2 DER ZWEIDRITTEL-JESUS
Seit dem Nathanael-Erlebnis ist der Glaube an Jesus für mich untrennbar verknüpft mit einer Nachfolge, die mit Hingabe und Verzicht zu tun hat. Das mag für manche Ohren vielleicht beschwerlich und anstrengend klingen, ich erlebe es aber primär als befreiend und tief. Ich kann Jesus nicht nachfolgen, wenn ich nicht bereit bin, das vermeintliche Recht auf mein Leben aufzugeben – und mich in völliger Hingabe seiner Herrschaft unterstelle. Das klingt unpopulär. Aber es ist die einzige angemessene Reaktion für den Anspruch, den Gott an mich hat – denn der Einzige, der überhaupt einen Anspruch auf mich und mein Leben hat, ist er. „Habt ihr denn vergessen, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist? Der Geist, den Gott euch gegeben hat, wohnt in euch, und ihr gehört nicht mehr euch selbst. Gott hat euch als sein Eigentum erworben; denkt an den Preis, den er dafür gezahlt hat!“ (1. Korinther 6,19-20).
Wenn einer meine Füße lenken und meinen Weg bestimmen darf, dann ist es der Himmlische – denn er hat für diese Füße mit seinem Leben bezahlt. Wenn jemand meine Hände einsetzen darf, um anderen Menschen Gutes zu tun und ihnen so seine Liebe zu zeigen, dann ist es er – denn sie gehören ihm. Mein Leben gehört ihm – ich gehöre ihm, mit Haut und Haar. Jesus hat dort am Kreuz nicht einfach nur meine Vergangenheit abbezahlt und sich meine Zukunft in der Ewigkeit gekauft, sondern auch mich in meinem Hier und Jetzt erworben. Wie könnte ich also diesem Anspruch besser begegnen, als mich mit meinem Leben, meinen Fähigkeiten und meiner Zeit an ihn zu verschenken? Alles gehört ihm; es kommt von ihm und es läuft unweigerlich auf ihn zu.
Nachfolgen an sich ist eigentlich relativ simpel. In der Schweizer Armee war ich bei der Lawineneinheit. Ihr hättet die Augen von all den Touristen sehen sollen, wenn wir mit dem Superpuma-Helikopter irgendeinen Berggipfel angesteuert haben, um dann in James-Bond-Manier aus dem Hubschrauber in den Schnee zu springen. Da endete die 007-Analogie aber bereits: Anstatt die Bretter unterzuschnallen, sich irgendwo halsbrecherisch einen Tiefschneehang runterzuwerfen und ein paar Lawinen zu sprengen, sind wir meistens direkt ab ins Bergrestaurant. Schließlich mussten wir die Funkverbindung in verschiedene Täler aufrechterhalten und dafür sorgen, dass das Gipfelrestaurant nicht dem Feind in die Hände fiel. Wer auch immer das hätte sein sollen.
Wenn wir jedoch mit den Fellen an den Skiern auf einer Tour waren, hat immer derjenige, der mit der Gegend am besten vertraut war, und nicht etwa derjenige mit dem höchsten Dienstgrad, vorneweg die Spur gezogen. Wir anderen aus der Einheit sind ihm in seiner Spur „nachgefolgt“, vor allem dann, wenn wir uns durch heikles Gelände bewegten. Es war überlebenswichtig. Genauso heißt Jesus nachfolgen, sich an seine Fersen heften und in der Spur bleiben. Und deshalb ist die absolut zentrale Frage: Wer zieht vor dir die Spur? Was für einem Jesus folgst du nach? Es ist wichtig, dass du weißt, wem du nachläufst und warum!
Mir wurde bewusst, dass ich Jesus oft einfach durch meine persönliche Glaubensbrille betrachte und dabei am Ende nur zwei Drittel von ihm wahrnehme, aber nicht sein ganzes Wesen. Das führt dazu, dass mein Glaube leicht in Schräglage gerät. Ich sehe an ihm nur das, was ich vermute, dass er ist. Neues zu entdecken, ist ziemlich schwer, weil ich immer durch die Brille gucke, die geprägt ist von meiner Persönlichkeit, meiner Vergangenheit, meiner Kirchenzugehörigkeit, meinen Vorlieben und auch der Kultur, in der ich mich bewege. Doch Nachfolge ist nur kraftvoll, wenn ich dem ganzen Jesus nachfolge – und nicht nur meinem „Lieblings-Zweidrittel-Jesus“!
Wenn ich bei meinem Navi auch nur einen einzigen Buchstaben falsch eingebe, kann ich mein Ziel um Hunderte von Kilometern verfehlen, wenn nicht Tausende. So viele Menschen schießen aus einem ähnlichen Grund mit ihrem Glauben an der ursprünglichen Idee von Gott vorbei. Mahatma Gandhi, der Kopf der indischen Unabhängigkeitsbewegung, sagte: „Ich mag euren Christus, aber ich mag eure Christen nicht. Eure Christen sind Christus gar nicht ähnlich.“ Damit trifft er leider ins Schwarze, weil viele Menschen einem einseitigen Jesus nachfolgen.
An was für einen Jesus glaubst du? Ist dein Jesus völlig vermenschlicht und nur noch irgendein sozialer Birkenstock-schlurfender Philosoph, der mit verklärtem Lächeln ein paar süffig-triefende Lebensweisheiten von sich gibt? Ist er ein strenger, humorloser Polizist, der darauf achtet, dass dein Leben innerhalb der Anti-Spaß-Markierungen verläuft? Oder ein kleiner Che Guevara, der rebellisch die Mächtigen bekämpft und die Gesellschaft umstürzen will? Vielleicht auch ein gnadenüberschäumender Pazifist, der überall Blümchen und Peace-Parolen an die Häuser sprayt und jeden in den Himmel liebt? Möglicherweise fällt dein Jesus auch auf der anderen Seite vom Pferd und hat überhaupt nichts Menschliches mehr, weil er so göttlich ist? Oder ist dein Jesus ein süßes Christkind, das mit leuchtendem Gesicht nach wie vor in der Krippe liegt und nie erwachsen wird? Die einen machen ihn so heilig, dass er ein paar Meter über dem Boden schwebend nichts mehr mit ihrem Alltag zu tun hat – weit entfernt umkreist er ihr Leben wie ein Satellit die Erde. Er gleicht dann einem metrosexuellen Hollywood-Beau mit dauergewellter Pferdemähne, der beim Pupsen höchstens noch nach Vanille-Duftbäumchen riecht.
Die anderen entziehen ihm wie mit einer geistlichen Vakuumpumpe den letzten Hauch Göttlichkeit und haben dann einfach noch den philosophierenden, historisch flach gedrückten Jesus – als hätte man bei einer Zahnpasta-Tube den Inhalt rausgedrückt. Beides macht ihn für unser persönliches Leben gleichermaßen unbedeutend.
Oft sind unsere Jesus-Abweichungen auf den ersten Blick gar nicht so dramatisch. Man hat einfach Vorlieben für bestimmte Eigenschaften von ihm. Wenn man supertrendy drauf ist, glaubt man euphorisch an einen stylischen „Yeah-sus“. Hat man eher einen Hang zur Gesetzlichkeit, zieht es einen zum strafenden „He!-sus“. Überwiegt eine frustriert-depressive Seite, verbringt man Zeit mit dem alles verbietenden „Ne-sus“. Märtyrerisch Veranlagte ergötzen sich am „Weh-sus“. Leistungsorientierte folgen einem „Geh!-sus“, der sie permanent zu irgendwelchen Aktivitäten auffordert. Wohlstandsmenschen haben ihren „Fee-sus“, der ihnen immer wieder drei Wünsche erfüllt und das Erwünschte herbeizaubert. Der postmoderne Durchschnitts-Europäer genießt egoistisch seinen „Meh-sus“ (Schweizerisch für: Mehr-sus). Und viele, denen die Gottesbeziehung zu nah ist, haben das kleine Jesus-Kind gar nie aus der Krippe rausgelassen und verbieten ihm, erwachsen zu werden – es ist und bleibt ein „Jö-sus“ („Jö“ sagt der Schweizer, wenn er etwas niedlich findet).
Manchmal ist unser Bild von Jesus tatsächlich schlicht falsch. Oft wahrscheinlich aber auch einfach nur einseitig – und wir haben uns in die Zweidrittel von Jesus verliebt, die uns von unserer Persönlichkeit und Geschichte her gerade am nächsten liegen. Wenn man an die „Ich peitsch alle aus dem Tempel raus, die diesen entweihen“-Aktion von Jesus denkt (Matthäus 21,12) und nur diese Seite von ihm betrachten würde, während man all die anderen Stellen ignoriert, in denen seine Liebe eimerweise aus jedem einzelnen Buchstaben trieft, könnte man der irrigen Meinung verfallen, Jesus sei nichts als ein wütender Rohling mit einer niedrigen Frustrationstoleranz. Ganz klar hat er diese zornig-aufräumende und konsequente Seite – aber sie kann nur verstanden werden, wenn man den ganzen Jesus sieht, denjenigen, der selbst für die Menschen am Kreuz gestorben ist, die ihn ans Holz genagelt haben.
Wir tun gut daran, wenn wir uns auf die Suche nach dem ganzen Jesus machen und uns nicht vorschnell mit unserem Zweidrittel-Lieblings-Jesus begnügen. Bis wir vor Jesus stehen, werden wir nie den ganzen Jesus sehen. Unser Glaube ist und bleibt unfertig. Umso mehr genieße ich das Abenteuer, Jesus immer besser kennenzulernen und mehr von ihm zu entdecken. Ich war beispielsweise viel zu lange völlig blind für die Seite von Jesus, die sich liebevoll und völlig praktisch um die Nöte der Mitmenschen gekümmert hat – bis zu meinem Point of no Return. Diese Blindheit kann ich gerade auch auf den Philippinen beobachten, wo ich mit meiner Familie einen Weiterbildungsurlaub genieße und dieses Buch schreibe. Wir leben unmittelbar neben einem Slum – und es gibt Christen vor Ort, die sich um diese Menschen kümmern, sie ganz praktisch unterstützen, indem sie die Kinder unterrichten usw. Gleichzeitig gibt es auch Christen hier, die nicht das Gefühl haben, diesen Menschen helfen zu müssen, da Armut ihrer Überzeugung nach oft einfach mit Faulheit zu tun hat. Ich will sie auf keinen Fall für ihre Meinung kritisieren oder gar über sie richten. Aber ich glaube, dass sie genau wie ich Jesus einfach nur zu zwei Dritteln wahrnehmen. Denn der hat selbst einen wie Judas, der ihn später verriet, in seinen engsten Freundeskreis aufgenommen und ihn gleichberechtigt mitlaufen lassen. Und ihm sogar die Kasse anvertraut, obwohl er von seiner Schwäche im Umgang mit Finanzen wusste. Während ich dem Kerl den Kopf gewaschen hätte, wusch Jesus ihm die Füße. Wir sind leider oft mehr von unserer Kultur, unserer Vergangenheit oder einfach einer bestimmten Kirchenkultur geprägt als...