwei ersten Schuljahre auf roh zusammengezimmerten, wackligen Holzbänken in einer Hütte, die mit Holzlatten und Palmwedeln gedeckt war. Die weißen Schüler hingegen genossen eine Schule mit bester technischer Ausstattung, ja, sie wurden sogar in eigenen Bussen zum Unterricht chauffiert und wieder nach Hause gebracht.
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Fahrrad oder Limousine? Wir schwarzen Dorfkinder dagegen gingen zu Fuß zur Schule. Und auch sonst war die Kluft mehr als deutlich. Denn ein Motorrad, geschweige denn ein Auto, hatte niemand in unserem Dorf. Langsam dämmerte mir, dass die Weißen doch vielleicht mehr Mittel, mehr Rechte und mehr Chancen hatten als wir Schwarzen. Das war für mich erst einmal eine Feststellung – nicht verbunden mit einem Aufbegehren.
Allerdings gab es für mich und meine Klassenkameraden zu dieser Erfahrung auch ein Gegengewicht: Was uns guttat, das war die Begegnung mit den Missionaren. Diese waren die ersten, die uns überhaupt Schulen auf das Land brachten. Der Staat war dazu offensichtlich zu keiner Zeit in der Lage. Es waren Missionare, keine staatlichen Lehrer, die uns das Schreiben und Lesen beibrachten. Wir spürten: Diese Menschen standen zu uns. Sie interessierten sich für unsere Sorgen, unsere Nöte und wurden für uns zu wichtigen Bezugspersonen.
Auch die Krankenhäuser für uns Schwarze wurden nur von den Missionaren betreut. Für die Europäer gab es spezielle Kliniken – Schwarze kamen da nicht hinein. Die Missionare waren diejenigen, die uns wirklich zur Hilfe gekommen sind. Denn bei ihren Missionsreisen hatten sie beispielsweise immer Medikamente dabei. Durch diese Medikamente wurden viele Kranke bei uns im Dorf wieder gesund. Das machte die Missionare glaubwürdig: Es zeigte uns Schwarzen, dass sie uns auch als Menschen helfen wollten.
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Und doch alle erschaffen nach dem Ebenbild. Natürlich haben diese Missionare auch das getan, was Missionare tun: den Glauben verbreiten. Besonders spannend fand ich als Kind eine Botschaft: Sie erzählten uns anhand der Geschichten aus der Bibel, dass wir alle, egal ob schwarz oder weiß, Kinder Gottes sind. Und dass uns der eine Gott alle erschaffen hat als sein Abbild.
Mit solchen Botschaften löste das Christentum die verschiedenen Strömungen der bisherigen Religiosität ab. Das war auch nicht schwer: Denn meist bestand die dörfliche Frömmigkeit in der Verehrung verschiedener Geisterwesen, die mal so, mal so für das Wohlergehen der Menschen verantwortlich gemacht wurden. Zum Opfer und zur Ehre dieser Geister wurden im Dorf und auch in meiner Familie zwei Mal im Jahr rituelle Mahlzeiten abgehalten. Dazu vermittelte eine Priesterin den Kontakt vom Diesseits zum Jenseits. In unserem Fall war es meine älteste Schwester. In einer Liturgie fiel sie in eine Art Trance. Dann verwandelte sie sich mit ihrer Stimme und sagte für jeden Einzelnen aus der Familie die Zukunft voraus. Auch als das Christentum längst Einzug in unserem Dorf gehalten hatte, wurde größtenteils dieser Ritus parallel weiter gefeiert. In meiner Familie wurde er zum Beispiel erst nach meiner Priesterweihe aufgegeben – auf meine Bitte hin.
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Wirklich Gottes Ebenbild? Dank des Unterrichts der Missionare lernte ich lesen, schreiben, stöberte in Büchern – und las natürlich die Bibel. Immer wieder. Ein Satz aus dem Alten Testament faszinierte mich schon als Kind besonders: »Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich!« (Genesis 1,26)
Schon damals wurde mir klar: Hier steht etwas ganz Revolutionäres. Außergewöhnliches. Denn das erste Buch der Bibel sagt hier, dass Gott tatsächlich alle Menschen erschaffen hat. Und diese Menschen haben die unglaubliche Eigenschaft, dass sie Gott ähnlich sind. Das erhebt sie. Und das unterscheidet den Menschen von der restlichen Schöpfung.
Deshalb ist der Mensch nicht den Tieren gleich zu behandeln. Die Stellung des Menschen innerhalb der Welt ist durch ein wichtiges Merkmal hervorgehoben: Der Mensch ist Gott ähnlich! Von keiner anderen Schöpfung hat Gott das gesagt. Diese Besonderheit der Schöpfung hat uns Menschen die Unantastbarkeit unserer Würde verliehen. Das heißt: Den Menschen muss man immer respektieren. Schon allein aufgrund seiner Gottes-Ebenbildlichkeit, so gebietet uns das Wort der Bibel, muss man den Menschen ehren. (Verfassung der BRD, Art. 1)
Dieser Respekt, den die Bibel fordert, muss konkret gestaltet werden. Ein Beispiel: Weil der Mensch Gott ähnlich ist, darf er nicht getötet werden. Dies Recht steht streng genommen nur Gott zu (Exodus 20,13). Der Grund dafür ist klar: Weil der Mensch kein Besitz des Menschen ist – sondern nur Gott angehört, seinem Schöpfer. Deshalb darf es auch keine Sklaverei und keine Unterdrückung geben – im Gegenteil: Zum Menschen gehört die Freiheit, die Gott ihm geschenkt hat: die Freiheit im Denken, im Wohnen auf der ganzen Welt, also die Bewegungsfreiheit, in seinem Handeln, in der Wahl seines Liebespartners oder seines Berufs. Der Mensch darf und soll sich in dem, was er tut, wohlfühlen. Das ist der Auftrag der Schöpfung.
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Welche Hautfarbe hat der liebe Gott? Eine Frage ist für manche Menschen dennoch nicht gelöst: Wenn wirklich alle Menschen Gottes Schöpfung sind – und nach seinem Abbild gestaltet wurden: Wie sieht Gott dann wirklich aus? Wie ein Chinese oder wie ein Indianer? Wie ein Franzose oder wie ein Azteke? Wie ein schwarzer Mensch – so wie ich es bin? Oder wie ein Eskimo, in Grönland, ein Aborigine, ein Ureinwohner Australiens?
Man kann es kaum glauben: Heute noch, im 21. Jahrhundert, zerbrechen sich Leute, die die Menschen in Rassen einteilen, über diese Frage tatsächlich den Kopf. Und manche von ihnen am liebsten nicht nur den eigenen.
Könnte ein – hier natürlich weißer – Anhänger des Ku-Klux-Klans akzeptieren, dass ein Schwarzer oder ein Indianer genauso göttliche Ähnlichkeit besitzt wie er selbst? Wahrscheinlich nicht. Denn in den Köpfen von Rassisten ist kein Platz für die Anerkennung der Rechte eines anderen Menschen, der anders aussieht als er selbst. Nicht einmal mit den Argumenten der Naturwissenschaften sind solche Ausgrenzer und Fremdenhasser zu überzeugen. Selbst wenn sie vernehmen sollten, dass die Unterschiede in den Genen zwischen schwarzen und gelben, weißen und roten Menschen nur durch winzige Nuancen zu belegen sind, wird sie eine solche Erkenntnis nicht von ihren Feindbildern abbringen können.
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Wo der Glaube schwindet, wächst der Hass. Warum aber gelingt es uns nicht, die Gleichheit der Schöpfung zu erkennen, zu respektieren und zu akzeptieren? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
Grund Nummer eins: Wir haben – auch als Christen – das Wort Gottes offensichtlich vergessen. Nur wenigen Menschen scheint noch die religiöse und kulturelle Wurzel des Abendlandes in der aus dem Christentum stammenden Botschaft der Liebe zu den Menschen im Bewusstsein geblieben zu sein. Ein Beispiel mag das illustrieren: Es gibt in Deutschland jene fünf Bundesländer, die nach der Wiedervereinigung der Bundesrepublik beigetreten sind – Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Gemeinsam ist den Menschen, die in den fünf neuen Bundesländern leben, eine historische Tatsache: Sie haben zwischen 1933 und 1990 siebenundfünfzig Jahre unter wechselnden Diktaturen gelebt, die unter verschiedenen Vorzeichen standen – aber gleichwohl beide die Freiheit des Individuums bekämpften wie die...